Die Sommerlektüre für den Baggersee (und andere Strände der Freizügigkeit)

Ein Papst spricht von Sexualität, deren Schönheit und die Erfüllung durch sie. Ein Traum? In der ehelichen Vereinigung von Mann und Frau entdecken wir „den Sinn des gesamten Daseins, den Sinn des Lebens“? Ein Pontifex, der daran erinnert, dass die Sexualität etwas unglaublich Wertvolles und Beglückendes ist? Das Christentum sei keineswegs körperfeindlich, sagt ausgerechnet der Petrusnachfolger. Ja, es sei sogar ausgesprochen körperfreundlich, lustvoll und ganzheitlich. Und überhaupt: Das Ganze lässt sich auch noch biblisch begründen. Von wegen Verklemmtheit! Wäre es nicht wunderbar, der oberste Sittenlehrer würde mit Hochachtung und Wertschätzung von Sexualität sprechen, so dass aus der ansonsten doch rasch so empfundenen „Straße mit lauter Verbotsschildern“ eine Allee der beglückenden Empfehlungen, eine einzige Einladung zur Liebe würde?
Ein Traum? Kein Traum! Denn spätestens seit Johannes Paul II. dürfte eigentlich jeder wissen, dass die christliche Religion eine zutiefst sinnenfrohe, aufklärerische und ganzheitliche ist, und dass sich jede Prüderie verbietet, die sich übrigens in Ängstlichkeit ebenso zu zeigen in der Lage ist wie in hedonistischer Grenzenlosigkeit. Das Klischee, die katholische Kirche verbiete Lust und Liebe, habe etwas gegen die Freude am Leben und sei so furchtbar rückwärtsgewandt verklemmt, ist eben nichts anderes als ein billiges Klischee.
Doch selbst innerhalb der Kirche gibt es nach wie vor eklatante Wissenslücken – und viel Raum für Vorurteile. Und das trotz Johannes Paul II. Der Selige war ein Aufklärer? Ein Befreier?
Ja, das war er. Und zwar so sehr, dass seine revolutionäre Arbeit offenbar bis heute manche überfordert, zumal sie die so gerne gehätschelten Vorstellungen von der lustfeindlichen und leibdistanzierten kirchlichen Lehre als leidfreundliche Irrtümer entlarven könnte. Ja, ausgerechnet der marienfromme Pole auf der Cathedra Petri hat der Kirche den Schleier der Verklemmtheit und der prüden falschen Schamhaftigkeit entrissen und den Blick auf urkatholische Freiheit und Lust am Leben geöffnet. Es ist höchste Zeit, dies auch in Deutschland nicht länger zu verschweigen. Auch auf die Gefahr hin, dass einige der Vorwürfe, mit denen man sich gerne distanzierend für seine eigene Unfähigkeit zur gestalteten Verantwortung exkulpiert, in Luft aufgehen und sich als Placebo-Argumente selbst entlarven.
Karol Woityla stand mitten im Leben. Als Seelsorger wusste er um die Nöte, die aus mancher Fehlentwicklung gerade auch in moralischen Fragen des konkreten Lebens entstanden waren. Auch ihm war bekannt, dass sich im viktorianischen Zeitalter der Prüderie ein Geist des Versteckens und der Leibfeindschaft schließlich auch über die katholische Kirche stülpte, die sich zuvor gegen diese damals moderne Form des aktuellen Zeitgeistes gewehrt hatte. Und ihm stand deutlich vor Augen, dass nicht zuletzt dadurch ein Ungleichgewicht entstanden war, das sich dann in der Folge in einer übertriebenen und schamlosen Begierlichkeit Luft machte und ins Gegenteil einer bejahenden und verantwortungsvollen Sexualität verkehrte. Katholisch war und ist weder das eine noch das andere.
Er, der spätere Papst, kannte keine Prüderie. In seinem Buch „Liebe und Verantwortung“ forderte Karol Wojtyla verblüffend praxisnah etwa die Männer zur Selbstbeherrschung und Zärtlichkeit in Achtung und Ehrfurcht vor ihren Frauen auf. Es sei notwendig, dass „im Sexualakt der Mann den Höhepunkt der sexuellen Erregung nicht allein erreicht, sondern unter Beteiligung der Frau und nicht auf deren Kosten“. Der Mann müsse den „Reaktionsunterschied“ der Erregung bei Männern und Frauen berücksichtigen, „um im gleichen Zeitpunkt den Höhepunkt der sexuellen Erregung zu erreichen.“ Und das nicht aus hedonistischen, sondern aus altruistischen Gründen. Was man vielleicht unterscheiden könnte zwischen (sexuellem) Gasherd beim Mann und Elektroherd bei der Frau, nannte Wojtyla damals den Umstand, dass „die Erregungskurve beim Mann kürzer ist und schroffer ansteigt“ als bei der Frau.
