Allee der Erinnerungen

„Hänschen klein. Ging allein. In die weite Welt hinein. Stock und Hut steht ihm gut, ist gar wohlgemut…“ So beginnt ein allseits bekanntes Kinderlied des Dresdner Lehrers Franz Wiedemann (1821-1882). Der heute allgemein bekannte Text erfuhr allerdings zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine Umdichtung. Im Original geht es keineswegs um ein weglaufendes Kleinkind, sondern um einen jungen Mann, der in die Welt zieht, um sein Glück zu versuchen.
Ulf Vågsvik, etwa fünfzigjähriger Protagonist in Ingvar Ambjørnsens Roman, ist zwar kein junger Mann mehr und sein Weg führt ihn auch „nur“ von Oslo an die norwegische Nordwestküste, aber auf gewisse Art weist sein Ausstieg Parallelen zum Thema Erwachsenwerden auf. Gleichfalls mit Hut und nur einem Koffer verlässt er sein altes Leben, um sich an einem windgebeutelten Ort, der Insel Vaksøy, niederzulassen und neu zu beginnen. Er wird Teil einer Gemeinschaft, „die für einen Außenstehenden doch fremd wirken muss“, deren wenige wortkarge und schwer zugängliche Bewohner „sich selbst im Nabel bohren“ und deren Männer „in vieler Hinsicht Ähnlichkeit mit Kühen haben, sie stehen da und kauen und glotzen einen blöd an“. Einziger Anlaufpunkt ist für ihn die auf der Insel lebende, 61-jährige, kluge und bedächtige Berit, die ihn in Briefen, die sich beide schon lange schreiben, zu einem Besuch animierte. Doch Vågsvik will kein Gast sein. Er will bleiben, um seine vage Vergangenheit, über die der norwegische Autor den Leser im Unklaren lässt, endgültig zu begraben. Liegt sie doch hinter ihm „wie ein geprügelter Hund mit gebrochenem Rücken“. Es bleibt zu vermuten, dass er in seinem früheren Leben mit psychischen Problemen zu kämpfen und abgekapselt in einer Traumwelt gelebt hatte.
Vågsvik beginnt neu zu leben und vor allem zu lieben: Berit, „die, die mir die Hand gereicht hat. Als Erste und Einzige. (…) Die mich damals am Ufer des Oridongo erwartet hat.“ Diese Liebe lässt ihn seine traumatische Reise ins eigene Ich verarbeiten. Ein überwältigendes Gefühl, endlich nach Hause gekommen zu sein, endlich „sein Leben an Land gebracht zu haben“, stellt sich ein. Doch ein dramatisches Ereignis um eine neuangesiedelte holländische Familie und deren 11-jährigen Sohn Tom bricht alte Wunden auf. Nicht nur „die Insel scheint sich vom Boden loszureißen und aufs Meer hinauszutreiben“, sondern Vågsviks jahrelanger Schmerz, von dem er sich zunehmend befreit glaubte, scheint nun auf andere übergegangen zu sein, in einem anderen weiterzufließen. Gemeinsam mit Tom versucht er den virtuellen Oridongo-Strom – sein psychologisches Traumbild – hinaufzufahren, „um uns an Orte und in Situationen zu bringen, von denen wir keine Ahnung haben.“
Mit „Den Oridongo hinauf“ hat Ingvar Ambjørnsen einen beeindruckenden Roman geschrieben, eine Allee der Erinnerungen, ein Buch voller Traumbilder, die sich mit den Gedanken seines Protagonisten und letztendlich des Lesers verflechten. Alles Geschriebene „liegt ein wenig jenseits der Worte.“ In zuweilen einfachen Sätzen, dann wieder beinahe meditativen, stakkatoartigen Wortkaskaden zaubert der norwegische Schriftsteller, der seit 1985 in Hamburg lebt und in seiner Frau Gabriele Haefs eine äußerst sensible Übersetzerin ins Deutsche gefunden hat, eine Aura des diffusen Bedrohlichen und gleichsam Schönen hervor. Wunderbare Landschaftsimpressionen wechseln sich mit großartigen Charakterstudien ab. Das Buch offenbart eine Lawine aus Gedanken und Worten, einen Strom aus Bildern und Eindrücken, gepaart mit haarfeinen Schwingungen und einer tiefen Zärtlichkeit für das Land. Ambjørnsen baut auf einer „stimmungsmäßigen Achterbahn“ innere Bilder auf und beschwört diese in den Sinn des Lesers, so dass die Zeit nicht mehr zu existieren scheint, „als spielten sich alle Gedanken und Ereignisse gleichzeitig ab, als paarten sich die Träume mit der Wirklichkeit, Fieberfantasien und glasklare Einblicke und Ausblicke.“ Manchmal ist weniger mehr. Diese geflügelten Worte treffen ohne Zweifel den Duktus des ganzen Buches. Vieles bleibt ungesagt und manches ist ganz anders, als es im ersten Moment aussieht. Der Autor holt nicht alles an die Oberfläche, um es zu sezieren und zu diskutieren, sondern lässt das Mögliche als Teil des Unmöglichen existieren.
Fazit: Ein Zitat aus dem Buch darf stellvertretend für den unglaublich intensiven Leseeindruck stehen: „Ich merke, dass etwas mich packt, denn das ist die Welt und es ist zugleich außerhalb der Welt, es ist etwas, das mich packt und das in mir aufsteigt, und das alle meine Sinne gleichzeitig trifft…“ „Den Oridongo hinauf“ entpuppt sich als sehr empfehlenswertes literarisches Kleinod.
„Lasst uns alles bewahren, das anders ist (…) denn ohne diese, die Kleinsten unter uns, legt sich eine kühle Hand über die Gesellschaft, dann stirbt die Vielfalt…“

Ingvar Ambjørnsen
Den Oridongo hinauf
Aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs
Titel der Originalausgabe: Opp Oridongo
Edition Nautilus (2012)
252 Seiten, Gebunden
ISBN-10: 3894017503
ISBN-13: 978- 3894017507
Preis: 19,90 EURO

Finanzen

Über Heike Geilen 597 Artikel
Heike Geilen, geboren 1963, studierte Bauingenieurswesen an der Technischen Universität Cottbus. Sie arbeitet als freie Autorin und Rezensentin für verschiedene Literaturportale. Von ihr ist eine Vielzahl von Rezensionen zu unterschiedlichsten Themen im Internet zu finden.

Hinterlasse jetzt einen Kommentar

Kommentar hinterlassen

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.