Der Völkermord an den Armeniern im Spiegel der deutschsprachigen Tagespresse 1912-1922

Der Völkermord an den Armeniern im Spiegel der deutschsprachigen Tagespresse 1912-1922, Quelle: Herbig Verlag

Yetvart Ficiciyan (Hrsg.). Der Völkermord an den Armeniern im Spiegel der deutschsprachigen Tagespresse 1912-1922. Mit einem Nachwort von Wolfgang Gust. Bremen( Donat Verlag) 2015, 447 S., 19,80 €.ISBN 978-3-943425-51-2. (Schriftenreihe Geschichte & Frieden, Bd. 33).

Der Herausgeber, der seine Dokumentation zur Darlegung des Genozids in der deutschsprachigen Tagespresse für einen Zeitraum von rund zehn Jahren angelegt hat, widmet seine Veröffentlichung seiner Großmutter Eliz Garibyan, der einzigen Überlebenden aus einer Familie, die während des türkischen Massakers an den Armeniern im Jahr 1915 getötet wurde. Yetvari Ficiciyan, 1955 in Istanbul geboren, besuchte die dortige armenische Vor- und Grundschule, danach das österreichische St. Georgs-Kolleg in Istanbul und studierte in den späten 1970er Jahren in Westberlin Energie- und Verfahrenstechnik. Nach wissenschaftlicher Mitarbeit an der TU in Berlin und am Frauenhofer IPK ist er seit 2006 als freiberuflicher Fachredakteur tätig. Seit den 1980er Jahren hat er sich in verschiedenen armenischen Institutionen und Organisationen in Berlin für die Aufklärung des Völkermords an seinen Vorfahren engagiert.
Seit Beginn der 1980er Jahre suchte er auch in den Berliner Bibliotheken nach Lesematerial über Armenien und Armenier in deutscher Sprache. Mit Unterstützung einer Arbeitsgruppe, bestehend aus armenischen Freunden (Dr. Chahin Zeytountchian, Zare und Rafi Davidian), gelang es ihm, zunächst aus den Beständen der Staatsbibliothek des Preußischen Kulturbesitzes Literatur zum Stichwort ‚Armenien‘ zusammenzustellen. Daraus entstand ein „Bücherkatalog über Armenien und Armenier“. Bei diesen Recherchearbeiten stieß er zufällig auf Felix Dietrichs „Verzeichnis von Aufsätzen aus deutschen Zeitungen 1908 – 1944), aus dem er mehr als 200 Zeitungsartikel mit dem Stichwort ‚Armenien‘ bundesweit digitalisierte, archivierte und für eine Dokumentation transkribierte, eine zusätzliche Arbeit, „da die Zeitungen damals in Fraktur erschienen sind.“ (S. 13). Ficiciyan stellt zurecht fest, dass diese Publikation „ein wichtiges Gegengewicht zu den bereits publizierten Aktenberichten des Deutschen Auswärtigen Amtes von 1912 bis 1922 dar(stellt).“ Eine aufmerksame Lektüre der Korrespondentenberichte aus dieser Zeit könnte durchaus die Untersuchung der Wechselwirkung der öffentlichen Meinung in Deutschland gegenüber der Haltung des jungtürkischen Militärapparats zur Armenienfrage mit neuen Akzenten versehen, zumal die Geschichtswissenschaft sich erst in jüngster Zeit auch dieser Quellen bedient.
Seine publizistische Dokumentation teilt der Herausgeber in vier große Abschnitte ein: 1) Die armenische Frage vor dem Ersten Weltkrieg; 2) der Erste Weltkrieg und der Völkermord an den Armeniern (Juli 1914 – November 1918); 3) Ende des Ersten Weltkriegs und das Schicksal der Armenier (1918-1921); 4) Der Talaat Pascha-Prozess und weitere Attentate in Berlin (1921-1922). Diese chronologische Zuordnung entspricht den dramatischen Abläufen, die in den Zeitungsberichten mit unterschiedlichen ideologischen Bewertungen der Schuldfrage, die in den meisten Quellen jedoch ausschließlich der türkischen Militärmacht und cum grano salis ihren reichsdeutschen Beratern zugeschrieben wird. Die immer wieder thematisierte Behauptung, es habe armenische Geheimbünde gegeben, die durch ihren angeblichen systematischen militärischen Widerstand das Unheil der Armenier noch vergrößert hätten, widerlegt der Journalist und Armenienkenner Wolfgang Gust. Er publizierte im Jahr 2000 – gemeinsam mit seiner Frau Sigrid – den Wortlaut der Originalakten des Auswärtigen Amtes „samt englischer Übersetzung sowie die einzelnen Manipulationen im Internet“. (www.armenocide.net).
