„Die Lüge ist wie ein Schneeball: Je länger man ihn wälzt, desto größer wird er.“ (Martin Luther)

Die Gesellschaft der DDR war bis ins Innerste vergiftet. Lüge und Heuchelei durchzogen nicht nur die Politik, sondern nahezu alle Gesellschaftsschichten. Der Bruder bespitzelte den Bruder – wie im Fall Dr. Karl-Heinz Schädlich alias „IM Schäfer“-, der Ehemann schrieb Berichte über seine Frau – wie im Fall Knud Wollenberger alias „IM Donald“-, Lehrer denunzierten ihre Schüler und umgekehrt. Von der Ideologie war ein bestimmtes Bild der Gesellschaft entworfen worden und Partei, Regierung, Staat, Medien und „gute Genossen“, stutzten sich die Wirklichkeit so zurecht, dass sie diesem Idealbild entsprach. Obwohl fast jeder wusste, dass die Realität anders aussah, hatte man sich so an dieses Verdrehen der Tatsachen gewöhnt, dass es selbstverständlich geworden war und nicht mehr auffiel. „Wir hatten gelebt wie unter Glas“, bemerkte Stefan Heym nach dem Studium seiner Stasi-Akten, „aufgespießten Käfern gleich, und jedes Zappeln der Beinchen war mit Interesse bemerkt und ausführlich kommentiert worden.“ Orwells Schreckensvision einer totalen Kontrolle des Individuums hatte sich in der DDR zur Alltagsrealität entwickelt. Wie ein riesiger Krake lag die Staatssicherheit über dem Land und drang mit ihren Saugnäpfen in den verborgensten Winkel der Gesellschaft.
Uwe Kolbe, geboren 1957 in Ostberlin, ist in diesem Milieu der Lüge großgeworden. Sein Vater war verdeckter hauptamtlicher Führungs-Inoffizieller Mitarbeiter der Stasi. Kolbe hatte nach Auseinandersetzungen mit der Kulturpolitik der DDR faktisches Publikationsverbot und wurde zeitweise vom Ministerium für Staatssicherheit observiert. Seine literarischen Tätigkeiten konnte er fortan nur noch bei verschiedenen Untergrundzeitschriften ausleben. Sein Roman ist die Aufarbeitung seines ganz persönlichen Werdegangs. Allerdings schreibt er seinem Alter Ego im Buch eine Musikerlaufbahn in die Vita. Hier trudelt Hadubrand, genannt Harry, Einzweck als junger, aufstrebender Komponisten für E-Musik durch die Seiten. Der Plot setzt ein mit dem urplötzlichen Auftauchen seines Vaters Hinrich, einem notorischen Frauenhelden. Just zu dem Zeitpunkt, als sich Harry bereits in Musikkreisen einen gewissen Namen gemacht hat. Ihr letztes gemeinsames Zusammentreffen liegt bereits viele Jahre zurück. Und obwohl Harry die systemheuchlerische-treue Spur seines Erzeugers eindeutig identifiziert, hält er alle Zweifel von sich fern, lässt sich sogar kurzfristig auf ein Anwerben als inoffizieller Mitarbeiter ein. Der Lohn wäre immerhin ein damals kaum erschwingliches und zudem nicht erhältliches Klavier gewesen. Doch sein „Stasivater“ zieht seine Kreise immer enger um Harry. Wird er aus dessen Bannkreis ausbrechen können, aus dem „Kokon des eigenen Sounds“? Und wenn ja, mit welchen Konsequenzen? Ist Feigheit „mit dem Knebel des Antifaschismus in der Fresse“ entschuldbar? Entschuldigt Kunst mit ihren „realistischen Metaphern und Metaphern des Realismus entgegen den Behauptungen der Macht“? Das Wort „Väter“ trennt nur ein anderer Anfangsbuchstabe vom Wort „Täter“. Manchmal hat ein solcher Konsonantenwechsel verheerende Folgen…
