20 Jahre Morde in Solingen

Bei einem von Neonazis verübten Brandanschlag auf ein Zweifamilienhaus der türkischstämmigen Familien Genc und Ince am 29.5.1993 in Solingen starben fünf Menschen. Hülya Genc, Gülüstan Öztürk und Hatice Genc verbrannten, Gürsün Ince und Saime Genc starben nach einem Sprung aus dem Fenster. Ein sechs Monate alter Säugling, ein dreijähriges Kind und ein Jugendlicher wurden mit lebensgefährlichen Verbrennungen ins Krankenhaus gebracht, überlebten aber den Anschlag. 14 weitere Menschen erlitten schwere Verletzungen. Die türkischstämmigen Familien Genc und Ince lebten zu diesem Zeitpunkt mehr als 20 Jahre lang in Solingen. Ob die Morde mit der kurz zuvor beschlossenen Verschärfung des Asylrechts in einem Zusammenhang standen, wird bis heute umstritten diskutiert. Die jugendlichen Täter stammten zum Teil aus der Nachbarschaft und konnten wenige Tage nach dem Anschlag gefasst werden. Drei der vier Täter waren Mitglied in einer Solinger Kampfsportschule, deren Leiter Bernd Schmitt Kontakte zur neonazistischen „Nationalistische Front“ unterhielt. Gleichzeitig war Schmitt auch als V-Mann für den Verfassungsschutz tätig. Diese Fakten führten die Äußerungen des damaligen Solinger Bürgermeisters, Bernd Krebs (CDU) ad absurdum, der wenige Tage nach der Tat erklärte, dass es in der Stadt „kein rechtsextremes Potential“ gebe.[1]
Der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl kam nicht persönlich nach Solingen, sondern schickte seinen Parteifreund und damaligen Innenminister Rudolf Seiters vor. Damit wurde eine Chance verpasst, um gegenüber den Angehörigen der Opfer und der Öffentlichkeit ein Zeichen der Solidarität gegen rechte Gewalt zu setzen.
Die vier Angeklagten wurden mehr als zwei Jahre nach der Tat vom Oberlandesgericht Düsseldorf zu langjährigen Haft- oder Jugendstrafen verurteilt.
Die Familie Genc setzte sich nach den Morden in der Öffentlichkeit für ein friedliches Zusammenleben in Solingen und anderswo ein. Diese Haltung stand Pate für den mit 10.000 Euro dotierten Genc-Preis für friedliches Miteinander, der 2008 kurz vor dem Jahrestag der Morde im Solinger Theater- und Konzerthaus erstmals vergeben wurde.
Der Umgang der Stadt Solingen mit dem Gedenken an die Morde löste scharfe Kritik aus. Ein Beschluss des Rates der Stadt sah vor, dass im Zentrum der Stadt ein Platz für ein Mahnmal gefunden werden sollte. Dieser Beschluss wurde nachträglich mit der Begründung revidiert, dass dies den „sozialen Frieden“ in der Stadtmitte nicht gefährden solle. Schließlich wurde ein Mahnmal außerhalb des Zentrums errichtet. Auf dem Grundstück des abgebrannten Hauses wurde ein Gedenkstein mit den Namen der Opfer installiert. 1998 legten die Stadt und der Verein SOS-Rassismus dort Terrassen an und pflanzten symbolisch für die Opfer fünf Kastanien an.[2]
Die Überlebenden haben bis heute mit den Folgen der Tat zu tun, medizinische und psychologische Hilfe auch finanziert durch Spenden sind weiterhin notwendig
Zum Gedenken des mörderischen Brandanschlags vor 20 Jahren finden am 28.5 in Solingen Theateraufführungen, Lesungen und musikalische Darbietungen mit dem Oberbürgermeister, der Solinger DITIB-Moscheegemeinde und des Bündnisses für Toleranz und Zivilcourage statt. Einen Tag später wird die offizielle Trauerfeier durchgeführt, an der als Vertreterin der Bundesregierung die Staatsministerin Maria Böhmer und für die NRW-Landesregierung die stellvertretende Ministerpräsidentin Sylvia Löhrmann teilnehmen soll. Weiterhin sind Veranstaltungen und Demonstrationen von Migrantenorgansationen und antifaschistischen Gruppen geplant.
Selbst bei der bestmöglichen Absicht besteht die Gefahr, dass das Gedenken an die Morde auf die Aufarbeitung der Vergangenheit reduziert wird und der gesellschaftliche Rassismus der Gegenwart wenig Beachtung findet. Diese Historisierung war bereits bei den Gedenkveranstaltungen in Rostock-Lichtenhagen 2012 und anderen Gedenken in der jüngeren Vergangenheit zu beobachten. Laut nordrhein-westfälischem Landesintegrationsrates (Laga)[3] sind aus den Morden von Solingen bisher nicht die notwendigen politischen Konsequenzen gezogen worden. Der Laga-Vorsitzende Tayfun Keltik erklärte: Dieser Anschlag ist zwar rechtlich, aber nicht politisch aufgearbeitet worden.“[4] Soziale Probleme in der BRD werden von Politikern ethnisiert und dadurch Rassismus befördert. Der Direktor des Zentrums für Türkeistudien, Haci-Huli Uslucan, bemerkte, dass die Morde von Solingen für viele Migranten zu „einem Trauma“ geworden sind.[5]Zwischen 40 bis 50 Prozent der türkischstämmigen Migranten fühlen sich derzeit in der BRD diskriminiert.

