„Der Mensch ist frei geboren, und überall liegt er in Ketten!“ (Jean-Jacques Rousseau)

Einem Fanfarenstoß, so der Politologe Iring Fetscher, gleicht die Eröffnung des ersten Kapitels von Jean-Jacques Rousseaus „Du Contrat Social – Vom Gesellschaftsvertrag oder die Grundsätze des Staatsrechts“ aus dem Jahr 1762. Keinem anderen Aufklärer ist ein solch irritierender Satz gelungen. Ein Satz, der gleichzeitig viel republikanischen Stolz und ebenso viel Empörung enthält. Im Zentrum der europäischen Aufklärung postulierte er ein politisch vereintes, freies Europa, das vom gemeinsamen Willen seiner Bürger getragen sei. Denn nur Bürger, die sich für ihren Staat und seine Gesetze entscheiden, werden bereit sein für das Gemeinwohl einzustehen. Mit diesen Worten und seinen mannigfaltigen Ideen inspirierte er ein paar Jahre später die Französische Revolution und wurde zu deren Kampfprogramm.

Auch ein junger Däne mit norwegischen Wurzeln macht sie sich in dieser Zeit zu Eigen. Wir schreiben das Jahr 1785. Morten Falck studiert auf Wunsch seines Vaters in Kopenhagen Theologie, auch wenn seine wahre Leidenschaft den Naturwissenschaften und erotischen Abenteuern gilt. Doch die gesellschaftlichen Umbrüche seiner Zeit gehen auch an ihm nicht vorüber. Geleitet von Rousseaus Entrée beschließt er 1787 als Missionar nach Grönland zu gehen. „Er sehnt sich danach, Menschen in ihrem Naturzustand zu begegnen, freien, noch unverdorbenen Geschöpfen, und vielleicht sehnt er sich auch danach, einen Naturzustand in sich selbst zu entdecken.“

Diese riesige, zu 90 Prozent von ewigem Eis bedeckte Insel im Nordpolarmeer, die auch heute noch eher an Eskimos, Hundeschlitten und Robbenjagd denken lässt, als an ein im weitesten Sinne modernes Land, wies damals vor gut 250 Jahren noch nicht einmal eine Schriftsprache auf. Diese wurde erst durch Poul Egede (1708 – 1789), dem Sohn von Hans Egede (1686 – 1758), dem ersten christlichen Missionar auf Grönland, geschaffen. Doch die zumeist gewaltsame Besiedelung der Europäer und ihr unsensibles Überstülpen des eigenen Glaubens und „kultureller“ Lebensformen, ihr „gutgemeintes“ Aufzwingen einer Regierungsform sowie das Ordnen der Besitz- und Eigentumsverhältnisse nach europäischen Mustern führte nicht selten zu roher Gewalt und gewaltsamem Aufeinanderprallen. Mit hohen Idealen und voller Enthusiasmus nimmt Falck die abenteuerliche und keineswegs ungefährliche Reise in das Land im hohen Norden auf sich. Doch schon bald wird auch er von seinen hehren Idealen „geheilt“. „In diesem Land verstreicht die Zeit nur langsam, und die Jahre vergehen schnell.“ Ohne Kompromisse offenbaren sich Morgen Falck die Abgründe des menschlichen Lebens: Demütigung, Selbsthass, Bußgänge und Bloßstellung, Branntwein, Ekzesse, Dreck und Mord. „Alle Dinge zieht es nach unten, denkt er, alles trägt eine Sehnsucht nach der Tiefe in sich, nach der Dunkelheit und dem Schmutz dort unten, alles Menschliche und vom Menschen gemachte birgt einen Widerwillen gegen das Licht…“. Von den anfänglich Freiheitsidealen bleiben letztendlich auch bei ihm nur noch die Ketten übrig, selbst wenn eine Siedlergemeinschaft im Ewigkeitsfjord die Ideale von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit tatsächlich praktiziert.

Kim Leine hat einen überbordenden, ungeschönten Roman über die Anfange der Kolonialisierung Grönlands geschrieben. Der Autor, der selbst lange Zeit in diesem Land lebte und arbeitete, hat sich intensiv mit der Geschichte und Kultur der zu Dänemark gehörenden Insel auseinandergesetzt. Sein opulentes und schockierend offenes Werk führt in die Anfänge des bis heute nicht gelösten Konfliktes zurück. Auch wenn er immer wieder mit üppigen und grandiosen Naturbeschreibungen aufwartet, so taucht er doch ein ums andere Mal tief in menschliche Abgründe ein und gibt diese ungeschminkt wider. Der Gestank von Krankheit und infizierten Wunden durchzieht immer wieder seine Seiten. Alkoholsucht und sexuelle Sklaverei werden gleichfalls nicht ausgeblendet. Der Mensch, so wird schlussendlich allzu deutlich, ist überall „an seinen Charakter gefesselt. Überall ist er derselbe, ihm fehlt es an der Fähigkeit, sich anzupassen.“

Fazit: „Ewigkeitsfjord“ ist ein hochinteressantes, eindrückliches und eindringliches Buch. Ein Roman, der aufrüttelt, schockiert und erinnert. Letztendlich bleibt jedoch ein deprimierendes Gefühl zurück, ein Gefühl der Ohnmacht und Kraftlosigkeit. Selten hat mich ein Buch so verstört wie dieses.

Kim Leine
Ewigkeitsfjord
Aus dem Dänischen von Ursel Allenstein
Titel der Originalausgabe: „Profeterne i Evighedsfjorden“
Hanser Verlag (Februar 2014)
640 Seiten, Gebunden
ISBN-10: 3446244778
ISBN-13: 978-3446244771
Preis: 24,90 EUR

Über Heike Geilen 597 Artikel
Heike Geilen, geboren 1963, studierte Bauingenieurswesen an der Technischen Universität Cottbus. Sie arbeitet als freie Autorin und Rezensentin für verschiedene Literaturportale. Von ihr ist eine Vielzahl von Rezensionen zu unterschiedlichsten Themen im Internet zu finden.

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