Die türkische Frage

Es ist noch nicht lange her, daß sich das westeuropäische Publikum und die Amerikaner ein annähernd genaues Urteil über die türkischen Angelegenheiten bilden konnten. Bis zur griechischen Insurrektion war die Türkei in jeder Hinsicht Terra incognita , und die im Umlauf befindlichen allgemeinen Vorstellungen gründeten sich mehr auf die Märchen aus „Tausendundeiner Nacht“ als auf irgendwelche historische Tatsachen. Wohl rühmten sich die offiziellen Diplomaten, die selbst im Lande gewesen waren, genauerer Kenntnisse; allein da keiner von ihnen sich die Mühe gemacht hatte, Türkisch, Südslawisch oder Neugriechisch zu lernen, so war es auch bei ihnen nicht weit her mit dem Wissen, und sie waren daher alle auf die gefärbten Berichte griechischer Dolmetscher und fränkischer Kaufleute angewiesen. Auch vergeudeten diese herumlungernden Diplomaten stets ihre Zeit mit allerlei Intrigen. Nur Joseph von Hammer, der deutsche Historiker der Türkei, macht eine rühmliche Ausnahme. Diese Herren kümmerten sich nicht um das Volk, die Einrichtungen und die sozialen Zustände des Landes; ihre Beziehungen erstreckten sich nur auf den Hof und besonders auf die griechischen Fanarioten, die verschlagenen Zwischenträger zwischen zwei Parteien, von denen keine die wirklichen Verhältnisse, die Macht und die Hilfsquellen der anderen kannte. Seit langer Zeit und merkwürdigerweise noch heute bilden die herkömmlichen Vorstellungen und Ansichten, die sich auf solche armselige Informationen stützen, größtenteils die Grundlage aller Aktionen der abendländischen Diplomatie gegenüber der Türkei.
Aber während England, Frankreich und lange Zeit sogar Österreich in ihrer orientalischen Politik im Dunkeln tappten, wurden sie alle von einer anderen Macht überlistet. In Rußland, das seinem Wesen und seiner Lebensart, seinen Traditionen und Einrichtungen nach selbst halbasiatisch ist, fanden sich Leute genug, die für den wahren Zustand und Charakter der Türkei das richtige Verständnis hatten. Sie hatten dieselbe Religion wie neun Zehntel der Bewohner der europäischen Türkei; ihre Sprache war fast dieselbe wie die von sieben Millionen türkischer Untertanen; und die bekannte Leichtigkeit, mit der ein Russe fremde Sprachen sprechen lernt, wenn er sie auch nicht völlig beherrscht, machte es den gut bezahlten russischen Agenten leicht, sich mit den türkischen Angelegenheiten vollständig vertraut zu machen. Und schon früh nutzte die russische Regierung diese ihre so außerordentlich günstige Lage im Südosten Europas aus. Hunderte von russischen Agenten durchzogen die Türkei und lenkten die Aufmerksamkeit der griechischen Christen auf den orthodoxen Herrscher als das Haupt, den natürlichen Beschützer und schließlichen Befreier der unterdrückten orientalischen Kirche; den Südslawen wieder zeigten sie diesen selben Herrscher als den allmächtigen Zaren, der früher oder später alle Stämme der großen slawischen Rasse unter ein Zepter vereinigen und sie zur herrschenden Rasse Europas machen werde. Die Geistlichkeit der griechisch-orthodoxen Kirche bildete bald eine einzige große Verschwörung zur Verbreitung dieser Ideen. Die serbische Erhebung 1804 und die griechische Empörung 1821 waren mehr oder weniger direkt durch russisches Gold und russischen Einfluß angestiftet, und wo immer von türkischen Paschas die Fahne der Empörung gegen die Zentralregierung erhoben wurde, da fehlte es weder an russischen Intrigen noch an russischen Geldern. Und während die westlichen Diplomaten, die von der wirklichen Lage in der Türkei nicht mehr wußten als vom Mann im Monde, sich darüber vergeblich die Köpfe zerbrachen, wurde der Krieg erklärt, marschierten russische Truppen im Balkan ein, wurde Stück für Stück vom Ottomanischen Reich abgerissen.
