Degeneration und Unsicherheit

Wir leben im Zeichen der Unsicherheit – und auch der Degeneration. Das war vielleicht immer schon so. Die décadence im fin de siècle hatte Friedrich Nietzsche im 19. Jahrhundert vor Augen, als er die angeblich verweichlichenden Wirkungen des Christentums, wie er es in einem etwas bigotten pietistischen Biotop erlebte, einer heftigen Polemik unterzog. Den „Untergang des Abendlandes“ hatte im 20. Jahrhundert Oswald Spengler aus ähnlichen Gründen im Visier, kaum ahnend, daß er damit der „blonden Bestie“, dem Idealtyp der Nationalsozialisten, den Weg freimachte. Daß sich aber der rassenbiologische Tick der Nazis, auf dem Wege der Eugenik und der Euthanasie sich der „lebensunwerten“ Mitmenschen, natürlich aus reiner „Barmherzigkeit“, zu entledigen und damit Kosten zu sparen, bis heute, wenn auch in veränderter Gestalt und Begründung, erhalten hat, gehört zu den schändlichen Zeichen der modernen Zeit.
Die Zulassung der Präimplantationsdiagnostik (PID) etwa, die sich trotz einiger CDU-Opposition parlamentarisch durchzusetzen scheint, entspricht ja gerade jenem antichristlichen, von Nietzsche und Spengler vorbereitetem Zeitgeist, dem die materielle Sicherheitsgarantie wichtiger ist als das Lebensrecht der ungeborenen Behinderten. Adolf Hitler hätte seine helle Freude an diesem „Volksempfinden“ gehabt, das die Kosten für Behinderte dadurch zu reduzieren sucht, daß es die Existenz der Behinderten verhindert.
Das Problem liegt nicht in der biologischen, sondern in der moralischen Degeneration. Damit werden Fragen der christlichen und zugleich naturrechtlichvernünftigen Ethik berührt, die auch zwischen den Kirchen zunehmend umstritten sind. Die protestantischen Kirchenleitungen rücken in bioethischen Fragen immer weiter von den Positionen des Lebensrechts ab und entfernen sich damit auch vom Ziel der Ökumene. Und die katholische Kirche ist wegen der ihr allein angekreideten pädophilen Mißbrauchsfälle derart in die Ecke gedrängt, daß sie sich in Sachen Morallehre nicht mehr zu äußern wagt. Obwohl die evangelischen Gemeinschaften mindestens dieselben Sexualprobleme gehabt haben wie die Katholiken, die ins Kreuzfeuer der Massenmedien gerieten, haben sie kaum einen Finger gerührt, um die antikatholische Hetzkampagne zurückzuweisen. Auch diese Haltung wirft kein gutes Licht auf die ökumenische Solidarität; sie ist ein Zeichen der ökumenischen Degeneration.
Wer Degenerationen wahrnimmt und Unsicherheiten beklagt, muß dafür nicht einmal mehr einzelne Beweise erbringen. Denn es geht mittlerweile nicht bloß um „gefühlte“ Stimmungslagen, sondern um objektive, allgemein erfahrbare Wirklichkeiten, die uns zu schaffen machen. In Zeiten früherer Unsicherheiten, die von intellektuellen Existentialisten der fünfziger und sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts nahezu verklärt wurden, ging es nicht um die materielle Absicherung vor ökonomischen Unwägbarkeiten. Das Sicherheitsdenken in diesem Sinne wurde als spießig-bürgerlich denunziert. Inzwischen hat sich das Denken in Kategorien materiell-physischer Sicherheit breiter Gesellschaftskreise bemächtigt und auch die intellektuellen Schichten erreicht. Denn man befürchtet zu Recht, daß sich die wohlstandsgesättigte, wohlfahrtsstaatlich abgesicherte und weithin risikofreie Lebensweise nicht mehr lange auf dem gewohnten Niveau halten läßt. Und nicht zu Unrecht befürchtet man eine Radikalisierung der Verteilungskämpfe und des öffentlichen Protestverhaltens.
