Der „ganzheitliche Ansatz“ der Palliativmedizin

Ein Gespräch mit dem Chefarzt der Palliativstation des Universitätsklinikums Jena, PD. Dr. Ulrich Wedding.

Nach den Definitionen der Weltgesundheitsorganisation und der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin ist die Palliativmedizin „die aktive, ganzheitliche Behandlung von Patienten mit einer progredienten, weit fortgeschrittenen Erkrankung und einer begrenzten Lebenserwartung zu der Zeit, in der die Erkrankung nicht mehr auf eine kurative Behandlung anspricht und die Beherrschung von Schmerzen, anderen Krankheitsbeschwerden, psychologischen, sozialen und spirituellen Problemen höchste Priorität besitzt“, die über eine rein palliative Therapie hinausgeht. Nicht die Verlängerung der Überlebenszeit um jeden Preis, sondern die Lebensqualität, also die Wünsche, Ziele und das Befinden des Patienten stehen im Vordergrund der Behandlung. Neben der medizinischen Behandlung wird in der Palliativmedizin auch großer Wert darauf gelegt, die Patienten psychologisch, sozial und spirituell zu versorgen.

Erst Ende Februar hat der ehemalige Hamburger Justizsenator Roger Kusch das Ende seiner „Karriere“ als Sterbehelfer verkündet. Was halten Sie von einer derartigen Praxis, wie sie auch von dem Schweizer Unternehmen Dignitas praktiziert wird?

Der Vorschlag des Hamburger Justizsenators Roger Kusch ist natürlich bei denjenigen, die sich hauptamtlich mit Palliativmedizin beschäftigen, nicht auf Gegenliebe gestoßen. Der Ansatz der Palliativmedizin ist es, daß der Wunsch nach aktiver Sterbehilfe, nach aktiver Verkürzung des Lebens, nur sehr selten, fast nie, geäußert wird. Dann, wenn eine intensive palliativmedizinische Betreuung für den ganzen Menschen berücksichtigt wird, tritt der Wunsch nach aktiver Sterbehilfe in den Hintergrund.

Welche Qualitätsmerkmale bei der Sterbebegleitung sind in ihren Augen die wichtigsten?

Die deutsche Begriffsbezeichnung palliative Therapie und palliativmedizinische Behandlung ist verwirrend. Zunächst wird von Seiten des Arztes zwischen einer kurativen Therapie unterschieden, die auf Heilung aus ist, und einer sich davon abgrenzenden nicht-kurativen, häufig auch als palliative Therapie bezeichneten Vorgehensweise. Mit der palliativen Therapie kann aber eine ausgeprägte Lebensverlängerung, eine gute Symptomkontrolle verbunden sein. Palliativ-medizinische Ansätze im Speziellen sind diejenigen, die durch dargestellte Definition der Palliativmedizin durch die Weltgesundheitsorganisation oder durch die Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin abgedeckt sind.
Bei der Frage, welche Qualitätsmerkmale existieren, um eine gute Sterbebegleitung qualitativ zu erfassen, haben wir die Schwierigkeit, daß wir mit demjenigen oder derjenigen, um die es eigentlich geht, nicht mehr reden können, ob ein Sterben als würdig empfunden wurde, ob es eine gute Sterbebegleitung ist oder war, so daß wir indirekte Ansätze wählen müssen. Wichtige Punkte sind dabei: Daß der Verlauf absehbar vorbereitet ist, daß alles besprochen wird. Wichtig aber auch, daß die Angehörigen involviert und informiert sind. Viele wünschen sich in der Phase des Sterbens ihre Angehörigen begleiten zu dürfen. Ebenfalls wichtig ist, daß eine gute Symptomkontrolle erreicht wird, denn die Angst vieler Patienten vor dem Tod ist nicht so groß, als die Angst davor, daß in der Sterbesituation unerträgliche Schmerzen auftreten können. Wenn man den Patienten diese Sorge nehmen und ihnen versichern kann, daß sie nicht allein sein werden, daß die Symptome ausreichend behandelt werden, dann verliert auch die Angst vor dem Sterben an Bedeutung.

Inwieweit spielt das Selbstbestimmungsrecht des Patienten und eine mögliche Patientenverfügung eine Rolle? Und wie steht es mit Patienten, die weder dazu in der Lage sind noch eine Patientenverfügung geschrieben haben?

Wir sprechen das Thema Patientenverfügung, Vorsorgevollmacht, mit den Patienten an. Wir fordern sie dazu auf, ihre Vorstellungen in einer Patientenverfügung zu fixieren und ermutigen sie, die Person ihres Vertrauens als Vorsorgebevollmächtigte zu benennen. Wichtig ist es immer die Patienten darauf hinzuweisen, daß diese Patientenverfügung, diese Vorsorgevollmacht, ja nur für den Fall gedacht ist, daß ein persönliches Gespräch mit dem Betroffenen in der jeweiligen Situation nicht mehr möglich ist, und das es hilfreich für diesen Fall ist, zu wissen, wie die Vorstellungen des jeweiligen Patienten dazu sind. Liegen keine Patientenverfügungen vor, bleibt es unsere Aufgabe, die medizinische Situation des Patienten einzuschätzen: Wie weit ist eine Erkrankung fortgeschritten, wie weit befindet sich der Patient in einem Sterbeprozeß! Nur so ist es möglich, den Patienten würdig zu begleiten, um ihm auch im Tod beizustehen.

Wie gewährleisten Sie diese Betreuung auf ihrer Station?