Wohl hat man in den letzten dreißig Jahren viel getan, um die Allgemeinheit über die Zustände in der Türkei aufzuklären. Deutsche Philologen und Kritiker haben uns mit ihrer Geschichte und Literatur bekannt gemacht; englische Residenten und englische Kaufleute haben viele Daten über die sozialen Verhältnisse des Türkischen Reiches gesammelt. Aber für die neunmalweisen Diplomaten scheint dies alles nicht zu existieren, und sie halten so zäh wie möglich an den Traditionen fest, die das Lesen der orientalischen Märchenliteratur geschaffen hat und die durch die nicht weniger wunderbaren Berichte ergänzt werden, welche die korrupteste Bande gewissenloser griechischer Söldlinge, die jemals existiert hat, in die Welt setzt.
Und was mußte sich natürlicherweise daraus ergeben? Daß dank der Unwissenheit, Trägheit, fortwährenden Unbeständigkeit und Feigheit der westeuropäischen Regierungen Rußland in allen wesentlichen Punkten konsequent eine seiner Absichten nach der anderen durchsetzte. Von der Schlacht bei Navarino bis zur jetzigen Orientkrise wurde ein Vorgehen der westlichen Mächte entweder durch Zänkereien untereinander vereitelt, die meist der ihnen gemeinsamen Unkenntnis der orientalischen Angelegenheiten und kleinlichen Eifersüchteleien entsprangen, die der orientalischen Auffassungsweise ganz unbegreiflich erscheinen mußten, oder aber jede Aktion diente direkt dem Interesse Rußlands. Und nicht nur die Griechen – in Griechenland und in der Türkei – auch die Slawen sehen in Rußland ihren natürlichen Beschützer; und sogar die Regierung in Konstantinopel, die stets von neuem daran verzweifelt, ihre jeweiligen Bedrängnisse und ihre wirkliche Lage diesen abendländischen Diplomaten begreiflich zu machen, die sich auf ihre völlige Unfähigkeit, türkische Dinge mit eigenen Augen beurteilen zu lernen, noch etwas einbilden, sogar diese türkische Regierung sieht sich immer und immer wieder gezwungen, an Rußlands Gnade zu appellieren und bei der Macht Zuflucht zu suchen, die offen ihre feste Absicht eingesteht, alle Türken über den Bosporus zu jagen und das Sankt-Andreas-Kreuz auf die Minarette der Hagia Sophia zu pflanzen.
Der diplomatischen Tradition zum Trotz haben schließlich diese beständigen und erfolgreichen Übergriffe Rußlands in den Kabinetten der europäischen Westmächte eine ganz leise und entfernte Befürchtung der nahenden Gefahr hervorgerufen. Diese Befürchtung zeitigte das große diplomatische Patentmittel, daß die Aufrechterhaltung des Status quo in der Türkei eine für den Weltfrieden unerläßliche Bedingung sei. Die prahlerische Unfähigkeit mancher moderner Staatsmänner hätte ihre Unwissenheit und Hilflosigkeit durch nichts deutlicher manifestieren können als durch dieses Axiom, das, obzwar immer ein toter Buchstabe, dennoch in der kurzen Periode von zwanzig Jahren durch die Tradition geheiligt und ebenso ehrwürdig und unanfechtbar geworden ist wie die Magna Charta des Königs Johann. Aufrechterhaltung des Status quo! Aber gerade um den Status quo aufrechtzuerhalten, schürte Rußland den Aufstand in Serbien, machte es Griechenland unabhängig, eignete es sich das Protektorat über die Moldau und die Walachei an und behielt einen Teil Armeniens für sich. England und Frankreich rührten sich nicht, als all dies geschah, und nur ein einziges Mal gaben sie ein Lebenszeichen; das war 1849, als sie nicht die Türkei, sondern die ungarischen Flüchtlinge beschützten. Für die europäische Diplomatie und sogar für die europäische Presse beschränkt sich die ganze orientalische Frage auf das Dilemma: entweder die Russen in Konstantinopel, oder die Aufrechterhaltung des Status quo – darüber hinaus existiert für sie nichts.