Die im Jahre 2012 von der Friedrich-Ebert-Stiftung herausgegebene Studie über extrem rechte Einstellungen in der Bundesrepublik zeigt eindeutig, dass der gesellschaftliche Rassismus nach wie vor ein ernstzunehmendes Problem darstellt.[6] Laut der Studie besitzen 9% der deutschen Bevölkerung ein geschlossenes extrem rechtes Weltbild.[7] In Westdeutschland zeigten 7,3% der Befragten ein antidemokratisches Weltbild, während in Ostdeutschland der Anteil bei 15,8% lag. Jede vierte befragte Person bekannte sich dabei zu ausländerfeindlichen Äußerungen. Antisemitische Einstellungen zeigten 8% der Befragten. Der antimuslimische Rassismus ist in der Bundesrepublik in allen Gesellschaftsschichten fest verankert. Diese Spielart des Rassismus wird nicht mehr in biologistischer Weise vorgetragen, sondern verschiebt sich auf die kulturelle Ebene. 57,5% der Befragten behaupteten eine Rückständigkeit des Islam, 56% hielten ihn für eine „archaische Religion“. Antiziganistische[8] Vorurteile sind ebenfalls in der deutschen Bevölkerung weit verbreitet. Laut einer Studie, die eine Forschungsgruppe um den Bielefelder Soziologen Wilhelm Heitmeyer im Jahre 2011 durchgeführt hat, bejahten 40,1% der Befragten die Aussage „Ich hätte Probleme damit, wenn sich Sinti und Roma in meiner Gegend aufhalten würden.“[9] Zur Etablierung einer solchen Stimmung trug auch Innenminister Friedrich (CSU) bei, der Einwanderern aus Serbien und Mazedonien, überwiegend Roma, ein „Missbrauch des Asylrechts“ unterstellte.[10]Als Multiplikatoren von antiziganistischer Stimmungsmache dienen auch zum Teil etablierte Medien. Deren Berichterstattung vom „stetigen Zuzug“ der „Armutsflüchtlinge“ erinnert sehr stark an die Berichterstattung von hegemonialen Medien Anfang der 1990er Jahre, wo von „Asylantenschwemme“ und „Wanderungswellen“, die Rede war, die Deutschland bedrohen.[11] Die Folgen weltweiter Migrationsprozesse und das Entstehen interkultureller Tendenzen werden nicht nur in den Medien, sondern auch von Politikern nach wie vor in einer Semantik der Gefahren und als mögliches Bedrohungsszenario dargestellt.
Auch in anderen Kontexten gibt es Nachholbedarf. Vor kurzem wurde bekannt, dass der Anti-Rassismusauschuss der UNO (Cerd) die Bundesrepublik Deutschland wegen der Einstellung des Ermittlungsverfahrens gegen Thilo Sarrazin, der sich in seinem Buch „Deutschland schafft sich ab“ abfällig u.a. über Türken und Araber äußerte, eine Rüge erteilte. Laut CERD habe die BRD damit gegen das UNO-Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von „Rassendiskriminierung“ verstoßen.[12]
„Ethnic Profiling“, d.h. die diskriminierende Verwendung von Zuschreibungen wie Hautfarbe, religiöse Zugehörigkeit, Herkunft oder Sprache als Grundlage für Identitätskontrollen und Durchsuchungen ohne konkreten Anhaltspunkt durch die deutsche Polizei, ist immer noch weit verbreitet.
Solidaritätsbekundungen für den NSU in der rechten Szene lassen erahnen, dass die Bildung neuer rechter Terrorzellen nicht unwahrscheinlich ist. Gewaltbereite Neonazis wie „Autonome Nationalisten“ oder „Freie Kameradschaften“ aber auch unorganisierte Gruppen stellen nach wie vor ein massives Problem dar.