In Zeiten der Unsicherheit erfreut sich, besonders in Deutschland, die Polizei höchster Wertschätzung. Wenn sie uns auch bei Straßenverkehrskontrollen auf die Nerven gehen, möchten wir nicht gern auf unsere uniformierten Sicherheitsorgane verzichten. Wer sonst könnte uns vor wachsender Gewalt schützen, die öffentliche Ordnung bewahren und die Einhaltung der Gesetze überwachen?
Die polizeilichen Freunde und Helfer in der Not haben ihr Ansehen erheblich gesteigert. Nach jüngsten Meinungsumfragen genießt die Polizei bei den Bürgern ein weitaus höheres Vertrauen als Wirtschaft, Politik – und auch Kirche. Deren Repräsentanten müssen sich demoskopisch fragen lassen, woher dieser dramatische Vertrauensschwund kommt. Bedauerlich ist dieser Rückgang vor allem deshalb, weil die hohen Erwartungen in Wirtschaft, Politik und Kirchen in den letzten Jahren erheblich enttäuscht worden sind.
Vielleicht sind aber auch die Erwartungen der Bevölkerung in die Leistungsfähigkeit von Unternehmern, Politikern und Kirchenleuten viel zu hoch. Daß diese Bevölkerung – von „Volk“ wagt man ja kaum noch zu reden – ausgerechnet der Polizei ihr größtes Vertrauen entgegenbringt, weist auf ein übersteigertes Sicherheitsbedürfnis hin. Und auf obrigkeits- und polizeistaatliche Tendenzen in einer Gesellschaft, die von Krise zu Krise torkelt. Daß aus dieser Unsicherheit die Sehnsucht nach einer starken Führung mit aufrechtem Gang erwächst, die in die richtige Richtung vorangeht, verwundert nicht. Das aber ist kein Polizeiproblem.
Gewiß haben die jahrelang sich hinschleppenden Krisen auch moralische Ursachen, die auf religiöse Defizite verweisen. Allenthalben hat man sich über moralische Mängel in Wirtschaft und Politik beklagt, die keineswegs durch Polizeiaktionen bereinigt werden können. Die Moralprobleme wurden hauptsächlich bei den Eliten ausgemacht, deren Fehlverhalten öffentlich angeprangert wird. Inzwischen hat sich die Moralkritik am lasterhaften Verhalten der Verantwortlichen auch auf die Systemebene ausgedehnt. Denn auch die freiheitlichen Ordnungen von Demokratie und Marktwirtschaft stehen jetzt verstärkt unter Beschuß.
Starke charismatische Führerpersönlichkeiten müssen her, sagt man hinter vorgehaltener Hand. Aber die lassen sich einstweilen kaum blicken. Sollten in Politik und Wirtschaft die Populisten und Demagogen das Sagen bekommen, degeneriert auch die Kultur freiheitlich-verantwortlicher Ordnungen. Dann hilft auch keine Polizei mehr, sondern verstärkt die Unsicherheit. Die Kirche wurde wegen der beklagenswerten Delikte kollektiv diskreditiert. Dabei sollte man von ihr wenigstens noch erwarten dürfen, daß sie den Verantwortlichen ins Gewissen redet. Wenn es sein muß, sogar den Polizisten.

Quelle: http://www.die-neue-ordnung.de/

Über Wolfgang Ockenfels 43 Artikel
Prof. Dr. Dr. Wolfgang Ockenfels, geboren 1947, studierte Philosophie und Theologie in Bonn und Walberberg. 1985 erhielt er eine Professur für Christliche Sozialwissenschaften mit den Lehrgebieten Politische Ethik und Theologie, Katholische Soziallehre und Sozialethik, Wirtschaftsethik sowie Familie, Medien und Gesellschaft an der Theologischen Fakultät Trier. Ockenfels ist zudem Geistlicher Berater des Bundes Katholischer Unternehmer BKU und Chefredakteur der Zeitschrift "Die Neue Ordnung" in Bonn. Er gehört zum Konvent Heilig Kreuz der Dominikaner in Köln.

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