Man sehe sich als Illustration die Londoner Presse an. Da haben wir die „Times“, die für die Zerstücklung der Türkei eintritt und erklärt, die türkische Rasse sei untauglich, noch länger in diesem schönen Winkel Europas zu herrschen. Geschickt wie immer greift die „Times“ keck die alte diplomatische Tradition des Status quo an und erklärt ihre Fortdauer für unmöglich. Das ganze Talent, das diesem Blatte zur Verfügung steht, wird aufgeboten, um diese Unmöglichkeit unter den verschiedensten Gesichtspunkten darzutun und die britischen Sympathien zu einem neuen Kreuzzug gegen die Überreste der Sarazenen aufzubieten. Das Verdienst dieses rücksichtslosen Angriffs gegen eine nichtssagende und altehrwürdige Phrase, die vor zwei Monaten der „Times“ selbst noch heilig war, ist nicht zu leugnen. Wer aber diese Zeitung kennt, der weiß auch, daß diese ungewohnte Kühnheit direkt im Interesse Rußlands und Österreichs aufgewandt wird. Die in ihren Spalten vorgebrachten unanfechtbaren Gründe für die vollkommene Unmöglichkeit, die Türkei in ihrem jetzigen Zustand zu erhalten, dienen keinem anderen Zweck, als das englische Publikum und die Welt auf den Augenblick vorzubereiten, wo die wichtigste Verfügung im Testament Peters des Großen – die Eroberung des Bosporus – zur vollendeten Tatsache wird.
„Daily News“, das Organ der Liberalen, vertritt den entgegengesetzten Standpunkt. Die „Times“ gewinnt der Frage zum wenigsten eine neue und zutreffende Seite ab, um sie allerdings hinterher zu eigennützigen Zwecken zu verdrehen. Der gesunde Menschenverstand aber, der in den Spalten der liberalen Zeitung herrscht, ist jedoch nur von recht hausbackener Art. Die „Daily News“ sieht nicht über ihre eigene Nasenspitze hinaus. Sie ist sich klar darüber, daß eine Zerstücklung der Türkei unter den jetzigen Verhältnissen die Russen nach Konstantinopel führen müsse und daß dies ein großes Unglück für England wäre; daß dadurch der Weltfriede bedroht, der Handel im Schwarzen Meer ruiniert wäre und daß neue Verstärkungen der Stützpunkte und der Flotte Englands im Mittelmeer notwendig würden. Infolgedessen bemüht sich die „Daily News“, beim englischen Publikum Furcht und Empörung hervorzurufen. Ist nicht die Teilung der Türkei ein ebenso großes Verbrechen wie die Teilung Polens? Haben nicht die Christen in der Türkei mehr religiöse Freiheit als in Österreich und Rußland? Ist nicht die türkische Regierung eine milde, väterliche Regierung, unter deren Zepter die verschiedenen Nationen, Konfessionen und lokalen Vereinigungen ungestört ihren Angelegenheiten nachgehen können? Ist nicht die Türkei ein Paradies im Vergleich zu Österreich und Rußland? Besteht dort nicht Sicherheit für Leben und Eigentum? Und ist der englische Handel mit der Türkei nicht größer als der mit Rußland und Österreich zusammengenommen, und wächst er nicht von Jahr zu Jahr? Und so fort in wahren Dithyramben, soweit die „Daily News“ dithyramhisch sein kann, und in Apotheosen der Türkei, der Türken und alles Türkischen, die den meisten ihrer Leser ganz unbegreiflich erscheinen müssen.
