Der Mann ohne Vergangenheit oder: Am Abgrund des Vergessens

„O Gilgamesh, es gab bisher
Noch niemals einen, der das verlangte,
Noch keinen, der durchmaß des Berges Innere:
Zwölf Doppelstunden dehnt er sich aus,
Dicht ist die Dunkelheit, es gibt kein Licht –
Gehst du hinein, findest du nie mehr heraus!“

Vor tausenden von Jahren wurden die Verse des Gilgamesh-Epos auf Tontafeln verewigt. Sie thematisieren vor allem die Suche des darin „besungenen“ sumerischen Königs nach Unsterblichkeit, nachdem sein aus Lehm geschaffener und Mensch gewordener Bruder Enkidu einer heimtückischen Krankheit zum Opfer fiel.
Auch im Roman von Sergej Lebedew, der 2011 auf der Longlist des russischen Buchpreises „Nazbest“ stand, begibt sich der Protagonist auf eine derart rastlose „Jagd“ nach Ewigkeit und Unvergänglichkeit. Auslöser ist gleichfalls der Tod einer nahestehenden Person. Allerdings setzt der 1981 in Moskau geborene Autor diese Begrifflichkeiten in einen völlig anderen Kontext. Denn sein Ich-Erzähler – Lebedews Alter Ego – geht gegen kollektives Vergessen an. Ein Vergessen um die dunklen Schatten der Vergangenheit, die die staatliche Erinnerungspolitik gern unter einen Mantel des Schweigens hüllt, und zu der es bis heute keine nennenswerten historischen Untersuchungen gibt: der Gulag – das russische Strafgefangenenlager.

Diese dunkle Vergangenheit zeigt sich mehr diffus als offensichtlich, mehr unterschwellig als manifest in Gestalt des blinden Grundstücksnachbars seiner Eltern. Der alte Mann, vom Ich-Erzähler als „zweiter Großvater“ bezeichnet, pflegt eine diffizile Beziehung zu dessen Familie und vor allem zu ihm selbst. Eine permanent spürbare, unheimliche Präsenz geht von seiner scheinbaren Fürsorge für den kleinen Buben aus, die in Wirklichkeit jedoch eher einer psychologischen Inbesitznahme gleicht. Über sein Vorleben als Kommandant eines großen Gefangenenlagers ahnt niemand etwas. „Er lebte, als wolle er der Aufmerksamkeit des Lebens entgehen, und darin erreichte er eine fast mönchsgleiche Perfektion.“ Als er stirbt, der Zeitpunkt des Todes wird von Lebedew virtuos mit dem Untergang der ehemaligen Union sozialistischer Sowjetrepubliken verwebt, nimmt der damals Zehnjährige unfreiwillig dessen „Hostie die Todes“ an, an deren Unreinheit er zukünftig ständig zu würgen hat. Doch gerade sie entfaltet eine unglaubliche Wirkung in seinem Körper. Sein Erinnerungsvermögen wird sensibilisiert und sein bisheriges Leben erscheint wie eine Vorherbestimmung. Das „Erbe des Bluts, das Erbe der Erinnerungen, das Erbe fremden Lebens – alles lechzt nach Worten, sucht nach Sprache, will sich erfüllen bis zum Schluss, will sich vollenden, erkannt und beweint werden.“

„Im Jammer meines Leibs, in der Trauer meines Herzens,
In Kälte und Hitze, in Dunkelheit und Finsternis
In Seufzen und im Klagen – ich gehe hinein!
Öffne mir jetzt das Tor des Berges.“
(Gilgamesh an den Skorpionmensch)