In einem multiprofessionellen Team. Wir haben Pflegekräfte, Ergotherapeuten, Physiotherapeuten, Psychologen, Seelsorger, Sozialarbeiter, Ärzte, Musiktherapeuten, die sich gemeinsam um den Patienten kümmern, gemeinsam die jeweiligen Bedürfnisse und Belastungen des Patienten identifizieren, um dann zu klären, an welchen Symptomen und Belastungen kann angesetzt werden, um die Situation des Patienten zu verbessern. Häufig ist die Frage dabei: Was müssen wir verbessern, damit eine Betreuung zu Hause wieder möglich ist, denn dies ist der Platz, an dem die meisten Patienten, auch in der Sterbesituation, am liebsten sein möchten.

Wie viele Mitarbeiter kümmern sich im Sinne der Palliativmedizin um den „ganzheitlichen Ansatz“?

In der Abteilung Palliativmedizin sind 25 Mitarbeiter beschäftigt.

Arbeiten in ihrer Jenaer Station auch ehrenamtliche Sterbebegleiter und wie wird ihre Station finanziert?

Es arbeiten auf der Station Ehrenamtliche mit, die im Jenaer Hospizverein tätig sind. Sie würden sich nicht ausschließlich als Sterbebegleiter verstehen, sondern tragen mit dazu bei, Symptome zu verbessern, den Patienten und den Angehörigen als Begleitung zur Verfügung zu stehen, die Situation zu analysieren, so daß eine weitere Betreuung zu Hause möglich ist.
Die Palliativstation des Universitätsklinikums ist Teil des Krankenhauses. Es muß für alle Patienten die Indikation zu einer stationären Krankenhausbehandlung vorliegen, daß heißt, es ist eine ärztliche und pflegerische Betreuung in einem Umfang notwendig, der nicht durch ambulante Strukturen, einen Pflegedienst oder durch die Betreuung durch einen Hausarzt gewährleistet werden kann.
Die Palliativmedizin wird über die normalen Krankenhausentgelte, die Fall- und Schwerebezogen gestaffelt sind, finanziert. Für die komplexen Leistungen der Palliativmedizin auf der Station ist es in besonderen Fällen möglich, den Krankenkassen Zusatzentgelte in Rechnung zu stellen.

Worauf führen Sie es zurück, daß die Thematik Tod und Sterben immer noch aus der Gesellschaft ausgeklammert wird?

Wir beobachten schon, daß die Thematik Palliativmedizin in den letzten Jahren eine größere Bedeutung in den Medien erhalten hat, daß offener und aktiver über Themen wie Patientenverfügung, Vorsorgevollmacht, und Tod gesprochen wird, daß intensiver darüber diskutiert wird, palliativmedizinische Leistungen auch ambulant verfügbar zu machen. Hier sehen wir in den letzten Jahren einen erfreulichen Wandel. Dennoch stehen in der öffentlichen Diskussion andere Themen im Mittelpunkt: Jugendlichkeit, Schönheit, Leistung, Konsum sind Themen, die bei der Betreuung Schwerstkranker und Sterbender in den Hintergrund treten.

Was ist ihrer Meinung nach zu tun, damit die Palliativmedizin innerhalb des Medizinstudiums eine größere Bedeutung erlangt?

Die Palliativmedizin ist in der derzeitigen Approbationsordnung erwähnt, sie aber bisher kein Pflicht- und kein Prüfungsfach. Ein Schritt in diese Richtung ist die Etablierung von palliativmedizinischen Lehrstühlen an den Universitätskliniken in Deutschland. Derzeit werden neue palliativmedizinische Lehrstühle in Erlangen, Bonn, Mainz und in Kürze auch in Freiburg im Breisgau besetzt, so daß sich die Zahl der Lehrstühle erhöht. Wir sind allerdings noch weit davon entfernt, daß an jeder medizinischen Fakultät ein Lehrstuhl für Palliativmedizin existiert. In der anstehenden Novellierung der Approbationsordnung ist es geplant, der Palliativmedizin einen größeren Schwerpunkt zu geben, so daß sie dann auch ein Prüfungsfach im Medizinstudium sein wird.

Wie gehen Sie persönlich mit dem täglichen Leid um? Welche Rolle spielt dabei der Glaube?

Mein christlicher Glaube ist wichtig für mich im Umgang mit dem täglich erfahrenen Leid. Die Einstellung, daß wir uns als Lebende das Leben nicht selber nehmen können, das Leben geschenkt ist, ist wichtig. Die Erfahrung, daß Gott auch Mensch geworden ist und auch gelitten hat, ist wichtig, und daß er uns in jedem Menschen, dem wir begegnen, in jedem Gegenüber entgegentritt, sind wichtige Komponenten beim Umgang mit dem Leid.

Wie viele Menschen haben Sie in den letzten Monaten bis zum Tod begleitet?

Wir haben in den ersten vier Monaten der Tätigkeit der Palliativstation circa 100 Patienten auf Station betreut, von denen etwa 40 hier auf der Station gestorben sind.

Das Gespräch mit dem Chefarzt der Palliativstation des Universitätsklinikums Jena, PD. Dr. Ulrich Wedding, führte Dr. Stefan Groß.

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PD. Dr. Ulrich Wedding, geboren 1964, studierte Medizin an den Universitäten Bochum und Heidelberg. Er ist Chefarzt der Palliativstation des Universitätskrankenhauses der Friedrich-Schiller-Universität Jena.

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