Der normale gesellschaftliche Rassismus in Deutschland

Die neonazistische Mordserie, von der Bild-Zeitung verharmlosend „Döner-Morde“ getauft, beherrscht seit mehr als einer Woche die Medien in der Bundesrepublik. Selbst in konservativen Zeitungen wie der FAZ oder den Springer-Medien wird plötzlich eine „Gefahr von rechts“ erkannt und ein wie auch immer geartetes „hartes Durchgreifen“ gefordert. Die Forderung nach einem NPD-Verbot hat Konjunktur. Das Versagen der Inlandsgeheimdienste ist nicht mehr zu leugnen, vor allem strukturelle Änderungen werden gefordert. An die Möglichkeit personeller oder programmatischer Änderungen scheint kaum jemand denken zu wollen.
Das plötzliche „Aufbegehren gegen den Rechtsextremismus“ in der politischen Klasse ist an Heuchelei nicht zu überbieten. Nach dem vom damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder„Aufstand der Anständigen“ Anfang 2000 wurde die Bedrohung durch die neonazistische Szene nicht mehr ernst genommen; stattdessen stand der „Islamismus“ und der „Linksterrorismus“ auf der Agenda der „Bedrohung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung“. Staatliche Programme gegen die neonazistische Rechte wurden gekürzt, antifaschistische Gruppen, die sich seit Jahrzehnten mit den „Neuen Rechten“ beschäftigen, wurden kriminalisiert. Eine dauerhafte wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Phänomen der extremen Rechten und deren Verbindungen in die bürgerliche „Mitte“ der Gesellschaft war nicht erwünscht. In der gesamten Bundesrepublik gibt es keinen einzigen Lehrstuhl für die Erforschung der extremen Rechten.
Die nun in den Raum geworfenen Versprechungen der politischen Klasse, entschieden gegen die neonazistische Szene vorzugehen oder die NPD zu verbieten, löst das Problem des in der BRD verbreiteten Rassismus nicht. Nicht nur bei den vom „Verfassungsschutz“ unter dem Label „Rechtsextremismus“ benannten Organisationen und Parteien gibt es rassistische, antisemitische, antiziganistische und antimuslimische Einstellungsmuster, sondern auch in der ganz „normalen“ Bevölkerung. Dies stellt das eigentliche Problem dar, was natürlich nicht aktionistisch und kurzfristig zu lösen ist. Rassismus ist ein normaler Bestandteil der Alltagskultur der weißen „autochthonen“ Mehrheitsgesellschaft; Kulturrassismus und Klassismus erlebt nicht erst seit der Sarrazindebatte eine Renaissance. Die gefährliche Entwicklung lässt sich anhand von wissenschaftlichen Studien belegen.
Die repräsentative Studie „Die Mitte in der Krise – Rechtesextreme Einstellungen in Deutschland 2010“ im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung, wo im Frühjahr 2010 mehr als 2.400 Menschen im Alter von 14 bis 90 Jahren in direkten Interviews befragt wurden, ergab, dass sich in der Bundesrepublik antidemokratische und rassistische Einstellungen auf einem sehr hohen Level existierten. Einem Viertel der deutschen Bevölkerung konnte ein gefestigtes extrem rechtes Weltbild bescheinigt werden.
Mehr als 30 Prozent der befragten Personen stimmten der Aussage zu: „Ausländer kommen, um den Sozialstaat auszunutzen.“[1] Fast jede dritte Person votierte für die Ansicht, bei anhaltender Wirtschaftskrise und fehlenden Arbeitsplätzen „sollte man die Ausländer wieder in ihre Heimat zurückschicken“. Genauso viele sahen die BRD durch „die vielen Ausländer in einem gefährlichen Maß überfremdet“. Antimuslimischer Rassismus zeigte sich laut der Studie sogar bei einer Mehrheit der befragten Personen. Der Aussage „Für Muslime in Deutschland sollte die Religionsausübung erheblich eingeschränkt werden“ schlossen sich 58,4 Prozent der Bevölkerung an – in Ostdeutschland sogar 75,7 Prozent. 55 Prozent hielten die folgende Behauptung für richtig: „Ich kann es gut verstehen, dass manchen Leuten Araber unangenehm sind.“[2]
Autoritative und demokratiefeindliche Einstellungen waren auch in erschreckendem Maße weit verbreitet. Die Ansicht „Deutschland braucht jetzt eine einzige starke Partei, die die Volksgemeinschaft insgesamt verkörpert“ bejahte fast jede vierte befragte Person. Mehr als 65 Jahre nach dem Ende des „Dritten Reiches“ wollten ca. 13% einen „Führer“ zurück, der „Deutschland zum Wohle aller mit starker Hand regiert“. Mehr als 10% der Bevölkerung gaben an, der Nationalsozialismus habe „auch seine guten Seiten“ gehabt. Eine nationalistische Außenpolitik und eine chauvinistisch geprägte Machtpolitik Deutschlands in der internationalen Staatengemeinschaft fanden ebenfalls hohe Zustimmungswerte. So fand die Forderung, Deutschland die „Macht und Geltung“ zu verschaffen, „die ihm zusteht“, bei mehr als jeder vierten befragten Person ein positives Echo. Ein „hartes und energisches Durchsetzen deutscher Interessen gegenüber dem Ausland“ befürwortete jede(r) Dritte. Den wie auch immer gearteten „Mut zu einem starken Nationalgefühl“ unterstützen fast 40 Prozent.[3]
Die Studie belegte eindrücklich, dass extrem rechte Einstellungsmuster innerhalb der „Mitte“ der Gesellschaft weit verbreitet sind und nicht nur an einem immer wieder beschworenen „rechten Rand“. Laut der Studie gibt es bei Wählern der CDU/CSU, SPD, FDP, den Grünen und selbst bei der Linkspartei gefestigte antidemokratische und rassistische Auffassungen. Extrem rechtes Denken existierte in jeder gesellschaftlicher Gruppe und Klasse, nicht nur bei den „Verlierern“ der Wirtschafts- und Finanzkrise.
Dass sich militante Neonazis bei diesen Einstellungsmustern als „Vollstrecker“ eines vermeintlichen „Volkswillens“ sehen, ist nichts Neues. Dies war schon bei den Pogromen Anfang der 1990er Jahre in Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen und anderen Gelegenheiten zu konstatieren.[4] Das Schweigen oder die klammheimliche Freude in der weißen Mehrheitsbevölkerung wird auch in der nahen Zukunft den Nährboden für weitere rechtsterroristische Zellen bilden. Bis zum nächsten Mord.

