Die Toten von Winnenden und die Mitschuld der Amok-Industrie

Amoklauf in Winnenden. 15 Menschen hat ein 17-jähriger Massenmörder in einem Blutrausch erschossen, und weitere Menschen verletzt, zum Teil schwer. Die Amok-Industrie erreicht routinemäßg ihre Betriebstemperatur. Wahrhafte Trauer wird gestört.

Die Bundesrepublik ist ein gewaltengeteilter, demokratischer Staat mit Wohlstand und mit verdammt vielen, aber kleinen Fehlern. Und dennoch wird sie vornehmlich von einer Gewalt, die die anderen Gewalten mitreißt, geschunden.
Zu den Gewalten zählen sich selber vornehmlich die Medien, die sich als Oberkontrollinstanz über alle anderen Gewalten, vielleicht mit Ausnahme der Justiz, sehen. Und die Medien sehen ihr Geschäft und noch mehr die Möglichkeit sich wichtig zu tun.
Herausgekommen ist eine Art Totalkollaps-Reaktion auf Busunglücke, Bahnhaverien, Flugzeugstürze und dergleichen. Jährlich sterben – im Gegensatz zu früher – Gott sei Dank nur noch 5000 Menschen auf deutschen Straßen durch tödliche Unfälle. In den Haushalten und in den Arbeitsplätzen sind es mehr. Das Jahr hat, so will es die Sonne oder die Erdumlaufbahn um die Sonne, 365 Tage. So kann man sich leicht ausrechnen, wieviele Menschen durch Unfall täglich sterben und in der Bundesrepublik sind seit ihrem Bestehen auch schon mehr Menschen ermordet worden, als sie nötig sind, um eine Stadt zu einer Großstadt zu machen.
Es sind aber immer nur singuläre Fälle, die meist aus Zufall medial ausgeschlachtet werden. Natürlich nach dem Motto von Mitleid und Aufklärung. Amokläufe bringen das Medienfass zum Überlaufen und reißen die Politik, die Institutionen und auch die medialen Institutionen mit in einen widerwärtigen Betroffenheitssumpf. Gottesdienste mit vielen Prominenzen und sich vor den Kameras in den Armen liegende weinende Teenager: die kamerabewaffneten Voyeuristen zerstören jedes authentische Gefühl.

Mitgefühl mit den Ermordeten und Hilfe für die Angehörigen und Freunde der Opfer sieht anders aus

Wer Revue passieren lässt, was der Amokfall von Erfurt an Reaktionen von der Staatsspitze bis hinunter zum kleinsten Bürger an Reaktionen ausgelöst hat, der kann ernsthaft nicht darüber hinweg sehen, dass dieser Veröffentlichungshorror mindestens eine Conditio für den Amoklauf von Winnenden gewesen ist.
Die nimmer endende Motivsuche (wie konnte aus einem netten Jungen ein Amokläufer werden?), die Frage nach Begründungen, die ewigen Psychologen und Seelsorger, die sich gern interviewen lassen. Menschen, die ihrem Helfersyndrom frönen und sicher auch Menschen, die aus lauteren Motiven in dem Wahnsinnskarussell, das Amokläufer in Gang setzen, mit drehen. Sie alle wirken kontraproduktiv.
Stille Trauer, tätige Hilfe und vernünftige Bewertungen und Konzepte sind gefragt. Film-und Bild-Reporter sollten es sich verkneifen die Puscher-Funktion zu übernehmen und gnadenlos drauf zu halten, auf echte Tränen und auf Tränen, die keine Chance mehr haben echt zu sein.

Das Geschäft mit dem Horror des Amoklaufs ist ein sehr hoher Preis für die sogenannte Pressefreiheit.

