Die „Via Crucis“ in der postmodernen Kathedrale – Robert Wilson inszeniert Liszts kühnes Oratorium beim „pèlerinages“ Kunstfest Weimar

Franz Liszt und Robert Wilson. Was für ein Paar. Musikalischer Avantgardist des 19. Jahrhunderts meets Regie-Ikone der Postmoderne. Was die beiden Genies über die Jahrhunderte hinweg miteinander auszumachen haben, sollte das „pèlerinages“ Kunstfest Weimar nun zeigen. Robert Wilson, bekannt für seine experimentelle Bühnenkunst, hatte sich ausgerechnet eines der experimentellsten Sakralstücke Liszts zur Inszenierung vorgenommen: die „Via Crucis“.

Das „pèlerinages“ Kunstfest Weimar 2012: Hommage an den sakralen Liszt

Unter Leitung seiner Ururenkelin, Nike Wagner, würdigt das Weimarer Kunstfest seit 2004 alljährlich Franz Liszt (1811-1886). Traditionspflege und Experimentierfreudigkeit halten sich hier die Waage. Das Motto „Anrufung“ rückt in diesem Spätsommer die religiös-spirituelle Seite Liszts in den Mittelpunkt.
Ohne seinen Katholizismus ist Liszt in der Tat nicht denkbar. Denn er war nicht nur der ekstatisch gefeierte Virtuose an der Tastatur, der mal eben die bis dato existierenden Grenzen der Spieltechnik und Klangfülle seines Instruments sprengte. Nicht nur der visionäre Erfinder neuer säkularer Kompositionsformen. Nicht nur Genussmensch, Salonlöwe und Ästhet. Sondern auch zeitlebens tiefgläubig: „Mein Hang zum Katholizismus rührt von meiner Kindheit her und ist ein bleibendes und mich beherrschendes Gefühl geworden“, schrieb er 1863 in einem Brief.
Mehr noch: Im Jahre 1865 empfing Liszt die vier „Niederen Weihen“ – eine bis zur Neuordnung durch Papst Paul VI. im Jahr 1972 bestehende Vorstufe zur Priesterschaft – und ließ sich fortan „Abbé“ nennen. Auch auf dem Gebiet der geistlichen Musik wurde Liszt zum Avantgardisten und schuf ab 1870 ganz neue Formen sakraler Tonkunst. Gefälligkeit – man hatte ihm vorgeworfen „Wagner in die Kirche tragen zu wollen“ – wich Askese. Kargheit dominierte nun. Die Musik erscheint sphärisch, schwebend und sprengt bisweilen die Grenzen der bis dato bekannten Harmonik, sticht in die Atonalität und damit weit hinein ins 20. Jahrhundert vor.

Die „Via Crucis“ – Listzs avantgardistisches Meisterwerk

Die 1878/79 fertig gestellte „Via Crucis“ ist für Nike Wagner eine „kühne Mischung von Gregorianik, protestantischen Chorälen, Worten von Pilatus und Jesus, und einer Musik, die „das Verschwinden“ auf so sparsame, bewegende Weise darstellt“. Alles auf der Basis eines das Stück durchziehenden asketischen Grundtons, hinter dessen spieltechnischer Simplizität eine komplizierte und raffinierte Harmonik steckt. Ernst Burger nennt das Werk in seinem grandiosen, 2010 erschienenen Band „Franz Liszt. Die Jahre in Rom und Tivoli“ „die erschütternd expressive Via Crucis“, die „in ihrer rücksichtslos dissonanten, lapidar-herben Diktion jede Konvention hinter sich“ lässt.
Als Inspiration für die Komposition dienten Liszt Zeichnungen des Nazareners Johann Friedrich Overbeck. Er selbst imaginierte eine Aufführung im Colosseum in Rom. Was also liegt näher, als die „Via Crucis“ durch Robert Wilson ganz neu erschließen zu lassen, jenem Wilson, der – so die Ankündigung – „die Zusammenhänge von Bühnenbild, Licht, Kostüm und Bewegung auf seine wundersame, stets rätselhafte Art neu definiert“? Die notwendige Ehrfurcht vor der Thematik hat Wilson bereits vor der Premiere zum Ausdruck gebracht: „Religion does not belong on stage“, war von ihm zu hören.
Deshalb: keine Bühne, keine Akteure. Stattdessen: nur Licht, nur Farben. Und Raum für ein subjektives Erlebnis, denn Wilson fordert vom Zuschauer „eine sinnliche Form der Annäherung über eigene, ganz persönliche Assoziationen zu den Bilderfluten“, wie Stefanie Fuchs in ihrem 2011 publizierten Werk „„Alles Begann mit Bildern und Rhythmen…“. Visualität und Theaterraum in Robert Wilsons Theaterästhetik“ erklärt.

Der Weg durch die „Ephiphaneia“

Vor dem Eintritt in das sakrale Licht- und Klangwunder ist der aus 250 Wassertanks bestehende Pavillion „Ephiphaneia“ zu durchschreiten. 30 Minuten lang zeigen hier Studierende der Bauhaus-Universität Weimar und junge Künstler des Watermill Centers New York an 16 Stationen Werke, die sich an das Sujet der Via Crucis anlehnen, darunter Installationen, Darstellungen und Filme. Sehr laut ist es. Nun ist klar, warum vorab Ohrstöpsel ausgeteilt wurden. Alle paar Minuten erschallt eine dröhnende Sirene. Man kämpft sich durch das zerknüllte Zeitungspapier auf dem Fußboden. Geht an einer Frau auf einem Stuhl mit starrem Blick vorbei, die einem Handfeger und Klebeband entgegenhält. Und passiert am Ende des Rundgangs eine menschliche iPhone-Siri.

