Die Geronten-WG oder: Die irrenden Furien

„Eine verrückte Geschichte von verrückten alten Frauen, so würde man das in einem Trailer ankündigen, aber verrückt waren sie wahrscheinlich gar nicht, nur etwas verdreht, und ich weiß auch nicht, ob es wirklich eine Geschichte ist, eher eine Zuspitzung, ja, eine seltsame Zuspitzung, so will ich es sehen. Oder besser noch: eine Folge von Seltsamkeiten an einem einzigen Tag, an einem einzigen Ort. Wie ein absurdes Bühnenstück.“ So versucht Drehbuchautor Jean auf einer Terrasse in Malibu seiner schwangeren Freundin Mary seine geplante Filmvorlage zu erklären. Die Idee holte er sich in Old Germany, wo entfernte Verwandtschaft für eine mysteriöse und spektakuläre Begebenheit sorgte. Seine wohlhabende Großtante Charlotte, eine ehemalige Paläontologie-Professorin, verschwindet nebst ihrer drei, in einer Art Wohngemeinschaft lebenden, älteren Damen, über Nacht spurlos aus ihrer weißen Villa am Fluss. Zudem offenbart das verwüstete herrschaftliche Anwesen noch einen grausigen Fund. Die genauen Umstände sind allerdings nicht bekannt. Jean jedenfalls entwickelt im Folgenden aus den wenigen, zudem ungesicherten Informationen, ein phantasmagorisches, sich kulminierendes, fabulöses Finale Grande. Der richtige Stoff also für das unweit gelegene Zentrum der US-amerikanischen Filmindustrie. Und beste Vorlage für arrangierte szenische Effekthaschereien, dem sich einheimische Opernregisseure gleichfalls nicht verweigern, wie man an den jüngsten Inszenierungen im Festspielhaus auf dem Bayreuther Hügel sehen konnte.
Derweil liegt unter Silvia Bovenschens bizarrem Versatzstück „Nur Mut“ eine ganz andere Denkweise als Effekthascherei aus reinem Selbstzweck. Sie spricht „die Fatalität, die banale, alltägliche unabwendbare Ausweglosigkeit, die kreatürliche Zwangsläufigkeit im Zeichen unserer Endlichkeit, das auslaufende Leben, den Tod als Normalfall“ an. Ihr Buch rückt die Unabwendbarkeit des Älterwerdens in den Fokus, die Angst vor dem immer näher rückenden Sterben, die Wahrung persönlicher Würde, aber auch Generationenkonflikte. Die vier Hauptakteure ihres „furiosen Zerstörungsballetts“ bringen dies in vielfältigster, zuweilen subtiler Art und Weise zum Ausdruck. Sei es nun die Fäden ziehende Grande Dame Charlotte, „eine hochgewachsene strenge Erscheinung. Imposant im Alter, in ihrer Jugend gravitätisch schön“, die zweiundachtzigjährige Johanna, „eine vergessene Autorin der Belletristik“, die – fast nur noch im Bett liegend – mit ihrer Umwelt nur noch via Internet kommuniziert. Einzig ihr von Zeit zu Zeit schrill ausgerufenes „Unerhört!“ schallt als Lebenszeichen nervtötend durch die Räume. Oder aber die ständig vor sich hin summende und murmelnde Leonie, eine ehemalige Lehrerin, die durch einen Schicksalsschlag ihre komplette Familie verlor sowie die exzentrische Nadine, die früher „in Mode machte“, heute allerdings „immer etwas affig angezogen“ herumläuft. Alle vier scheinen in ihren Schrullen gefangen. Stoisch nehmen sie ihr nahendes Erdendasein mehr oder weniger gelassen hin. Gelacht wird nur noch sehr selten.
Als kontrastierende Gegenpole agieren die bodenständige polnische Haushälterin Janina, die zwar hübsche, aber dumpfe Enkelin Charlottes – Dörte -, die man als Erziehungsmaßnahme in das „gruftige Biotop“ steckte sowie ihr schüchterner, neunzehnjähriger Verehrer Flocke, der am Ziel seiner Wünsche angekommen, letztendlich von quälenden Zahnschmerzen und einer zunehmend augenöffnenden Sicht auf seine ständig nörgelnde Angebetete übermannt wird. Bis, ja, bis an bewusstem Tag Charlottes Vermögensverwalter im Haus auftaucht oder besser: von letzterer geladen wurde.