Ehrfurcht, Wertschätzung, biblische Orientierung, Unverklemmtheit, selbstbewusste und maßstabsgerechte Sprache, Ganzheitlichkeit, Verbindung von Körper, Geist und Seele sowie die Liebe zur Lust in der Lust zur Liebe – daraus entwickelte der damalige Papst in 129 Mittwochs-Katechesen von September 1979 bis November 1984 die „Theologie des Leibes“. Er sprach nicht einfach über Sex, er gab keine Verbote aus und er moralisierte nicht. Aber er holte der Kirche den Leib des Menschen zurück. Und zwar als – man höre und
staune – theologischen Erkenntnisort.
Der Leib als „Zeuge der göttlichen Liebe“? Als etwas Heiliges, etwas Sakramentales? Ja, denn schließlich hat es dem ewigen Schöpfer gefallen, selbst als Sohn eben diese leibliche Gestalt anzunehmen – und dadurch in der Fleischwerdung den Leib zur Heiligkeit zu berufen. Oder anders ausgedrückt: Gerade dadurch ist der Leib „wie durch das Hauptportal in die Theologie eingetreten“ (2. April 1980). Da die Sexualität eine göttliche Gabe ist, wäre es widerchristlich weil widernatürlich, sie entweder zu verleugnen oder zu missbrauchen. Vielmehr ist sie eine Einladung zu einem Leben in Fülle und Freude, in Erfüllung und Verantwortung. Und daher ist es nur logisch, dass der neue Selige die Vereinigung der Geschlechter als „den tiefsten Grund der menschlichen Sittlichkeit und Kultur“ benennt (22. Oktober 1980).
Zuvor hatte er in seinem Buch „Liebe und Verantwortung“ angemerkt, dass die Verwirrung um die Sexualmoral eine „größere Gefahr“ mit sich bringe, als man wohl denke, weil die Verwirrungen und Entstellungen der Sexualmoral letztlich eine verheerende Wirkung auf die geistige Situation des Menschen habe. Wie sehr die missbrauchende Instrumentalisierung der mit Schöpfungskraft geschenkten Sexualität tödliche Folgen haben kann, belegen die nach wie vor himmelschreienden Abtreibungszahlen. Eine Unkultur des Todes, vor der Johannes Paul II. stets warnte, kann nur einer Kultur des Lebens weichen, wenn man den Reichtum, die Fülle und die kostbare Bedeutung der Sexualität erklärt, entfaltet und dann auch lebt. Der Sinn des Lebens ist gleichsam dem Leib, der durch die Begegnung von Mann und Frau erlebten Sexualität eingeprägt.
Die Freude am Körper – das entspricht also letztlich dem göttlichen Auftrag. Und die Erkenntnis, dass wir alle voll und ganz sexuelle Wesen sind mit der Begabung zum richtigen Einsatz unserer sexuellen Bedürfnisse und Sehnsüchte, verbietet jede aus der unterlassenen Reflexion kommende Verklemmtheit. Nicht das „Du darfst nicht“ oder das „Du sollst“ stehen im Mittelpunkt menschengerechter Lebensgestaltung, sondern das „Du kannst“ und „Du bist befähigt zu“. Du bist zum Beispiel befähigt, zu Dir selbst Ja zu sagen, Dich so anzunehmen, wie Du geschaffen bist. Aber auch so anzunehmen, wie Du gewollt bist vom Schöpfer her, der seinerseits Ja sagt zu Dir, Deinem Geist und Deinem Körper. Gottes schöpferisches und unbedingtes Ja zu seinem Geschöpf ist Maßstab. Und daher führte Johannes Paul II. seine Zuhörer aus dem kirchlichen Hinterhof der vermeintlichen Verbote in den Park der Chancen und Freiheit, in eine Landschaft aus Lust und Leidenschaft.