Der an den Hintergründen des armenischen Völkermords interessierte Leser sollte sich das Nachwort von Wolfgang Gust zuerst zu Gemüte führen, weil sein Autor nicht nur die Ursachen für die Entstehung des Ersten Weltkriegs und des militärischen Bündnisses zwischen Reichsdeutschland und dem Osmanischen Reich argumentativ abhandelt, sondern anhand der vorgelegten Zeitungsquellen nachweist, wie „die unheilige Allianz der beiden autoritären Staaten … das Todesurteil des armenischen Volkes in der Türkei und das von Hunderttausenden von osmanischen Griechen (besiegelte).“ (S. 427) Der Verweis auch auf die Verfolgungen der Griechen durch die jungtürkische Staatsmacht kennzeichnet die Zielrichtung der militärischen Aktionen: die ethnische Säuberung des Osmanischen Reiches von „artfremden“ Elementen. Nur fünfzehn Jahre später bedienten sich die Hitler-Faschisten dieser Politik mit all ihren grausamen Folgen. Umso aufschlussreicher ist es, auf der Grundlage der vorliegenden Pressequellen aus den Jahren 1917/18 zu überprüfen, inwieweit die deutschsprachigen Zeitungen die Frage der Schuld und der „Wiedergutmachung“ an den Nachfahren der Opfer thematisierten. Gust zitiert z.B. das „Kölnisches Volksblatt und Handels-Zeitung“ vom 29. Dezember 1918: „Die Türkei hat in Armenien Gewalttätigkeiten begangen, die an die schlimmsten Zeiten blutgieriger Barbarei erinnern, sie hat versucht, dieses arbeitssame christliche Volk vollständig auszurotten, sie hat hunderttausende Männer, Frauen und Kinder durch wilde Horden niedermetzeln lassen und andere Hunderttausende in einen qualvollen Hungertod in den Wüsten Mesopotamiens getrieben. Deutschland hat allerdings durch seine Regierung bei der Türkei gegen diese Unmenschlichkeiten Protest eingelegt, aber es muss hier offen festgestellt werden, dass dies nicht mit der nötigen durchgreifenden Entschiedenheit geschah, wie überhaupt die ganze deutsche Politik der Türkei gegenüber an einer unheilvollen Schwäche krankte. Aus diesen Gründen bleibt auf dem Verhalten des offiziellen Deutschlands ein dunkler Schatten liegen …“ (S. 435) Dass dieser Schatten bis in die jüngste Gegenwart geblieben ist und erst durch die offizielle Erklärung des Bundestages und des Bundespräsidenten im April 2015 mit der ausdrücklichen Bezeichnung des Völkermords an den Armeniern gelichtet worden ist, lässt die Hoffnung aufkommen, dass auch die Bundesregierung sich in der nahen Zukunft zu diesem Schritt entschließen wird. Mit der vorliegenden Pressedokumentation, die ein Personenregister aufweist, in dem noch Lücken in der Zuschreibung der Namen zu schließen sind, hat die deutsche Armenien-Forschung ein umfassendes Spiegelbild der deutschsprachigen Rezeption vorgelegt – dank eines armenienstämmigen Forschers, dank eines vorbildlichen Kolumnisten und dank auch eines Bremer Verlegers, der sich seit 1984 in zahlreichen Publikationen um die Aufarbeitung eines Jahrhundertverbrechens bemüht.

 

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