Danzig – Donezk?!

Neulich wurde, aus Anlaß des 75. Jahrestages des Überfalls Deutschlands auf Polen, in Erinnerung an die damals virulente Streitfrage nach dem Status des (von Versailles konstituierten) Freistaats Danzig, eine Assoziation zum staatsrechtlichen Status des ostukrainischen Donezk geknüpft. – Der geistige Hintergrund, mit der diese Problemsicht (am Vorabend des Jahrestages) offeriert wurde, ist allerdings das heute noch völlig akzeptierte geopolitische Denken der Polnischen Zweiten Republik (1918-1939). Die gewaltsamen Grenzziehungen im Osten und Südwesten der neuen Republik zwischen 1919 und 1921, der restriktive Umgang mit (wahlbeglaubigten) Bevölkerungsmehrheiten in Schlesien, Masuren und gerade eben auch in Danzig, werden hier als Sieger- und damit Völkerrecht und deshalb nicht mehr fragebedürftig unterstellt. – Dass dort damals Freischärler – ihr Führer hieß Wojciech Korfanty (1873-1939) – ähnlich neue geopolitische Fakten schufen, wie sie heute den ostukrainischen Separatisten unterstellt werden, sollte bei solche einem steilen Vergleich doch auch ins Auge fallen, oder? Der Unterschied ist nur: damals haben die Siegermächte des Großen Krieges diese massenhaft neuen Grenzlagen akzeptiert, die aus der Konkursmasse der drei großen Monarchien zusammengeschoben wurden!
Aber: Was ist denn die Lehre aus ‚mourir pour Dantzig?‘ – Dass man zu keinem Preis die geopolitischen Entscheidungen, wie die damals des Versailler Vertrags, korrigieren dürfe? Dass man eben, wenn es sein müsse, für Danzig, bevor es wieder ‚deutsch‘ würde, zu sterben habe? Was dann ja auch geschehen ist … Wollen die Petenten von „De Dantzig à Donetsk, 1939-2014“ wirklich, als sogenannte Lehre aus Danzig 1939, nicht mehr zulassen, dass Bevölkerungsgruppen, wie eben heute die von Doneszk sich eigene politische und kulturelle Lebensweisen zu geben beanspruchen? Nicht mehr unter der kulturellen Hegemonie der heute in der Ukraine dominanten neuen Erinnerung an die UPA und OUA leben zu wollen. Dass das jetzt zu verhindern sei, weil dann, wenn man das zuließe, wie damals die ganze Welt zerstört würde, weil dann Europa ‚kosakisch‘ würde (wie der polnische Präsident neulich in einem Interview kundgab)? – Ist das die Art und Weise Lehren aus der Geschichte zu ziehen? Zu sagen: die haben (niedere) Interessen wir (höhere) Werte!

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Über Dietzsch Steffen 16 Artikel
Steffen Dietzsch ist Professor für Philosophie und Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Philosophie der Humboldt-Universität Berlin. Er ist Direktor des Kondylis-Instituts für Kulturanalyse und Alterationsforschung (Kondiaf). Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Kantforschung und -biographik, Philosophie des Deutschen Idealismus und europäische Nietzsche-Rezeption. Zuletzt erschien: "Wandel der Welt, Gedankenexperimente", Heidelberg 2010.

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