[1] Westdeutsche Zeitung vom 26.5.2008
[2] Aachener Nachrichten vom 30.5.2008
[3] Laga ist das demokratisch legitimierte Vertretungsprogrammder 105 kommunalen Ausländerbeiräten in Nordrhein-Westfalen.
[4] Aachener Nachrichten vom 18.5.2013
[5] Ebd.
[6] Decker, O./Kiess, J./Brähler, E. u.a: Die Mitte im Umbruch. Rechtextreme Einstellungen in Deutschland 2012, Bonn 2012
[7] Dies bedeutete eine Steigerung um 0,8% im Vergleich zur letzten Studie, die im Jahre 2010 durchgeführt wurde.
[8] Antiziganismus ist ein in Analogie zum Antisemitismus gebildeter wissenschaftlicher Fachbegriff für „Zigeunerfeindlichkeit“, der Stereotype und/oder feindliche Einstellungsmuster gegen als „Zigeuner“ konnotierte Menschen und Gruppen bezeichnet. Als antiziganistisch gelten nicht nur die Zuschreibung von negativ bewerteten Eigenschaften wie angebliche Kriminalität, Primitivität oder fehlende Integrationsbereitschaft, sondern auch positive romantisierende Zuschreibungen wie angebliche Musikalität und Freiheit.
[9] www.taz.de/88520
[10] Aachener Nachrichten vom 10.12.2012
[11] Vgl. Yildiz, E.: Stigmatisierende Mediendiskurse in der kosmopolitanen Einwanderungsgesellschaft, in: Butterwegge, C./Hentges, G. (Hrsg.): Massenmedien, Migration und Integration, Wiesbaden 2006, S. 35-52
[12] www.spiegel.de/politik/deutschland/uno-ruegt-deutschland-wegen-sarrazin-und-setzt-ultimatum-a-895208.html

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Über Michael Lausberg 543 Artikel
Dr. phil. Michael Lausberg, studierte Philosophie, Mittlere und Neuere Geschichte an den Universitäten Köln, Aachen und Amsterdam. Derzeit promoviert er sich mit dem Thema „Rechtsextremismus in Nordrhein-Westfalen 1946-1971“. Er schrieb u. a. Monographien zu Kurt Hahn, zu den Hugenotten, zu Bakunin und zu Kant. Zuletzt erschien „DDR 1946-1961“ im tecum-Verlag.

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