Literatur

Siegler, B.: Auferstanden aus Ruinen… Rechtsextremismus in der DDR, Berlin 1992
www.focus.de/politik/weitere-meldungen/studie-deutschland-auf-dem-Weg-nach-rechts-_aid_561948.html
www.neues-deutschland.de/artikel/181790/studie-auslaenderfeindlichkeit-seit-2008-deutlich-gewachsen.html
www.tagesspiegel.de/politik/auslaenderfeindlichkeit-und-fuererfantasien/1956630.html


[1] www.focus.de/politik/weitere-meldungen/studie-deutschland-auf-dem-Weg-nach-rechts-_aid_561948.html
[2] www.neues-deutschland.de/artikel/181790/studie-auslaenderfeindlichkeit-seit-2008-deutlich-gewachsen.html
[3] www.tagesspiegel.de/politik/auslaenderfeindlichkeit-und-fuererfantasien/1956630.html
[4] Siegler, B.: Auferstanden aus Ruinen… Rechtsextremismus in der DDR, Berlin 1992, S. 184

Über Michael Lausberg 545 Artikel
Dr. phil. Michael Lausberg, studierte Philosophie, Mittlere und Neuere Geschichte an den Universitäten Köln, Aachen und Amsterdam. Derzeit promoviert er sich mit dem Thema „Rechtsextremismus in Nordrhein-Westfalen 1946-1971“. Er schrieb u. a. Monographien zu Kurt Hahn, zu den Hugenotten, zu Bakunin und zu Kant. Zuletzt erschien „DDR 1946-1961“ im tecum-Verlag.

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