Jahre später, Lebedews Protagonist arbeitet mittlerweile als Geologe und erbt überraschend die Datscha des alten Mannes, macht er sich auf die Suche nach dem verborgenen ehemaligen Leben seines „zweiten Großvaters“. Erste Hinweise ergeben sich aus Briefen und diversen „Reliquien“, die er in einer früher ständig sorgsam verschlossen Schublade findet. Entschlossen betritt er den „Pfad, der ins Unbekannte führte, dunkel und kühl“. Er reist in eine düstere Region, in eine namentlich nicht benannte Stadt nördlich des Polarkreises, mit dem Ziel, Antworten auf eine Reihe von Fragen zu finden. Auch wenn einige versteckte Andeutungen auf Kirowsk im Oblast Murmansk hindeuten, so steht dieser Ort letztendlich nur stellvertretend für eine Reihe anderer in der Zeit des Gulags entstandener Ansiedlungen, wie zum Beispiel Workuta, Norilsk oder Inta. Orte, die auf menschlichen Knochen gegründet wurden, mit einem „Loch, durch das Menschen verschwinden. (…) Diese Menschen – der Rest einer längst verschwundenen Generation, aus der sie entfernt wurden – hat man in die stickige Finsternis der Erde getrieben, als seien sie ein veraltetes Wort, eine vergessene Wortart. Für sie gibt es weder einen Platz in der Sprache noch in der Welt“ – Menschen, die den Himmel auf ihren Schultern tragen.

„Die Sprache lebt von dem, was durch sie gesagt werden muss.“

Sergej Lebedews Diktion und sein Wortschatz, der von Franziska Zwerg wunderbar ins Deutsche übertragen wurde, ist unglaublich reich und wortgewaltig. Er fungiert, um erneut das Epos Gilgamesh heranzuziehen, als Skorpionmensch. Tief dringt er mit seinem literarischen Stachel ins Innere des Lesers ein, reizt und wühlt es auf. Sein Erstling erschüttert, klagt an, erinnert und mahnt, und dies ganz ohne schulmeisterliche Attitüden. „Der Himmel auf ihren Schultern“ entpuppt sich als tiefenpsychologischer Roman, der beinahe kindlich unbedarft beginnt, apokalyptisch-real weiterführt, um letztendlich nahezu metaphorisch in einer Phantasmagorie auszuklingen. Der Text des russischen Autors liest sich „wie ein Denkmal, wie eine Klagemauer, wenn die Toten und Trauernden sich nirgendwo treffen können als an der Mauer der Worte, die Tote und Lebende vereint.“ In beinahe jeder Zeile ist die „bedrohliche Anwesenheit der schattenreichen Gebiete der Vergangenheit, die vom Licht des Bewusstseins unberührt geblieben sind“, zu spüren. Lebedew holt eine Epoche ans Licht, die auf den Grund des Gedächtnisses hinabgesunken ist. Dabei scheut er sich nicht, in „das Innere von tausend Kehlen“ hinabzusteigen. „Ich war zu einer Rückwärtsbewegung geworden, zum Rückwärtsgang der Zeit, war zusammengepresst und herausgeschleudert worden“. Die Worte des russischen Autors öffnen der Erinnerung das Tor und schließen letztendlich den Kreis, so dass sich Lebende und Tote treffen können und seine „Wärme war ihre Wärme geworden“.

Fazit: Sergej Lebedew gelingt mit seinem Debüt ein großartiger Roman. „Der Himmel auf ihren Schultern“ gestaltet sich als nachhaltige Erinnerungslandschaft, als eindrucksvolle literarische Aufarbeitung der totalitären Vergangenheit, die auf unaufdringlich-dringliche Art und Weise Bilder im Kopf des Lesers erzeugt, die auch nach dem Zuschlagen der letzten Seite lange und intensiv nachklingen.
Ein Buch, das man gelesen haben sollte!

Sergej Lebedew
Der Himmel auf ihren Schultern
Aus dem Russischen von Franziska Zwerg
Titel der Originalausgabe: „Предел забвения“ („Predel zabvenija“)
S. Fischer Verlag (Februar 2013)
332 Seiten, Gebunden
ISBN-10: 3100425103
ISBN-13: 978-3100425102
Preis: 19,99 EUR

Über Heike Geilen 597 Artikel
Heike Geilen, geboren 1963, studierte Bauingenieurswesen an der Technischen Universität Cottbus. Sie arbeitet als freie Autorin und Rezensentin für verschiedene Literaturportale. Von ihr ist eine Vielzahl von Rezensionen zu unterschiedlichsten Themen im Internet zu finden.

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