Der kleine Goethe und seine bange Frage

Das Beben in den Abruzzenbringt die bestürzende Erkenntniszurück, dass dasBöse in der Welt beileibe nochnicht überwunden ist

L’ Aquila ist nicht Lissabon. Die Hauptstadt der Abruzzen liegt nicht am Meer. Die Residenzstadt der portugiesischen Könige schon. Als an Allerheiligen 1755 ein infernalisches Stampfen und Stoßen von nur wenigen Minuten die stolze Hafen- und Handelsmetropole am Tejo in einen blutigen Trümmerhaufen verwandelt hatte, flüchteten die Überlebenden zum Hafen und blickten dort auf einen mit Schiffswracks und Waren bedeckten Seeboden, den das zurückgewichene Meer freigegeben hatte. Doch dann kam es zurück. Ein Tsunami von unvorstellbarer Wucht – auf dem Meeresboden hatten sich Erdplatten um elf Meter gehoben und daneben um sechs Meter gesenkt – riss die Menschen mit. Die Flutwellen schossen den Tejo hinauf und walzten die Gebäude nieder, die das Beben stehen gelassen hatte. Dort, wo der Tsunami entlang toste, löschte er die Feuersbrunst, die nach der Zerstörung der Stadt ausgebrochen war. Wo nicht, wüteten die Brände noch Tage lang. In Lissabon mit seinen damals 270.000 Einwohnern und in den umliegenden Dörfern und Kleinstädten kamen bis zu neunzigtausend Menschen um.
Europa war entsetzt. Die Titanenfaust aus dem Inneren der Erde hatte nicht nur Lissabon geschlagen, auf dem ganzen Kontinent hatte man sie gespürt. An der Algarve im Süden Portugals waren alle Städte weitgehend zerstört. In Luxemburg war eine Kaserne eingestürzt, bis nach Finnland hatte die Erde gezittert. Flutwellen von zwanzig Metern Höhe überrollten auch die Küste Nordafrikas – weitere zehntausend Tote – und überquerten den Atlantik, wo sie Martinique und Barbados verwüsteten. Die englische Südküste wurde von einer drei Meter hohen Flutwelle getroffen. In den Niederlanden und in Schweden wurden Schiffe aus ihren Verankerungen gerissen. Nicht nur Lissabon war mitten ins Herz getroffen, sondern auch „die beste aller möglichen Welten“ (Leibniz).
Die Trümmer rauchten noch, als in Paris der Spötter Voltaire bereits sein „Poem über das Desaster“ zu dichten begann: „Wer sagt da, angesichts der Opfer ohne Zahl, Gott habe sich gerächt?!… Die Kinder an der Mutterbrust, erschlagen und verblutet, was haben sie getan, was haben sie verbrochen? Besaß etwa Lissabon, das nicht mehr ist, mehr Laster als London, als Paris, die beide fröhlich im Vergnügen schwelgten?“
Noch über fünfzig Jahre später entlieh sich Johann Wolfgang von Goethe aus der Weimarer Bibliothek die 1756 in Danzig erschienenen Schrift „Beschreibung es Erdbebens, welches die Hauptstadt Lissabon und viele andere Städte in Portugal und Spanien theils ganz umgeworfen, theils sehr beschädigt hat“, um besser zu verstehen, was ihn selbst als sechsjährigen Knaben aus dem unschuldigen Glück seiner Kindertage gerissen hatte. Im ersten Buch seiner autobiographischen Schrift „Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit“ schreibt er dann: „Durch ein außerordentliches Weltereignis wurde jedoch die Gemütsruhe des Knaben zum erstenmal im Tiefsten erschüttert. Am ersten November 1755 ereignete sich das Erdbeben von Lissabon, und verbreitete über die in Frieden und Ruhe schon eingewohnte Welt einen ungeheuren Schrecken. Eine große prächtige Residenz, zugleich Handels- und Hafenstadt, wird ungewarnt von dem furchtbarsten Unglück betroffen. Die Erde bebt und schwankt, das Meer braust auf, die Schiffe schlagen zusammen, die Häuser stürzen ein, Kirchen und Türme darüber her, der königliche Palast zum Teil wird vom Meere verschlungen, die geborstene Erde scheint Flammen zu speien: denn überall meldet sich Rauch und Brand in den Ruinen.“ Am glücklichsten noch seien die Toten gewesen, denen „keine Empfindung, keine Besinnung über das Unglück mehr gestattet ist. Die Flammen wüten fort, und mit ihnen wütet eine Schar sonst verborgner, aber durch dieses Ereignis in Freiheit gesetzter Verbrecher.