Man sollte die Sprache des Leibes kennen, wenn man sich im ehelichen Akt der geschlechtlichen Vereinigung ausdrückt, meinte er. Gerade in dieser unüberbietbaren Kostbarkeit offenbare sich eine verantwortungsvolle Einzigartigkeit und verbiete sich jede Unverbindlichkeit. Deshalb könne und müsse die Sprache des Leibes sich in Wahrheit ausdrücken und in der Wahrheit zu lesen sein (vgl. 11. Juli 1984) Denn: „Wir sind frei, uns auf den Geschlechtsverkehr einzulassen oder nicht. Haben wir ihn jedoch einmal gewählt, sind wir nicht frei, seine Bedeutung zu verändern“ (Christopher West in seiner Theologie des Leibes für Anfänger, Fe-Medienverlag). Und die „Art und Weise, wie wir unsere Sexualität verstehen und ausdrücken, offenbart unsere tiefste Überzeugung davon, wer wir sind, wer Gott ist und was wir unter Liebe verstehen, wie die Gesellschaft geordnet ist“.
Es ist daher eine „Illusion zu meinen, man könne eine echte Kultur des menschlichen Lebens aufbauen, wenn man den (…) Menschen nicht hilft, die Sexualität, die Liebe und das ganze Sein in ihrer wahren Bedeutung und in ihrer tiefen Wechselbeziehung zu begreifen und zu leben“ (Johannes Paul II. in seiner Enzyklika Evangelium Vitae, Nr. 97). Und zu dieser Erkenntnis gehört auch, dass der Leib „Zeuge der göttlichen Liebe“ ist (Johannes Paul II. am 9. Januar 1980). Der Leib, „und zwar nur er, kann das Unsichtbare sichtbar machen: das Geistliche und das Göttliche. Er wurde geschaffen, das von Ewigkeit her in Gott verborgene Geheimnis in die sichtbare Wirklichkeit der Welt zu übertragen und so Zeichen dieses Geheimnisses zu sein“ (20. Februar 1980).
Freiheit und Verantwortung können dann keine Gegensätze mehr sein. So wenig wie Geist und Körper. Ehrfurcht wird dann zu einem maßstabsgerechten Begleiter der Lust. Der Missbrauch des wundervollen Geschenks der Sexualität in der Degradierung zum bezugslosen Sex wird dann zur einer leeren und enttäuschenden Erfahrung.
Gottes Revoluzzer im Namen des Herrn hat mit seiner Theologie den Schlüssel zur inneren Freiheit des ganzheitlich bejahten Menschen geliefert. Ein Schlüssel, den zu nutzen sich noch viele nicht trauen. Dabei handelt es sich um „eine der kühnsten Neustrukturierungen der katholischen Theologie in Jahrhunderten“ und eine „Art theologische Zeitbombe, die mit dramatischen Konsequenzen hochgehen wird“ (Papstbiograf George Weigel). Fragt sich nur: wann?
Am besten bald. Damit die sexualisierte Diktatur des Relativismus und des Nihilismus zerbricht und eine neue frohe Kultur des Lebens entstehen kann. Und ein schöner Mehrwert an der Theologie des Leibes ist übrigens, dass sie sich ganz logisch aus der Bibel entwickelt und kein katholisches Exklusivgut ist. Überkonfessionelle Organisationen wie TeenStar (www.teen-star.de) haben diesen Schatz längst entdeckt und rüsten in ihrer sexualpädagogischen Begleitung junger Menschen diese mit der Kraft der eigenen Freiheit aus, die in ihren Sehnsüchten und Hoffnungen schlummert und darauf wartet, gehoben zu werden.

Das Buch „Die menschliche Liebe im göttlichen Heilsplan – Eine Theologie des Leibes von Johannes Paul II.“ ist im Fe-Verlag Kisslegg erschienen.

Quelle: vatican-magazin 6/7 2011

Über Martin Lohmann 44 Artikel
Martin Lohmann studierte Geschichte, Katholische Theologie, Philosophie und Erziehungswissenschaften in Bonn. Er war Redakteur der Wochenzeitung "Rheinischer Merkur", Ressortleiter "Christ und Welt", stellv. Chefredakteur des "Rheinischen Merkur", Chefredakteur der Rhein-Zeitung, Moderator der TV-Sendung "Münchner Runde" und war u.a. Chefredakteur des Fernsehsenders K-TV. Er ist Autor zahlreicher Bücher zur Gesellschaftspolitik, Familienpolitik sowie Kirche und Ethik. Martin Lohmann ist Mitglied des Neuen Schülerkreises Joseph Ratzinger/Benedikt XVI. und Geschäftsführer der Akademie für das Leben gUG Bonn (www.akademiefuerdasleben.de)

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