Aufruhr im Garten Eden

Man kann es sich kaum vorstellen, aber im unzugänglichen Regenwald des Amazonasgebietes zwischen Brasilien und Peru werden auch heute noch völlig abgeschieden lebende indigene Stämme entdeckt, die bis dato in totaler Isolation und ohne Kontakt zur westlichen Zivilisation lebten. Feuerrot und pechschwarz angemalte Menschen, mit archaischen Waffen, auf die fremden Späher im Himmel zielend – so gingen die Bilder zum Beispiel im Mai 2008 um die Welt. Auch das Jahr 2011 konnte mit einer neuerlichen Sensation aufwarten, als ein weiteres Steinzeitdorf beim Überflug offenbar wurde.
„Auf einer Lichtung haben sich nackte, rot bemalte Menschen versammelt. Bewaffnet mit Pfeil und Bogen starren sie ungläubig in den Himmel. Über ihnen zieht eine Cessna ihre Kreise. So unerwartet der lärmende Riesenvogel erschienen ist, so plötzlich ist er wieder verschwunden. Der Clan der Nackten ist erschüttert und irritiert. Die Oberhäupter ziehen sich in ihr Stammeshaus zurück und rätseln über die Furcht erregende Erscheinung. Im Innern des Riesenvogels saßen bleiche, weißen Wesen, umhüllt mit einer seltsamen zweiten Haut. Sind die feindlich gesinnten Geistwesen gekommen, um sie zu verschlingen? Unter Einfluss einer starken pflanzlichen Droge soll der Schamane des Clans Erklärungen liefern. Seine Visionen werden nicht annähernd wiedergeben, welche Geister die Europäer 500 Jahre zuvor in Brasilien entfesselt hatten.“, intoniert Sprecher Andreas Fröhlich, unterlegt mit Geräuschen und Musik am Beginn des Hörbuches über das riesige Land in Südamerika. Vom Beginn des ersten Eindringens der Portugiesen im Jahr 1500 unter Pedro Álvares Cabral über das Entledigen seiner kolonialen Fesseln, dem Abschütteln der Diktatur des Militärs, bis zur demokratischen Jetztzeit floss allerdings viel Blut den Amazonas, Rio Negro und Orinoco hinab.
Erneut begibt sich der Silberfuchs-Verlag in seiner Hörbuchreihe auf eine interessante und abwechslungsreiche Reise durch die Geschichte, Kunst und Kultur eines Landes. Dieses Mal streift der Hörer durch die Historie, die Literatur, Musik, Architektur und/oder Tanz Brasiliens. Prägende Gestalten oder Meilensteine der Entwicklung tauchen auf. So zum Beispiel der erste „brasilianische“ Autor, der Jesuitenpadre José de Anchieta, der mit prägnanten, eingängigen Rhythmen die Herzen und Glieder der Indigenen erreicht, die zunehmenden afrikanischen Einflüssen, durch die über den Atlantik geschifften Sklaven oder die Skulpturen Antônio Francisco Lisboas (aufgrund einer fortschreitenden Erkrankung „Krüppelchen – Aleijadinho“ genannt), die sich vor allem durch ihre ausdrucksstarken Gesichtszüge auszeichnen. Die Geschichte erzählt vom Widerstand, der Ausbeutung, von Zuckerrohr- und Kaffeeplantagen, von Goldgräbern, prachtvollen Kirchen und Identitätssuche. Und natürlich von den Ursprüngen des Samba und des Karnevals, dem Bossa Nova, aber auch den Drogenkriegen in den Favelas.
„Brasilien ist ein glückliches Land“, schreibt der Autor João Ubaldo Ribeiro in seinem Roman „Brasilien, Brasilien“. „Ein Land mit einem fröhlichen, festefreudigen Volk, das Dank seiner berühmten Drehs alle Schwierigkeiten vor sich her dribbelt!“ Nur: Ist Brasilien wirklich das Land der Zukunft? „Das Erbe der kolonialen Sklavenzeit ist noch immer präsent – mit sozialer Ungerechtigkeit und Korruption. Doch seit Beginn des neuen Jahrtausends gibt es eine Reihe positiver Impulse, mit dem die Gesellschaft einen vielversprechenden Weg einschlägt und ihn hoffentlich auch weiter verfolgt.“, weiß Autor Andreas Weiser, dessen gelungenes Manuskript zwar nur einen groben, aber dafür höchst informativen geschichtlichen Abriss und grundlegende Wesenszüge der Landeskultur zeichnet, das als Gastland auf der Frankfurter Buchmesse 2013präsent sein wird. So endet dieses wunderbare Kleinod letztendlich mit den visionären Worten: „Brasilien könnte eine Nische sein, die neue Träume hervorbringt, mit der realen Möglichkeit, sie in Harmonie mit Mutter Erde zu verwirklichen und in Offenheit gegenüber allen Völkern. Erde und Mensch haben das gleiche Schicksal.“
Fazit: Erneut ist ein überaus spannendes, lebendiges, abwechslungsreiches und ausdrucksstarkes Hörbuch über ein Land und seine Kultur entstanden. Das ansprechende Booklet, welches einen kurzen geschichtlichen Abriss bietet und verschiedene Ereignisse künstlerisch aufbereitet (Gemälde, Fotos) sowie die über 40 umrahmenden Musikeinspielungen tun ein Übriges zum Gelingen dieser Produktion. Und nicht zuletzt natürlich der Sprecher Andreas Fröhlich, dessen Stimme Kult ist. Seit 27 Jahren spricht er Bob Andrews von den „Drei Fragezeichen“. Außerdem lieh er in Peter Jacksons „Herr der Ringe“ Gollum seine Stimme. Sein unverwechselbares Markenzeichen setzt der Schauspieler, Synchronsprecher und -regisseur im Hörbuch mal erzählend, mal belehrend oder spielerisch ein. Markant und ausdrucksstark ist Fröhlich zwar stets präsent, drängt sich aber niemals auf. Alles in allem eine großartige Produktion, die wunderbar zwischen Spannung und Sinnlichkeit, Kampf und Melancholie, Betroffenheit und Freude changiert und viel Wissenswertes zu vermitteln weiß.

Andreas Weiser (Autor), Andreas Fröhlich (Sprecher)
Brasilien hören – Das Brasilien-Hörbuch
Silberfuchs Verlag (April 2013)
1 CD, ca. 80 Minuten
ISBN-10: 3940665371
ISBN-13: 978-3940665379
Preis: 24,00 EUR

Finanzen

Über Heike Geilen 597 Artikel
Heike Geilen, geboren 1963, studierte Bauingenieurswesen an der Technischen Universität Cottbus. Sie arbeitet als freie Autorin und Rezensentin für verschiedene Literaturportale. Von ihr ist eine Vielzahl von Rezensionen zu unterschiedlichsten Themen im Internet zu finden.

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