Achtzehn Millionen plus versus vierzehn Millionen minus

„Eines Tages muss ich das alles mal auseinanderfieseln (…) dann schreibe ich diese Geschichte auf.
Als ich das zu ihm sage, zum jungen Kermeur, ich erinnere mich daran, als wäre es gestern gewesen war ich sicher, er würde stumm bleiben wie immer, gleichgültig meinen allzu vagen Sätzen gegenüber, doch stattdessen, noch während er sich eine Zigarette ansteckte und während er den ersten Rauch wieder ausstieß, schaute er mich an wie ein seltenes Tier, und dann lachte er los, als wollte er am Lachen ersticken, dieses Lachen aus tiefster Tiefe, in dem sich sein Atem und dieser gelbliche Rauch mischten, den er zugleich ausstieß, ja, er lachte lange, ohne aufhören zu können. Dann wurde er wieder ernst, betrachtete die Bücherregale an allen Wänden und sagte schließlich: Aber kein Schwein interessiert sich für Familiengeschichten.“
Wiederholend, erklärend, scheinbar endlose Einschübe, eine schnörkellose Handlungsführung, sparsame Beschreibungen und eine lapidare Sprache, das zeichnet die stilistische Finesse und virtuose Darstellungsform des französischen Autors aus. Doch Tanguy Viel vermag gerade durch seine Verknappungen und Verdichtungen Räumlichkeiten Tiefe und Plastizität zu geben sowie immer wieder Überraschungsmomente zu erzeugen. Aus einem langsamen Strudel aus beinahe ungeschickt beendeten, merkwürdig ausstaffierten und verschachtelten Sätzen, entfaltet sich ein „unendlicher Parcours aus Bildern, Gedanken und Rastlosigkeiten, die alle miteinander einen zusammenhängenden Bericht ergeben.“, wie es schon in seinem Vorgänger „Unverdächtig“ zu lesen war.
Angelegt sind die 140 Seiten als eine Art kommentierte Inhaltsangabe vergangener Geschehnisse. Der mit sich Zwiesprache haltende Ich-Erzählers Louis, der über seine Familie einen Roman geschrieben hat, fährt mit diesem im Gepäck von Paris nach Brest, um eben jene zu besuchen. Kermeur, der verschlagene Sohn der Putzfrau seiner Großmutter, spielt dabei eine nicht unwesentliche Rolle. Vor allem geht es um Geld. So wie die eine – Louis‘ Großmutter – durch einen glückliche Zufall zu einem enormen Vermögen kommt, verschwindet im gleichen Atemzug eine nicht minder große Summe aus der Kasse des lokalen Fußballvereins. Dies wird dem Vizepräsidenten – Louis‘ Vater – zur Last gelegt und er ist gezwungen mit seiner Familie Brest zu verlassen. Nur der siebzehnjährige Louis bleibt im Hause seiner Großmutter wohnen. Und genau dort heckt eben jener Kermeur mit ihm einen perfiden Plan aus.
Homo homini lupus – Der Mensch ist des Menschen Wolf (Plautus).
Neid, Intrigen und Missgunst, vor allem in der eigenen Familie, sowie Heuchelei, Betrug und Erpressung sind einmal mehr Tanguy Viels literarisches Thema. Vor allem die Mutter des Ich-Erzählers, eine kalte, hysterische und stets den guten Ruf wahrende Frau, kommt am wenigsten gut weg. „Paris – Brest“ ist in gewissem Sinn eine Familiengeschichte; besser jedoch: eine Abrechnung mit Louis‘ Familie, verpackt in einer kriminalen Humoreske, die gleichzeitig als fein beobachtete Gesellschaftsstudie fungiert.
Obwohl eine erdrückende Schwere über dem autobiografisch gefärbten Buch liegt, schafft es der französische Autor immer wieder mit einer gehörigen Portion Humor und Ironie, die vollständige Sezierung seiner Protagonisten zu verhindern und die düstere Stimmung durch bewusstes Konterkarieren zu unterlaufen.
„Vielleicht, wenn der junge Kermeur an dem Abend damals nicht so gelacht hätte, wäre die Idee für immer aus meinem Kopf verschwunden oder wäre immerhin nicht ein paar Monate später so heftig, so unumgänglich wieder hochgekommen. Monate später, als ich mich an meinen Pariser Schreibtisch setzte, um meinen Familienroman zu schreiben, da hatte ich dieses Lachen in den Ohren, das Lachen des jungen Kermeur, und mit diesem Lachen kamen meine Sätze, kam der Ton des Buchs und die Farbe des Buchs, mit der Vorstellung, jemand würde meine Sätze mit einem hämischen Lachen übertönen. Dieses Lachen habe ich in meinem Familienroman häufig erwähnt, denn der junge Kermeur ist der Einzige, der nicht zur Familie gehört und trotzdem einen wichtigen Platz in meinem Buch einnimmt. Und dann sprach ich weiter:
Kein Schwein interessiert sich für Familiengeschichten.“
Ein traditioneller Familienroman ist „Paris – Brest“ mit Sicherheit nicht, eher eine Parodie auf selbigen. Hinzu kommt die Raffinesse des Erzählens im Erzählen, ein Roman im Roman, ganz im Sinne eines anderen großen Franzosen – Marcel Proust.

Tanguy Viel
Paris – Brest
Aus dem Französischen von Hinrich Schmidt-Henkel
Verlag Klaus Wagenbach, Berlin (August 2010)
144 Seiten, Gebunden
ISBN-10: 3803132347
ISBN-13: 978-3803132345
Preis: 16,90 EURO

Finanzen

Über Heike Geilen 597 Artikel
Heike Geilen, geboren 1963, studierte Bauingenieurswesen an der Technischen Universität Cottbus. Sie arbeitet als freie Autorin und Rezensentin für verschiedene Literaturportale. Von ihr ist eine Vielzahl von Rezensionen zu unterschiedlichsten Themen im Internet zu finden.

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