Der Aufbau des Buches und seine knappen Sequenzen erinnern mehr an ein Drehbuchentwurf, als ein Romanmanuskript. Hintergründig und reflektierend, zunehmend bizarrer und überzeichnender, erzählt Drehbuchautor Jean alias Silvia Bovenschen in kurzen knappen Sätzen, denen trotz des stets über dem Raum schwebenden Todesthemas eine gewisse Leichtigkeit innewohnt, über alternde Frauen, ihre Sonderbarkeiten und dem nicht ausbleibenden Blick auf die Vergangenheit. „Die Erinnerung ist eine Hure, die unsere Ich-Legenden polstert. Sie schmeichelt uns, indem sie die Versatzstücke für eine gloriose Ichlegende andient. (…) Früher war alles besser. Ja, ich weiß, das ist ein tödlicher Gebissträgersatz. Vor diesem Satz muss man sich hüten. Es ist der soziale Aussteigersatz der Alten. Mit ihm ist man endgültig in der totalen Unzuständigkeit angekommen.“ Mehr nebenbei als direkt, mehr salopp, als schwermütig, sinnieren die Akteure über fehlende Anerkennung, Gewohnheiten, alltägliche Routinen, sich enger zusammenziehende Kreise, „Risse im Fundament gewählter Lebensformen“ und zunehmende Unmöglichkeiten. Dabei steuern die alternden „Fab Four“ konsequent und unaufhaltsam dem sich abzeichnenden „Tageshöhepunkt“ zu. Der Leser erfährt, „dass nichts hienieden selbstverständlich ist und nichts mit Notwendigkeit so existiert, wie wir es wahrnehmen, dass alles ebenso nicht oder ganz anders sein könnte.“ Aber… um noch einmal auf die eingangs erwähnte aktuelle Wagnersche Operninszenierung zu kommen, wie schreibt Silvia Bovenschen: Das „ganze Chaos, die Verwüstung, dieses Finale der alten Furien, das erinnert mich an die Terzette, Quartette oder Sextette vieler Opern, wenn sie alle gleichzeitig ganz Unterschiedliches, ja Gegensätzliches zum Ausdruck bringen, aber doch durch die Harmonik der Musik auf etwas Gemeinschaftliches verwiesen werden.“ So schließt sich in gewissem Maß auch hier der „Ring“.
Fazit: „Alles ist Zufall, Konstellation und Mischung, die kleine Erzählung, die wir Biographie nennen, und die größere der Menschheit und die ganz große des Universums auch.“, lässt die Autorin ihre Protagonistin Charlotte ausrufen. Silvia Bovenschen wählt eine besonders bizarre Art der Konfliktlösung: eine grimmig-komische Kunstform. In meinen Augen dann doch eine Spur zu überzeichnet. Aber wie äußert sich am Ende eines der als Richter oder Schöffen fungierenden, plötzlich auftauchenden Fabelwesen: „…da macht sich jeder während der Lektüre seinen eigenen inneren Film und soll das ja auch tun. Zudem: Man kann nur sehen, was man sehen kann.“ Ein gut lesbares Buch mit wunderbaren Einzelsequenzen und viel Weisheit zwischen den Zeilen ist es dennoch.

Silvia Bovenschen
Nur Mut
S. Fischer Verlag (Juli 2013)
159 Seiten, Gebunden
ISBN-10: 3100035232
ISBN-13: 978-3100035233
Preis: 16,99 EUR

Über Heike Geilen 597 Artikel
Heike Geilen, geboren 1963, studierte Bauingenieurswesen an der Technischen Universität Cottbus. Sie arbeitet als freie Autorin und Rezensentin für verschiedene Literaturportale. Von ihr ist eine Vielzahl von Rezensionen zu unterschiedlichsten Themen im Internet zu finden.

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