Jean-Claude Juncker: Es ist Zeit in Europa neue Schuhe anzuziehen

Europa-Flagge, Foto: Stefan Groß

Was Jean-Claude Juncker (62) in seiner Rede zur Lage der Europäischen Union auf den Tisch des EU-Parlaments legte, war wie das Sortiment eines bunten Schuhladens. Pappkarton nach Pappkarton legte der Kommissionspräsident aus, ganz wie bei der Vorlage einer Kollektion. Es sei Zeit in Europa neue Schuhe anzuziehen, lautete die Schlüsselbotschaft des Luxemburgers, denn nach Überstehen der gröbsten Krisen sei die Zeit des Aufbruchs gekommen: „Europa hat wieder Wind in den Segeln“ (the wind is back in Europe’s sails).

Das Bemühen des obersten Handelsvertreters in Sachen Europa war es, dem Staatenverbund wieder Optimismus einzuhauchen. Denn der Laden läuft alles andere als rund. Ob Brexitbalgereien, Flüchtlingsfragen, Türkeitheater, Katalonienkrach, Terrortaten oder die EU-Revolten in Polen und Ungarn – die EU ist mit Krisen nur so eingedeckt. Doch das kann einen Juncker nicht erschüttern: „Es gibt keine Liebe ohne Enttäuschungen, jedenfalls sehr selten,“ sagte Juncker in einer der emotionalen Stellen seiner Rede.

Und so breitete der Chefverkäufer der Europäischen Union einen Schuhkarton nach dem anderen aus.  Im wichtigsten, der Einführung des Euro in allen EU-Ländern, lag eigentlich ein alter Pantoffel, denn das steht längst im EU-Vertrag (vgl. Art. 3 IV EUV). Neu hingegen ist die Idee, den noch nicht eurofitten EU-Nationen (sieben von 27) eine Pediküre angedeihen zu lassen, nämlich „technische und manchmal auch finanzielle Heranführungshilfen“. Doch dürfte der Pantoffel erst passen, wenn zwei Warzen entfernt sind: eine Insolvenzordnung für Staaten und die Durchsetzung der Schuldenregeln. Übrigens: die Dänen und die Schweden sind zwar für den Euro fit wie Turnschuhe, aber sie wollen die Gemeinschaftswährung gar nicht.

Auch Junckers luftige Sandale von der Marke „Schengen“ verursacht bei näherem Hinsehen Hautschürfungen. Er will, dass alle EU-Binnengrenzen fallen. Es sollen sogar Rumänien, Bulgarien und Kroatien in den Schengen-Raum aufgenommen werden. Dafür ist Einstimmigkeit im Europäischen Rat nötig. Der aber ist im Falle Kroatiens so schnell nicht herzustellen, weil es sich mit dem EU-Nachbarn Slowenien einen Grenzkonflikt leistet.

Bulgarien hingegen, das bislang im Rat wegen Korruptionsvorwürfen bei der Befestigung seiner martialisch geschützten Außengrenze kaum Unterstützer hat, bekam inzwischen den Segen von Angela Merkel – ob’s hilft? Rumänien wiederum ist ein zentrales Durchgangsland für Menschen, die nach Westeuropa fliehen wollen – kaum eine Empfehlung für Schengen.

In Junckers buntem Schuhladen lagerten aber auch Pappkartons mit Prime-Qualitäten. So die Bestellung eines EU-Kommissars, der als Wirtschafts- und Finanzminister der Euro-Zone fungiert, Transparenz bei Verhandlungen über Handelsabkommen, denen letztlich das EU-Parlament zustimmen muss, oder die Schaffung einer europäischen Behörde für Cybersicherheit und einer weiteren zur Überwachung des Arbeitsmarktes. Herauszuheben sind auch das Ziel einer Zusammenlegung der Ämter von Kommissionspräsident und Ratspräsident, die Öffnung legaler Migrationswege in die EU bei gleichzeitiger Aufbauhilfe für Afrika und das Vorantreiben einer Europäischen Verteidigungsunion (das Wort Europäische Armee erwähnte Juncker dieses Mal leider nicht).

Enttäuschend finde ich, dass Juncker in seinem Schuhladen die Kartons mit institutionellen Reformen in der EU ausgemustert hat. Dabei ist die Zeit für größere Rechte des Europaparlamentes mehr als reif. Auch muss die Selbstblockade des in Einstimmigkeit erstarrten Europäischen Rates beendet werden. Völlig zu Recht warnte der liberale Fraktionschef im Europäischen Parlament, Guy Verhofstadt, nach der Juncker-Rede: „Der Kampf um ein neues Europa ist nicht vorbei!“

Gut, dass Juncker Sympathien für die Idee des französischen Präsidenten Emmanuel Macron zeigte, schon 2018 demokratische Bürgerversammlungen (Konvente) zur Zukunft des europäischen Projekts in allen Teilen Europas zu organisieren. Die Unterstützung Junckers für eine basisdemokratische Graswurzelbewegung zum Neustart Europas ist jedenfalls weit progressiver, als die Haltung mancher EU-Regierung (auch der deutschen). Zudem promotete Juncker die Einführung staatenübergreifender Kandidatenlisten zur nächsten Europawahl im Mai 2019 – ein umstrittener Plan, der jedoch ein Durchbruch zu mehr europäischer Demokratie sein könnte.

Fazit: In Junckers buntem Schuhshop lagern einige schicke Businessschuhe und auch bequeme Flip-Flops. Zugleich sind Treter dabei, die zur Ausschussware gehören. Aber wenn es der Politik in Europa gelingt, unverkäufliche Juncker’sche Pantoffeln zu retournieren und ein Sortiment bequemer Prime Produkte zusammenzustellen, könnte aus Junckers Angebot durchaus ein Schuh werden.

Wolf Achim Wiegand ist Journalist und Auftrittsberater in Hamburg. Er ist in der FDP aktiv, unter anderem im Bundesfachausschuss für Internationale Politik. Außerdem ist er gewählter Country Coordinator der deutschen Einzelmitglieder bei der paneuropäischen liberalen Dachpartei ALDE. Veröffentlichte Meinungen sind seine persönlichen.

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