Die unglücklichen Übriggebliebenen sind dem Raube, dem Morde, allen Mißhandlungen bloßgestellt; und so behauptet von allen Seiten die Natur ihre schrankenlose Willkür.“
Doch war es nur die Natur, die sich als willkürlich erwiesen hatte? Goethe erinnert sich, dass ihn, den Sechsjährigen,damals noch ein ganz anderer Zweifel befiel: „Hierauf ließen es die Gottesfürchtigen nicht an Betrachtungen, die Philosophen nicht an Trostgründen, an Strafpredigten die Geistlichkeit nicht fehlen“, schreibt er in seinen Erinnerungen weiter. „Ja vielleicht hat der Dämon des Schreckens zu keiner Zeit so schnell und so mächtig seine Schauer über die Erde verbreitet. Der Knabe, der alles dieses wiederholt vernehmen mußte, war nicht wenig betroffen. Gott, der Schöpfer und Erhalter Himmels und der Erden, den ihm die Erklärung des ersten Glaubens-Artikels so weise und gnädig vorstellte, hatte sich, indem er die Gerechten mit den Ungerechten gleichem Verderben preisgab, keineswegs väterlich bewiesen.“
Doch jetzt nach L’Aquila. In den frühen Morgenstunden des letzten Dienstags im April hatte der Hubschrauber mit dem Papst zuerst das Zeltlager neben dem völlig zerstörten Örtchen Onna erreicht.
Dann ging es weiter in die Hauptstadt der Region der Abruzzen, in denen mit dem Erdbeben vom 6. April 55.000 Menschen obdachlos geworden sind. Der Papst steht vor den Trümmern der „casa dello studente“. Das Studentenheim im Herzen Aquilas, das gleich mehrere junge Menschen erdrückte, ist mitsamt dem vom Beben kaputt gerüttelten Krankenhaus „San Salvatore“ zum Symbol für den Pfusch beim Bau relativ moderner Gebäude geworden, die den Erschütterungen eigentlich hätten Stand halten müssen.
Seinen Vorgänger Coelestin V. kann Benedikt XVI. nicht aufsuchen. Der von seinen Anhängern als „Engelspapst“ gefeierte Einsiedlermönch zog 1294 auf einem Esel reitend in L’Aquila ein, um dort die Nachfolge Petri anzutreten. Sein Leichnam hat schon das große Erdbeben von 1703 „überlebt“. Auch jetzt schützte ihn das gehärtete Glas seines durchsichtigen Sargs vor den Trümmern des einstürzenden Dachs der Basilika Santa Maria di Collemaggio. Es ist der schönste Kirchenbau der Stadt, vor dem Benedikt XVI. schweigend verharrt. Den Sarkophag seines Vorgängers haben Feuerwehrleute weggeräumt. Coelestin V. ist übrigens der einzige Papst der Geschichte, der – bereits nach einem halben Jahr, am 13. Dezember 1294 – in seinem Amt verzagte und resigniert zurücktrat. Rom hat er nie gesehen.
Und zum ersten Mal sieht Benedikt XVI. den weiten Platz vor der Schule der Finanz-Polizei, wo schon sein Staatssekretär am Karfreitag 205 Särge ausgesegnet hatte. Insgesamt fast dreihundert Menschen hat das Beben das Leben gekostet.
Ausgerechnet in der Karwoche brach das Unglück über die stolzen und selbstbewußten Abruzzesen herein. Mit Kardinal Tarcisio Bertone war Papstsekretär Georg Gänswein zur Trauermesse nach L’Aquila geflogen und verlas eine Botschaft Benedikts XVI. an die Überlebenden: „In Momenten wie diesen ist der Glaube eine Quelle des Lichts und der Hoffnung, denn gerade in diesen Tagen erzählt er uns von den Leiden des Sohnes Gottes, der für uns Mensch geworden ist: Sein Leidensweg, sein Tod und seine Auferstehung mögen für alle eine Quelle des Trosts sein und die Herzen aller für den mystischen Weg zum ewigen Leben öffnen, in dem der Tod nicht mehr sein wird, keine Trauer, keine Klage, kein Mühsal. Denn was früher war, ist vergangen.“