Es gibt so gut wie nichts von diesem Amoklauf zu berichten, das wirklich eine werthaltige Nachricht ist, außer den wenigen Zeilen, die den nackten Tathergang, der im Groben inzwischen hinreichend bekannt ist, schildern.
Man stelle sich vor, Historiker aus dem Jahr 2100 schauen auf die heutige Zeit zurück. Dann können sie die Katastrophen von Erfurt und die von Winnenden und die vielen anderen Amokläufe nicht mehr unterscheiden, sie könnten Dokumente nur noch zuordnen, wenn sie ein Kalenderdatum tragen.
Die Stereotypie und Austauschbarkeit der Medienschäume ist grenzenlos. Alle Spekulationen, alle Sensationen, alle Bekundungen von immer neuen, immer wortgleichen emotionalen Betroffenheiten sind nichts als der Abschaum einer chemischen Überproduktion von Scheinlegitimationen: Immer wieder wird tausendfach Gesagtes noch einmal mit einem noch engagierteren Gesicht gesagt.
Höchste Politiker, Seelsorger, Vertreter der Kirche, Prominente – alle müssen ununterbrochen ins Fernsehen und den Ausnahmezustand erklären, für den sie auch nicht den Ansatz einer Erklärung liefern. Und die Leute spekulieren sich aufgeblasen und gespreizt einen ab, in immer wohl gesetzteren Worten.

Um die Opfer, die keiner kennt,wirdvoyeristisch „getrauert.“

Die Opfer bleiben namenlos und haben am Ende meist nur einen Zählwert. Und der Täter? Der steht im Zentrum des Interesses: wie konnte es nur passieren, dass ausgerechnet dieser Tim, der immer so adrett und unauffällig war, zum Massenmörder werden konnte. Die Frage wird wieder und wieder mit großem Gestus gestellt, obwohl jeder weiß, dass diejenigen, die die Frage stellen, keine Antwort haben und auch keinen Beitrag zur Findung einer Antwort leisten. Es sind die Showelemente, die alles gnadenlos verdrängen, alles.
Dass die Täter emotional vereinsamt seien, sich ausgeschlossen fühlten und so weiter, dererlei Expertisen sind wohlfeil. Und dass die Umwelt und die Gesellschaft und überhaupt die anderen einen wesentlichen Beitrag leisteten, dass Amokläufer angeschaltet werden, das sind typische Phrasen, die man zu hören bekommt. Es gab in der Menschheitsgeschichte allerdings schon viele Menschen, die nach diesen Kriterien hätten Amokläufer geworden sein müssen.
Es mag sein, dass Amokläufer keine feststellbaren Spezifika in ihren Persönlichkeitsstrukturen aufweisen, wie man auch nach solchen Ereignissen immer wieder hört, und es mag auch sein, dass Amokläufer vorab in ihrer „Vorbereitungszeit“ Signale senden, die man besser gehört hätte. Manchmal wird von Horrorvideos oder Videospielen gesprochen, die angeblich keinen sonderlich großen Einfluss hätten, außer dass sie vielleicht etwas ohnehin Vorhandenes verstärkten.
Dabeiwerden ausgerechnet die Horrorfilme und die Gewalt-Video-Spiele höchst artifiziellin ihrem Ursachenbeitrag unterschätzt und es gilt als ein Angriff auf die heilige Presse-und Kunstfreiheit, wenn man das Verbot Gewalt-Spielen und Horrorfilmen anspricht.
Die Gesellschaftstherapeuten stellen parteitaktische Forderungen und Patentlösungen vor und bei allem wird ignoriert, dass es, um auf den Anfang dieses Textes zurück zu kommen, etwas gibt, was sofort Hilfe verspricht:
Die Republik kann nicht mit Videokameras zugepflastert werden, die Schulen nicht zu Hochsicherheitszonen hochgerüstet werden, es darf keine Generalverdächtigungen geben, es darf keinen Überwachungsstaat geben und die Gesellschaft darf sich auch nicht von Einzeltätern dazu hinreißen lassen eine freie geistig rege und auch positiv denkende Jugend in den Schulen mit Abwehr-Restriktionen gegen Amokläufer zu gängeln.
Alibi-Diskussionen, Marktschreierei, Klugscheißerei – all das wird nicht benötigt, aber – und das sollte nicht unterschätzt werden – die Foren, der große theatralische Auftritt, die ins sinnlose übersteigerte Scheinwichtigkeit, die Überhöhung von Amoktaten und deren Tätern durch eine öffentliche Resonanz, die jede Dimension und jeden Halt verloren hat und stoßgebetartig jedesmal zu einer regelrechten Amok-Industrie mutiert, müssen schlicht und ergreifen ersatzlos aufhören ihr falsches Werk zu tun.
Das bringt keine Garantie, dass Amok nie wieder passiert, aber es kann der Inflation dieses Tat- und Tätertypus entgegen wirken. Es verhält sich ähnlich wie mit den Terroristen. Jeder Terrorist und jede Terrortat trägt Energien in sich, die Nachfolge-Täter auf den Plan rufen, weshalb es viel besser wäre, man hätte den Terrorismus totgeschwiegen und ihn routinemäßig der Justiz und der Polizei überlassen, statt dass die Medien Terroranschlägegierig ausschlachten und Terroristen regelmäßigzu Megastars machen.

