60 Jahre NATO – 60 Jahre Sicherheit und Stabilität in Europa

Anfang April wird die NATO 60. Sie blickt zurück auf eine lange, bewegte und vor allem: erfolgreiche Geschichte. Gegründet in den ersten Tagen des heraufziehenden Kalten Krieges, war sie über all die Jahre Gewähr für die gemeinsame Sicherheit ihrer Mitglieder – auch und gerade für Deutschland. 1955 trat die damals noch junge Bundesrepublik dem Bündnis bei. Der Schutzschirm der NATO bot das sichere Umfeld, in dem der wirtschaftliche Aufschwung in den Folgejahren möglich wurde.
Die NATO war gerade 40 Jahre alt, als die Mauer fiel und der Kalte Krieg zu Ende ging. Eine Epoche des Aufbruchs und des Wandels begann. Auch das Bündnis stand vor neuen Aufgaben: Statt „Nachrüstung“ oder „Containment“ ging es im NATO-Rat jetzt um „Transformation“, „Krisenbewältigung“ oder „Partnerschaft für den Frieden“. Aus früheren Gegnern wurden Partner. Neue Mitglieder traten dem Bündnis bei. Gemeinsam engagieren wir uns heute für Sicherheit auf unserem Kontinent und darüber hinaus, auf dem Balkan oder in Afghanistan.
Zum 60. Jahrestag der Allianz kommen die Staats- und Regierungschefs in Straßburg, Kehl und Baden-Baden zusammen, zu einem Gipfeltreffen, das erstmalig von zwei Mitgliedsstaaten ausgerichtet wird. Gemeinsam werden sie den Rhein zwischen dem deutschen Kehl und dem französischen Straßburg überqueren. Über eine Brücke, die symbolisiert, wofür die NATO steht: Frieden, Sicherheit und Verständigung. Ein historisches Gipfeltreffen. Aber ebenso ein Tag, an wir den Blick nach vorn richten sollten. Ein neuer US-Präsident kommt mit frischem Wind und neuem Denken. Vor uns allen liegen wichtige Zukunftsaufgaben. Wir müssen fragen: Welches sind die entscheidenden sicherheitspolitischen Parameter des 21. Jahrhunderts?
Transatlantische Beziehungen – Rückgrat der AllianzSeit langem schon plädiere ich für einen engen Schulterschluss mit der neuen US-Administration unter Präsident Barack Obama. Jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, diesen Ansatz in praktische Politik umzusetzen: in Afghanistan, in der NATO-Partnerschaftspolitik und bei der Suche nach Antworten auf alte und neue Bedrohungen. Die enge Verbindung zu Nordamerika ist und bleibt für uns unverzichtbar. Ebenso bleibt das Bündnis entscheidender Ort der sicherheitspolitischen Konsultation über den Atlantik hinweg. Mit der neuen Regierung in Washington ergeben sich neue Chancen der Mitgestaltung, die wir nutzen sollten. Ein neues Sicherheitsumfeld und das Ende einer Politik der Alleingänge eröffnet auch im Verhältnis von NATO und EU neue Perspektiven. Auch in Washington erkennt man heute die Notwendigkeit eines starken Europas und einer funktionierenden Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Ein neuer Pragmatismus scheint hier nicht zuletzt nach der angekündigten Rückkehr Frankreichs in die militärischen Strukturen der NATO möglich. Gemeinsam sollten wir in NATO und EU deshalb alles daran setzen, die oft von beiden Seiten beschworene strategische Partnerschaft weiter auszubauen.
Erweiterungspolitik mit BedachtSeit 1994 hat die Allianz mehrere Erweiterungsschritte hinter sich gebracht. Zum NATO-Gipfel im April werden wir wieder zwei neue Mitglieder in der Allianz begrüßen dürfen: Kroatien und Albanien. Aber wir müssen ehrlich zu uns selbst sein: Sowohl innerhalb der EU als auch in den NATO-Mitgliedstaaten verzeichnen wir eine gewisse „Erweiterungsmüdigkeit“. Nicht zuletzt, weil die Erweiterungsdebatten der letzten Jahre zu oft notwendige inhaltliche Debatten verhindert haben. Es geht deshalb jetzt darum, sich über Geschwindigkeit und Parameter einer umsichtigen Erweiterungspolitik zu verständigen. Die Entscheidung von Bukarest im vergangenen Jahr war richtig: Die Tür des Bündnisses bleibt offen für neue Aspiranten. Jede NATO-Erweiterung sollte aber immer auch ein Mehr an Sicherheit in Europa bringen, nicht weniger. Der Namensstreit zwischen der Früheren Jugoslawischen Republik Mazedonien und Griechenland, vor allem aber die innenpolitische Spaltung über einen NATO-Beitritt in der Ukraine und der Konflikt in Georgien haben gezeigt, dass NATO-Erweiterungsschritte keine Selbstläufer sind und auch nicht sein dürfen.
NATO-Einsätze zur KrisenbewältigungDie derzeit größte Herausforderung für die Allianz stellt die ISAF-Operation in Afghanistan dar. Es muss gelingen, das Land am Hindukusch langfristig zu stabilisieren. Afghanistan darf nie wieder ein Rückzugsort für den internationalen Terrorismus werden. Die neue US-Regierung hat signalisiert, dass sie ihr Engagement verstärken will – militärisch und zivil. Die Verantwortlichen in Washington wissen, dass sie für diese doppelte Herangehensweise gerade in Deutschland einen aktiven Partner finden. Gemeinsam werden wir auch einen noch stärkeren Schwerpunkt auf die Ausbildung afghanischer Sicherheitskräfte legen müssen – für mich eine zentrale Frage, weil es bei allem, was wir tun, darum gehen muss, die Afghanen in die Lage zu versetzen, endlich wieder selbst die Verantwortung für die Sicherheit in ihrem Land zu übernehmen.