Den Schlüssel zu diesem seltsamen Enthusiasmus für die Türken findet man in den Werken des Herrn David Urquhart, Mitglied des Parlaments. Dieser Gentleman schottischer Abkunft, voll mittelalterlicher und patriarchalischer Erinnerungen an seine Heimat, doch mit der modernen Erziehung eines zivilisierten Engländers, gelangte, nachdem er drei Jahre in Griechenland gegen die Türken gekämpft hatte, in die Türkei und wurde dort sogleich zu einem ihrer glühendsten Verehrer. Der romantische Hochländer fühlte sich in den Bergschluchten des Pindus und Balkan ganz zu Hause. Seine Werke über die Türkei, obgleich voll wertvoller Informationen, kann man in drei Paradoxe zusammenfassen, die fast wörtlich folgendermaßen lauten: Erstens, wäre Herr Urquhart nicht britischer Untertan, so möchte er gewiß mit Vorliebe Türke sein; zweitens, wäre er nicht presbyterianischer Kalvinist, so möchte er keiner anderen Religion als dem Islam angehören; und drittens, England und die Türkei sind die beiden einzigen Länder der Welt, die sich der Selbstverwaltung und bürgerlicher und religiöser Freiheit erfreuen. Dieser selbe Urquhart ist nun seither die große Autorität in Orientfragen für alle englischen Liberalen geworden, die gegen Palmerston sind, und er ist es auch, der die „Daily News“ mit dem Material zu ihren Lobgesängen auf die Türkei versorgt.
Das einzige Argument dieser Seite der Frage, das Beachtung verdient, ist folgendes: „Es heißt immer, die Türkei ist im Verfall, worin zeigt sich aber dieser Verfall? Verbreitet sich nicht die Zivilisation, dehnt sich nicht der Handel rapid in der Türkei aus? Wo ihr nichts als Verfall seht, da zeigen uns die Statistiken nur Fortschritt.“ Es wäre nun aber sehr trügerisch, den zunehmenden Handel am Schwarzen Meer einzig und allein der Türkei aufs Konto zu setzen, und doch geschieht das hier genauso, wie wenn man die kommerzielle und industrielle Leistungsfähigkeit Hollands, der Zufahrtstraße zu dem größten Teil Deutschlands, nach seinem Bruttoexport und -import berechnen würde, die zu neun Zehnteln bloßen Transitverkehr darstellen. Und doch, was jeder Statistiker in bezug auf Holland sofort als eine plumpe Fälschung behandeln würde, das versucht in bezug auf die Türkei die gesamte liberale Presse Englands einschließlich des gelehrten „Economist“ der leichtgläubigen Öffentlichkeit einzureden. Und wer sind die Kaufleute in der Türkei? Die Türken sicher nicht. Als sie noch im ursprünglichen nomadischen Zustand lebten, bestand ihre Art, Handel zu treiben, in der Plünderung von Karawanen; jetzt, wo sie etwas zivilisierter sind, besteht sie in allen möglichen willkürlichen und drückenden Besteuerungen. Die Griechen, die Armenier, die Slawen und die Franken, die in den großen Seehäfen etabliert sind, haben den ganzen Handel in Händen und haben sicherlich keine Ursache, sich bei den türkischen Beis und Paschas dafür zu bedanken, daß ihnen das ermöglicht wird. Man entferne alle Türken aus Europa, der Handel wird nicht darunter leiden. Und der Fortschritt in der allgemeinen Zivilisation? Wer verbreitet ihn in allen Teilen der europäischen Türkei? Nicht die Türken, denn sie sind gering an Zahl und im Lande zerstreut, und man kann schwerlich sagen, daß sie anderswo seßhaft sind als in Konstantinopel und in zwei oder drei kleinen ländlichen Distrikten. Es ist die griechische und slawische Bourgeoisie in allen Städten und Handelsplätzen, die die wahre Stütze jeglicher Zivilisation ist, die ernsthaft in das Land eingeführt wird. Dieser Teil der Bevölkerung wächst denn auch ständig an Reichtum und Einfluß, und die Türken werden mehr und mehr in den Hintergrund gedrängt. Besäßen sie nicht das Monopol auf die Staats- und Militärgewalt, so würden sie bald verschwinden. Dieses Monopol ist aber für die Zukunft unmöglich geworden, und ihre Macht wird zur Ohnmacht werden, ausgenommen in solchen Fällen, wo sie ein Hindernis für den Fortschritt bilden wird. Tatsache ist, daß man mit ihnen aufräumen muß. Jedoch behaupten, daß das nur geschehen kann, wenn man Russen oder Österreicher an ihre Stelle setzt, heißt zugleich die Behauptung aufstellen, daß der jetzige politische Zustand Europas ewig andauern müsse. Wer vermag eine solche Behauptung aufzustellen?
„New-York Daily Tribune“ Nr. 3746 vom 19. April 1853, Leitartikel

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