Die Deutschen, die Leitkultur und der Biosprit

Sie sind schon ein merkwürdiges Volk – die Deutschen. Einerseits ein Land von Geistestitanen, das die Lessings, Kants, Reinholds und Schillers hervorgebracht hat, die alles in Gang setzten, um ihre Landsmänner aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit zu befreien, um ihnen die Weiten und Grenzen ihrer Vernunft deutlich vor Augen zu führen. Die Deutschen waren eine Nation, die den Geist von Athen und Jerusalem tief eingeatmet hatte, die die schönsten Schöpfungen von Kunst und Kultur hat erklingen lassen – ein Volk, das viel auf sich hält.
Andererseits sind die Deutschen ein Volk der Trägheitskultur, von Freizeithappening und von aktiver Vereinskultur abgelenkt, das sich über diesen emphatisch gepflegten Leidenschaften nur sehr eingeschränkt getraut, über Leitkultur zu reflektieren. Andere Meinungen werden entweder totgeschwiegen oder wie im Falle Sarrazin so lange zerredet, das sich keiner mehr getraut, über die Denkanstöße zu räsonieren. Die Vielheit der Deutschen hat es sich bequem gemacht und sich in dieser wohlbefindlichen Behaglichkeit gut eingerichtet, ist mit der Kultur der Mitte zufrieden. Ja, es scheint, daß diese Wohlbefindlichkeit fast alle Errungenschaften der Vernunft, der kritischen Vernunft, über Bord wirft, um den Status quo zu sichern. Vernunftlos glücklich – da bleibt auch Sarrazin nur ein unliebsamer Störenfried, der Angela Merkels Reich der Mitte unnötig ins Schwanken bringt.
Dieses Reich der neuen Mitte ist eben das Reich der Behaglichkeit, in dem kaum rebelliert, in dem fast alles – stoisch – hingenommen wird. Nun hatte in diese Ruhe der Fall des Freiherrn zu Guttenberg wieder Bewegung gebracht, die abgestumpfte deutsche „Lebenskultur“ atmete kurzzeitig den Geist der Rebellion. Doch das sich hier aufgesammelte Ressentiment scheint im gleichen Atemzug verdampft zu sein wie es sich aufgebaut hatte. Die revolutionäre Kraft erreicht die Straße nicht mehr, die Franzosen und Italiener sind da weiter, sie kämpfen noch, sie protestieren wie einst Martin Luther gegen den Geist der Obrigkeit rebellierte.
Doch vergangen sind die Zeiten, als der revolutionäre Odem die Geister erfüllte, um sich gegen Mißstände aufzulehnen. Auch die Ostdeutschen hatten lange gebraucht, die Meinungsdiktatur, die völlige Überwachung seitens der Staatssicherheit hinter sich zu lassen, immerhin sorgte die FKK-Idylle, die allgemeine Promiskuität (wie heute noch in Kuba), die Kleingartenromantik und die staatlich verordnete Witzgrenze für fast stabile Zustände im Land. Doch dann hatten sie sich getraut – einmal 1989; jedoch ist der Geist des Aufbruchs wieder eingeschlafen, man läßt sich wieder regieren, schlimmer noch – es ist eigentlich egal, wer regiert.
Der Protest äußert sich auch hierzulande nur als bloß verbale Unzufriedenheit. Von Nietzsches Willen zur Macht nichts zu spüren, es regiert – wie vom Naumburger Philosophen in „Also sprach Zarathustra“ kritisiert – der Geist des Kamels, der nicht nur für den „demütigen Geist“ steht, sondern dessen Werte auch Selbstverleugnung, Genügsamkeit, Folgsamkeit und Anpassungsvermögen an widrige Umstände, eben eine ausgeprägte Kultur der Leidensfähigkeit sind. Wie das Kamel erträgt der Deutsche die Zeiten, ja, die eigene Trägheit ist zum alles bestimmenden Lebensmotto geworden, es lohnt sich nicht zu kämpfen, man sitzt die Sachen einfach aus.
Derweilen sorgt ein neuer Kraftstoff, E 10, Biosprit, für allgemeines Aufsehen im Land, ein Kraftstoff, den keiner wollte, der aber nun für alle da ist, wirft den deutschen Verbraucher – zumal sein heiligstes Fortbewegungsmittel betroffen ist, aus der wohlgeordneten Bahn. Aber anstatt auch hier zu protestieren, tankt man lieber einen Kraftstoff, der den Motor ruiniert; das dabei zu vernehmende halblaute Murren gehört zum Wesen des fast, so möchte man sagen, romantischen Bundesbürgers, der sich als tragischer Held versteht, dem das Schicksal schlechte Karten ausgeteilt hat, protestieren wird man auch hier nicht.
Es ist schon faszinierend, was der Bundesbürger heutzutage alles erträgt, ohne sich nach dem Warum zu fragen – und wenn dies so weitergeht, wird er auch in Zukunft nichts gegen Zwangsverheiratungen, religiösen Fundamentalismus und weiteren Meinungsterror haben wollen. Das aufgeklärte Volk hat sich mit dem politischen Deismus abgefunden – doch in der Zukunft wird es damit nicht glücklich werden, will es sich letztendlich nicht selbst abschaffen.

Über Stefan Groß-Lobkowicz 2127 Artikel
Dr. Dr. Stefan Groß-Lobkowicz, Magister und DEA-Master (* 5. Februar 1972 in Jena) ist ein deutscher Philosoph, Journalist, Publizist und Herausgeber. Er war von 2017 bis 2022 Chefredakteur des Debattenmagazins The European. Davor war er stellvertretender Chefredakteur und bis 2022 Chefredakteur des Kulturmagazins „Die Gazette“. Davor arbeitete er als Chef vom Dienst für die WEIMER MEDIA GROUP. Groß studierte Philosophie, Theologie und Kunstgeschichte in Jena und München. Seit 1992 ist er Chefredakteur, Herausgeber und Publizist der von ihm mitbegründeten TABVLA RASA, Jenenser Zeitschrift für kritisches Denken. An der Friedrich-Schiller-Universität Jena arbeitete und dozierte er ab 1993 zunächst in Praktischer und ab 2002 in Antiker Philosophie. Dort promovierte er 2002 mit einer Arbeit zu Karl Christian Friedrich Krause (erschienen 2002 und 2007), in der Groß das Verhältnis von Metaphysik und Transzendentalphilosophie kritisch konstruiert. Eine zweite Promotion folgte an der "Universidad Pontificia Comillas" in Madrid. Groß ist Stiftungsrat und Pressesprecher der Joseph Ratzinger Papst Benedikt XVI.-Stiftung. Er ist Mitglied der Europäischen Bewegung Deutschland Bayerns, Geschäftsführer und Pressesprecher. Er war Pressesprecher des Zentrums für Arbeitnehmerfragen in Bayern (EZAB Bayern). Seit November 2021 ist er Mitglied der Päpstlichen Stiftung Centesimus Annus Pro Pontifice. Ein Teil seiner Aufsätze beschäftigt sich mit kunstästhetischen Reflexionen und einer epistemologischen Bezugnahme auf Wolfgang Cramers rationalistische Metaphysik. Von August 2005 bis September 2006 war er Ressortleiter für Cicero. Groß-Lobkowicz ist Autor mehrerer Bücher und schreibt u.a. für den "Focus", die "Tagespost".

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