Uwe Kolbe zeichnet anhand des persönlichen Weges seines jungen Protagonisten und dessen Vaters ein erschreckend realistisches Bild der untergehenden DDR, die sich in einem „Kokon von Unwirklichkeit“ verpuppt hat. Er nimmt politische Repressalien ebenso wenig aus wie Denunziation und Schikane. Abwechselnd verpackt in das stetige Suchen, sich Finden und Entwickeln des Ich-Erzählers Harry sowie der unpersönlichen auktorialen Erzählweise aus der Sicht seines Vaters Hinrich, holt er ein Stück – zuweilen recht dunkle – DDR-Geschichte an die Oberfläche. Immer wieder hat dabei der Protegé Harrys, „der Meister“, im Buch Sebastian Kreisler genannt, seinen Auftritt. Unschwer ist in ihm der Schriftsteller Franz Fühmann zu erkennen, der auch Uwe Kolbe förderte. Wenn man die musikalisch-literarischen Fiktionen in Kolbes Text ein wenig durcheinanderwirbelt und durch bekannte Künstler der damaligen Zeit ersetzt, begegnen einem noch viele bekannte Gesichter, so zum Beispiel der Liedermacher Riebmann alias Wolf Biermann. Eine Recherche in der Vita des Autors tut ein Übriges und ist zudem sehr zu empfehlen.
Der Duktus des Buches kommt einem Hineinhorchen in die „Verhältnisse von Grau“ der ehemaligen DDR gleich, einem Glissando von zwei „Schienensträngen in uneinheitlichem Intervall“. Wechselnd zwischen verschiedenen Zeitebenen, die eine Spanne von kurz nach dem Krieg bis zur Wendezeiten umreißen, ist Kolbe ein beeindruckendes Buch gelungen. „Die Lüge“ entpuppt sich als unkonventioneller, avantgardistischer Roman, und das nicht nur, weil die normalerweise vorangestellte Buchwidmung erst vor dem 36. Kapitel auf Seite 233 erscheint, sondern außergewöhnlich in Sprache, Stil und dem Vermischen von Authentischem mit Fiktiven. Großartige Beschreibungen, mal in kurzer, knapper Form, dann wieder ausufernd-opulent, mit Sätzen über eine Seite und mehr, passen sich jeweils situationsbezogen an die behandelnde Thematik an und gestalten das Lesen fühlbar, sensitiv und intensiv. „Ich setzte mich an den Tisch und skizzierte ein Stück, genauer einen Zirkel von Stücken, der mehrere Sphären zusammenführen würde zu einer Raummusik, zu Domen von Klang, jeder eine eigene Konfession, untereinander korrespondierend. Ich sah Räume und Farben und darin aufklingende Wörter (…) flirrende Muster, ganz Schmerz und ganz Liebe, Aufgehen in Welt.“ Uwe Kolbes Schreiben offenbart sich als denkendes Schreiben im schreibenden Denken: spontan und unwillkürlich, „überzogen, zusammengezogen, gedehnt, überdehnt“.
„Wer lügt, hat die Wahrheit immerhin gedacht.“, skandierte einmal der deutsche Kabarettist Oliver Hassencamp. Grotesk dargestellt, aber wahr. „Der konkrete Hinweis wurde ebenso ernst genommen wie das Gerücht. In beiden Gewändern begegnete uns das Faktische, die Wahrheit. (…) Die Wahrheit war eine verbreitete Lachnummer.“, ist im Roman von Uwe Kolbe zu lesen. Nichtsdestotrotz wurde die Wahrheit unter dem Deckmantel der Lügen auch in der DDR stetig verbreitet und führte 1989 zum Einsturz des seiner Fundamente beraubten Gebäudes. Die Aufarbeitung ganz persönlicher Schicksale sollte allerdings noch lange dauern. Ein erhellendes, ein erschreckendes, ein großartiges Buch, von einem Autor, der bis dato hauptsächlich Lyrik schrieb.

Uwe Kolbe
Die Lüge
S. Fischer Verlag (Februar 2014)
384 Seiten, Gebunden
ISBN-10: 3100402219
ISBN-13: 978-3100402219
Preis: 21,99 EUR

Finanzen

Über Heike Geilen 597 Artikel
Heike Geilen, geboren 1963, studierte Bauingenieurswesen an der Technischen Universität Cottbus. Sie arbeitet als freie Autorin und Rezensentin für verschiedene Literaturportale. Von ihr ist eine Vielzahl von Rezensionen zu unterschiedlichsten Themen im Internet zu finden.

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