ALLEIN und NIEMAND

Thomas Glavinic, Die Arbeit der Nacht, Carl Hanser Verlag, München (August2006), 395 Seiten, Gebunden, ISBN-10: 3446207627, ISBN-13: 978-3446207622, Preis: 21,50 EURO

Thomas Glavinic erkundet was der Mensch ist, wenn keine Menschen, ja keine Lebewesen mehr da sind und findet heraus, dass fortschreitende Langsamkeit töten kann.
„Vielleicht hatte er eine Prüfung zu bestehen. Einen Test, in dem es eine korrekte Antwort gab. Eine richtige Reaktion, die ihn aus seiner Lage erlöste. Ein Passwort, ein Sesamöffnedich, eine Mail an Gott. (…) Irgendwo gab es eine Antwort, musste es eine geben. Die Welt draußen war groß. Er war nur er. Die Antwort draußen würde er vielleicht nicht finden können. Aber jene an ihm und in ihm, nach der musste er suchen. Immer weiter.“ Jonas, 34-jähriger Wiener, wacht eines Morgens auf und stellt fest, dass da niemand mehr ist, keine Frau neben ihm im Bett, kein Mensch an der Bushaltestelle, auch keiner im Supermarkt oder sonst wo. Ganz Wien, Österreich und auch der Rest der Welt ist bar jeglichen menschlichen, ja tierischen Lebens. Das, was er sich manchmal in seine Träumen visionierte, das scheint eingetroffen zu sein: „Er hatte ein Überlebender sein wollen. Ein Auserwählter hatte er sein wollen. Der war er jetzt.“
Nur was bleibt, wenn keiner mehr da ist? Was macht man mit sich und seinem Selbst? Glavinic lotet die großen Fragen der Philosophie aus: Woher weiß ich, wer ich bin? Was ist mein Unterbewusstsein? Brauchen wir andere Menschen? Hat das Leben einen Sinn? Was ist ein glückliches Leben? Wie lange ist die eigene Identität eigentlich haltbar? Wie verändert sich die Realität ohne Zuschauer? Gibt es die Zeit dann noch? Was bedeutet der Tod ohne Nachwelt? Haben diese Fragen noch eine Bedeutung wenn nichts mehr bleibt außer der Stille, den Dingen, unendlich viel Zeit und den eigenen Träumen? Letztere werden mit zunehmendem Handlungsverlauf immer größere und beängstigendere Bedeutung erlangen. Sie offenbaren eine nahezu schizophrene Reise ins eigene Unterbewusstsein.

Weg durch die Stille
Doch zunächst stürzt sich Jonas in panischen Aktionismus, durchkreuzt die Stadt, fährt zur Wohnung seines Vaters, zum Bahnhof und Flughafen, schlendert über den Prater, besteigt den Donauturm, reist durch Teile Europas. Er markiert Hilferufe an markanten Stellen, hinterlässt überall seine Handynummer, schreibt sich selbst Postkarten. Aber es bleibt dabei: Keiner da und auch keine Erklärung für das Verschwinden der gesamten Menschheit. „Da war nichts. Keine davoneilenden Schritte, kein Räuspern, kein Atem. Nichts.“
Auf fast 400 Seiten dieses grandiosen Romans begleitet der Leser den einzigen Protagonisten dieses Buches auf seinem Weg durch die Stille. Was anfangs vielleicht noch als Erlösung empfunden wird, weicht einer zunehmenden Bedrücktheit. Die Sprache ist mit einem Mal unwichtig, verkümmert bis auf wenige nichtssagende Floskeln, Worte – von Jonas wahllos auf Zettel geschrieben – sollen zum Aktionismus, zum tätigen Handeln aufrufen. Immer mehr Erinnerungen kehren aus seinem Innersten an die Oberfläche, Gedanken über den Tod und den Sinn des Lebens. Augenblicke werden mit unglaublicher Deutlichkeit und geschärftem Bewusstsein perzipiert: „Würde in hundert Jahren jemand den Tag wahrnehmen? War jemand da, der durch die Landschaft spazierte und an Goethe und Jonas dachte? Oder würde der Tag Tag sein ohne Beobachtung, seiner reinen Existenz überlassen? Und – war es dann noch ein Tag? Gab es etwas Sinnloseres als so einen Tag? Was war die Mona Lisa an so einem Tag?“
Das Nachdenken über sein ICH gewinnt zunehmend an Bedeutung. „Er hatte den Eindruck, dass etwas begonnen hatte. Verschiedenen Konstanten der Wahrnehmung, wie Raum, Materie, Luft, Zeit, schienen sich miteinander zu verbinden. Alles floss ineinander. Wurde zäh. (…) Alles konnte, nichts musste Bedeutung haben.“ Jonas versucht normal zu bleiben. Aber wie soll ihm das gelingen, wenn keine Reflektionen mehr stattfinden, kein Gegenüber mit ihm kommuniziert? Vielleicht durch Selbstbeobachtung? Er filmt sich nachts mit einer Videokamera und schaut sich am nächsten Tag die Bänder an. Doch der sogenannte „Schläfer“ – wie er sein ruhendes Ich bezeichnet – flöhst ihm mehr und mehr Angst ein und ergreift zunehmend nahezu psychotischen Besitz von ihm. Langsam verliert er dadurch die Kontrolle über sich selbst und seine Handlungen.