Der Reiz statt unbekannt zu leben, als berühmter Amokläufer zu sterben und in die Geschichte einzugehen, muss weg fallen

Die Taten und die Täter sind in Wahrheit viel weniger interessant, als die permanente Suche nach deren Motiven glauben macht. Auch hinter diesem Tim steckt nichts. Eine Null. Die unausgesprochene Behauptung, dass tendenziell in jedem Menschen auch ein Krimineller und auch ein Amokläufer steckt, die von Experten unterschwellig lanciert wird, in dem sie mit äußerst wichtigem Auftritt dozieren, dass es nichts bei den Tätern gibt, was eine Destination, Anlage oder Geneigtheit oder Ähnliches indiziere, ist auf eine katastrophale Weise gefährlich und falsch.
Es taugt eben gerade nicht jeder Mensch zum Amokläufer. Straftäter sind eben nicht, wie es in ideologischen Zeiten vor kurzem noch hieß, Produkte ihrer Umwelt. Man muss aufhören einen Amokläufer, je grauenvoller und brutaler seine Tat ist, umso liebevoller und süchtiger als Unschuldslamm, der nur an irgendwelchen Umständen zerbrochen sei, zu sehen. Damit tritt die Diskussion auf der Stelle und reproduziert Amok.
Es muss auch eine moralische Verurteilung möglich sein, nicht nur eine strafrechtliche, die der Ruhmsucht der Amokläufer den Reiz nimmt. Die Amok-Versteherei wirkt kontraproduktiv. Da hilft es auch nicht, dass die Tat sekündlich einmal im Land irgendwo „schrecklich“, „unfassbar“, „unverständlich“ und dergleichen mehr genannt wird. Das alles ist evident.
Den Opfern hilft der routinemäßig anschwellende Bocksgesang mit letzten Endes kurzer Halbwertszeit überhaupt nichts. Deswegen kann man den Verantwortlichen in der Politik wie auch in den Medien nur den dringenden Rat geben den Sog zu stoppen,sich ehrenvoll und mit echtem Mitgefühl zurück zu ziehen und keine Showveranstaltung aus einem Amoklauf heraus zu generieren.
Erfurt war bis zu den nachlaufenden Büchern hin und dem Gerangel zwischen Heldenstatus einzelner Lehrerund der Medienpräsenz anderer Beteiliger ein wirklich abschreckendes Beispiel, was Medien anrichten können. Da wurde aus einer bösen Realität für die betroffenen Menschen teilweise eine Big-Brother-Show heraus geholt. Einer Show, bei der Menschen, die dies unter normalen Umständen nicht wollten, aktiv mitspielten oder spielen mussten.
Man hofft, dass erkannt wird, dass die Wirklichkeit nur dann Realität bleibt, wenn nicht die Scheinwelten der Medien die Macht übernehmen.

Mit freundlicher Genehmigung von Bettina Röhl (www.welt.de)

Über Röhl Bettina 12 Artikel
Bettina Röhl, geboren 1962, ist eine deutsche Journalistin und Publizistin. Sie studierte in Hamburg und Perugia Geschichte und Germanistik. Seit 1986 arbeitet Bettina Röhl als Journalistin, unter anderem für die Zeitschriften Tempo, Welt, Vatikan-Magazin und Spiegel TV.

Hinterlasse jetzt einen Kommentar

Kommentar hinterlassen

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.