In Kosovo bleiben die 15.000 NATO-Soldaten bis auf weiteres ein unverzichtbares Element der Stabilität. Letztlich zeigen beide Operationen – in Afghanistan und in Kosovo: Jede Krise ist anders, jeder Einzelfall, jede Einsatzentscheidung muss gründlich betrachtet und gewogen werden. Eines dürfen wir dabei nicht aus dem Auge verlieren: Artikel 5 des Washingtoner NATO-Vertrages – dass heißt die gegenseitige Verteidigungs- und Beistandsgarantie – muss der Dreh- und Angelpunkt des Bündnisses bleiben. Wir dürfen den Handlungsrahmen des Washingtoner Vertrages nicht überdehnen. Jede Maßnahme, jedes Handeln der NATO muss der euro-atlantischen Sicherheit zugute kommen. Denn eines ist klar: Die Unterstützung und Akzeptanz der Allianz in der Bevölkerung der Mitgliedsstaaten beruht darauf, dass die NATO glaubwürdig ihre Sicherheit gewährleistet.
Partnerschaftspolitik als Pfeiler der BündnispolitikDurch weltweite Partnerschaften hat die Allianz ein Netz geschaffen, das zu mehr Sicherheit führt und von dem unsere Operationen profitieren. Funktionale Partnerschaft heißt: Sicherheitsdialog und Zusammenarbeit in Bereichen, die für beiden Seite sinnvoll und nützlich sind. Einer unserer wichtigsten, wenn auch ein schwieriger Partner ist ohne Zweifel Russland. Der Kaukasus-Krieg hat unsere Beziehung auf eine schwere Probe gestellt. Erst kürzlich gelang es, die Weichen zu stellen, um die monatelange Sprachlosigkeit im NATO-Russland-Rat zu überwinden. Dabei bietet doch gerade dieses Gremium die Möglichkeit, auch über strittige Fragen zu sprechen. Denn eines ist klar: Die Zukunft unserer Sicherheit werden wir letztlich nur gemeinsam mit Russland gestalten können. Konventionelle Abrüstung, gemeinsame Antworten auf neue Bedrohungen oder Erneuerung der europäischen Sicherheitsarchitektur – wer hier Lösungen sucht, der muss sie mit Russland suchen. Die Frage des Verhältnisses der NATO zu Russland bleibt eine zentrale Frage der Allianz. Ich wünsche mir, dass es gelingt, den NATO-Russland-Rat nicht nur wiederzubeleben, sondern zu einer wirklichen Plattform der praktischen Zusammenarbeit in Sicherheitsfragen auszubauen. Militärische Zusammenarbeit innerhalb der NATO und kooperative Sicherheit durch Dialog und Zusammenarbeit mit Dritten schließen einander nicht aus. Gesamteuropäische Sicherheit, Rüstungskontrolle und Vertrauensbildung sind genauso wichtig wie eine glaubhafte Verteidigungsfähigkeit. An beidem müssen wir weiter arbeiten.
Die Notwendigkeit der ErneuerungDer Erfolg der NATO wird auch in Zukunft davon abhängen, ob es ihr gelingt, sich neuen Herausforderungen zu stellen und für die Sicherheit der Mitglieder auch in einem veränderten Sicherheitsumfeld zu sorgen. Auf dem zurückliegenden NATO-Gipfel in Bukarest haben wir dafür gesorgt, dass das Thema Abrüstung – eine der wichtigen Zukunftsfragen, vor denen wir stehen – dauerhaft auf die Agenda der Allianz gesetzt wird. Ich bin der Meinung: Der 60. Jahrestag bietet eine gute Gelegenheit, dem transatlantischen Bündnis in Zeiten weltpolitischer Umbrüche eine neue konzeptionelle Orientierung zu geben. Dabei wird es nicht reichen, eine technische Diskussionen in unseren Expertengremien zu führen. Wir müssen ehrgeiziger sein. Wir brauchen eine politische Debatte auf hohem Niveau, eine ehrliche Aufgabendiskussion, um uns in einem zweiten Schritt über die grundsätzliche zukünftige Ausrichtung des Bündnisses zu verständigen.
60 Jahre – das ist ein Grund zum Feiern. Die Allianz kann zu recht stolz sein auf das, was sie ihn den vergangenen Jahrzehnten erreicht hat. Anlass zu Genügsamkeit besteht jedoch nicht. Die Erfahrungen der vergangenen sechs Jahrzehnte mögen hilfreich sein. Aber: Nur wenn wir konsequent nach vorn schauen, wird die NATO ihre Mission auch in Zukunft erfüllen können.

(c)-Vermerk: Mit freundlicher Genehmigung des Auswärtigen Amtes

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Frank-Walter Steinmeier ist ein deutscher Politiker (SPD). Er ist seit 19. März 2017 der zwölfte Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland. Steinmeier wurde bei der Wahl am 13. Februar 2022 wiedergewählt. Von 1999 bis 2005 war Steinmeier Chef des Bundeskanzleramtes unter Gerhard Schröder, von 2005 bis 2009 (Kabinett Merkel I) Außenminister und ab 2007 auch Vizekanzler der Bundesrepublik. Seine zweite Amtszeit als Außenminister dauerte von 2013 bis 2017 (Kabinett Merkel III).

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