Magischer, alptraumhafter Sog
Letztendlich ist Jonas gefangen in einem Wachtraum, in einer Art Zwischenwelt, „in der er träumte und ging, träumte und sah, träumte und handelte. Er nahm Geräusche und Bilder wahr. Er roch das Meer. Er las Aufschriften, die sich im nächsten Moment in Erinnerungsfetzen verwandelten, in Trauminhalte, ja in Lieder, die ihm ins Ohr gesungen wurden. Manches behielt er länger, kämpfte damit, verzweifelte daran. Anderes, Abstrakteres, war so kurz da, dass er bezweifelte, es erlebt zu haben.“ Aber eine Frage kann er nun beantworten, nämlich die, was Glück sein kann: „Glück. das war auch, als kleines Kind im Kinderwagen umhergeschoben zu werden. Den Erwachsenen zuzusehen, ihren Stimmen zu lauschen, viele neue Dinge zu bestaunen, begrüßt und angelächelt zu werden von fremden Gesichtern. Dazusitzen und zugleich zu fahren, etwas Süßes in der Hand und die Beine von der Sonne gewärmt zu bekommen. Und vielleicht einem anderen Kinderwagen zu begegnen, dem Mädchen mit Locken und aneinander vorbeigeschoben zu werden und sich zuzuwinken und zu wissen, das ist sie, das ist sie, das ist die, die man lieben wird.“
Thomas Glavinic versteht es faszinierend mit seiner knappen, klaren Sprache, auch ohne seinen Protagonisten mit emotionaler Überschwänglichkeit auszustatten, ein Gefühl der Angst, des unterschwelligen Grauens, der Beklemmung und der spitznadeligen Reflexion zu erzeugen. Auf beeindruckende Art und Weise bewirkt der Roman einen fast magischen, alptraumhaften Sog, dem sich der Leser kaum entziehen kann. Mit minimalen Stilmitteln bringt der Autor universelle menschliche Ängste zum Klingen.

Fazit:
Thomas Glavinic stellt sich in seinem eindringlichen, suggestiven, existentialistischen Roman die beängstigende Frage: „Kann man es ertragen, mit sich allein zu sein? Kann man sich an sich selbst festhalten?“ Ein Buch über die Einsamkeit, den Wahnsinn, die Nacht, das Schweigen und die Frage: Was ist der Mensch?

Über Heike Geilen 597 Artikel
Heike Geilen, geboren 1963, studierte Bauingenieurswesen an der Technischen Universität Cottbus. Sie arbeitet als freie Autorin und Rezensentin für verschiedene Literaturportale. Von ihr ist eine Vielzahl von Rezensionen zu unterschiedlichsten Themen im Internet zu finden.

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