Viele der Zehntausende von Obdachlosen, die jetzt um L’Aquila herum in Zelten leben, haben Verwandte und Freude sowie ihr Hab und Gut verloren. Eines ist wie 1755 beim Erdbeben von Lissabon: Nur durch Zufall hatte damals Portugals König José I. die Katastrophe überlebt – außerhalb der Stadt. Nach dem Beben entwickelte der König eine unkontrollierbare Angst davor, innerhalb von vier festen Wänden zu leben. Er zog es vor, eine riesige Zeltstadt in den Hügeln von Ajuda vor den Toren Lissabons errichten zu lassen und von da an dort zu residieren. Bis zu seinem Tod sollte sich diese Angst nicht mehr legen. Erst danach ließ seine Tochter Maria I. den Palácio Nacional da Ajuda auf dem Platz der väterlichen Zeltstadt errichten.
In den Abruzzen ist heute ähnlich. Die Menschen sind traumatisiert. Der Terror hat sich tief in viele Gesichter der hart gesottenen Abruzzesen eingegraben. Sie wollen oder können noch nicht in ihre Wohnungen zurück, auch wenn Techniker des Zivilschutzes und der Kommunen einen guten Teil der nicht oder nur leicht beschädigten Wohnhäuser inzwischen wieder frei gegeben haben. Warum hat das Beben die urkatholische Region der Abruzzen getroffen, mit ihren zahllosen Klöstern und Kirchen – und nicht Piemont und Turin mit seinen Freimaurern und Satanisten. Warum wurde in Paganica eine Äbtissin vom Dach ihres einstürzenden Klosters erschlagen – und nicht ein Mafiaboss auf Sizilien? Aber die bange Frage des kleinen Goethe, warum Gott die Gerechten dem Verderben preisgab, stellt hier keiner. Stattdessen suchen Medien und Justiz Schuld und Versagen bei den Bauunternehmern, die zuviel Sand und zuwenig Eisen und Zement verwandten, als sie in den letzten vierzig Jahren ihre palazzi in dieser Erdbebenregion errichteten.
Besonders stark hat das Beben neben diesen Skandalbauten das Patrimonium der Kirche getroffen. Von den etwa vierzig Gotteshäusern und Klöstern im historischen Zentrum L’Aquilas sind alle schwer beschädigt. Es gibt keine einzige Kirche, in der man noch eine Messe feiern kann. Auch in den Dörfern haben die Pfarrer mit den Helfern, wenn es gut ging, das Allerheiligste und die Glocken und Kirchenbänke aus den oft kunsthistorisch wertvollen Gotteshäusern geborgen. Viel liturgisches Gerät liegt noch unter Trümmern begraben. So als sollte sich gerade die Kirche wieder die schmerzliche wie geheimnisvolle Frage stellen, warum Gott eben nicht, wie es noch Leibniz formulierte, „die beste aller möglichen Welten“ geschaffen hat. Sondern eine Welt, die – wie es im Katechismus der Katholischen Kirche heißt – nach wie vor „auf dem Weg zu ihrer letzten Vollkommenheit ist“. (310) Beim Erdbeben von Lissabon ist der gütige Himmel der Philosophen eingestürzt. Das Erdbeben in den Abruzzen hat fast durchgängig die Pfarrer und ihre Kirchen, die Nonnen und ihre Klöster, die Ordensleute und einfachen Kirchgänger getroffen. Vielleicht waren es ja die Theologen, die den Himmel zu oft und zu lange schon als nett und gütig sowie die Welt als nicht mehr erlösungsbedürftig beschrieben hatten. Das Beben aber bringt die bestürzende Erkenntnis zurück, dass das Böse beileibe noch nicht überwunden ist.

(c)-Vermerk: www.vatikan-magazin.de

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Über Horst Guido 35 Artikel
Guido Horst wurde 1955 in Köln geboren. Nach dem Studiun der Geschichte und Politologie arbeitete er für die katholische Presse als Journalist. Im Jahr 1998 übernahm Horst die Leitung der katholischen Zeitung Die Tagespost mit Sitz in Würzburg; 2006 gab er den Posten des Chefredakteurs ab und ging wieder nach Rom. Er wurde abermals Rom-Korrespondent der Tagespost und Chefredakteur der zusammen mit Paul Badde konzipierten Zeitschrift "Vatican-magazin".

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