Dunkelheit, Stille: Der Eintritt in die postmoderne Kathedrale

Dann öffnet sich das Tor zu der von innen schwarz verkleideten Viehauktionshalle. Es geht hinein in die fahle Halbdunkelheit, in die dämmernde Nacht, in die Stille. Abrupte Entschleunigung. Oben sichtbar: das spitzwinklige Giebeldach mit seinem Holzbalkenskelett. Eine postmoderne Kathedrale. Auf dem dunkelgrauen Splitt sind 199 spartanische Drehschemel für das Publikum angeordnet.
Dann Dunkelheit. Und mit einem Mal, inmitten der Stille, erhebt sich, erklingt, erstrahlt der gregorianische Hymnus der Einleitung, getragen von mächtigen Akkorden der voluminösen Orgel: „Vexila regis roderunt, fulget rucis mysterium, qua vita mortem pertulit et morte vitam protulit“ (Des Königs Fahne schwebt empor, es glänzt das heilige Kreuz hervor, an dem den Tod das Leben starb, und Leben durch den Tod erwarb). Liszt stellt der Leidensgeschichte Jesu also das Banner des Auferstandenen voran. Und bereits jetzt ahnt man: dies ist eine der besten und zugleich innovativsten Einspielungen der „Via Crucis“.
Anstelle der reinen Orgel- oder Klavierfassung, die Liszt anfertigte, erklingt eine Fusion beider Varianten mit Silvius von Kessel an der Orgel und Christoph Keller am Klavier. Eingespielt wurde die Aufnahme mit dem Kammerchor der Hochschule für Musik FRANZ LISZT Weimar unter der Leitung von Jürgen Puschbeck in der Erfurter Lutherkirche und im Erfurter Dom. In der Viehauktionshalle wird daraus ein dreidimensionales Klangwunder. Zu verdanken ist dies 120 Lautsprechern und einer ausgefeilten Soundsoftware des Erfurter Unternehmens „Iosono“.

Orangefarbene Lichtabstraktionen

Mit dem Ausklingen der Einleitung beginnt die Lichtkunst Wilsons. Spärlich zunächst. Und gänzlich abstrakt. Also ganz unnaturalistisch und damit ganz Wilson. An den schmalen Wänden der rechteckigen Viehauktionshalle erscheinen während der ersten Stationen der „Via Crucis“ nach und nach kreisrunde Scheinwerfer in einem warmen Orangeton. Sie leuchten auf und verglimmen, leuchten stärker auf und verglimmen. Ein visuelles Crescendo, das sodann auf die Längsseiten der Halle übergreift. Dort geht ein ebenfalls orangener, durch die Lichttechnik sphärenhaft verdoppelter Sternenhimmel auf, der später von gleichfarbigen Neonröhren abgelöst wird.

Gegensätze: „O Haupt voll Blut und Wunden“ und „Jesus cadit

Sphärisch-kühle Takte zu Beginn der 6. Station der „Via Crucis“ münden in die erste Strophe eines der schönsten Choräle der Kirchengeschichte: „O Haupt voll Blut und Wunden“. Auf einer Leinwand an einer der kurzen Seiten der Halle erscheint dazu ein blau-irisierendes Lichtspiel, in das sich immer größer werdende orange Ovale einmischen. Schön. Berührend. Warm.
Im abrupten Gegensatz dazu: die nächste Station („Jesus fällt zum 2. Mal“): Hart und kalt erklingt das „Jesus cadit“ des Chores, das sodann in das Lamento „Stabat mater dolorosa“ übergeht. Es ist nun wieder nachtdunkel. Nur an den Seitenwänden erscheint jeweils in der Mitte ein einzelner, diagonaler Strahl von weißen Neonröhren. Man spürt Kälte, Einsamkeit, Tod. Die kurzen Momente der Stille zwischen jeder einzelnen Station verschärfen die Gegensätze. Herausragend! Und so klar artikuliert hat man die Vokalteile des Stücks selten gehört. Auch stimmlich erklimmen der Chor, die Mezzosopranistin Jie Zhang und der Bariton Edwin Crossley-Mercer Gipfel der Intensität.

Das dramatische „Crucifige“ und anschließender Tod Jesu am Kreuz

In den Folgestationen erscheinen auf den beiden gegenüberliegenden kurzen Seiten der dunklen Halle horizontale und vertikale Rechtecke. Hinweise auf das Kreuz Jesu? Die Farben changieren in kühlen Tönen: blutrot, magenta, lila, stahlblau und grau. Dann der sicherlich dramatischste von vielen Höhepunkten: „Crucifige!“ erschallt es in voller Lautstärke in der 11. Station („Jesus wird ans Kreuz geschlagen“). Blitzartig erscheinen gleichzeitig an allen vier Wänden die schon bekannten Neonröhren und eine Art weit ziselierte, zugleich dichte Aderstruktur, die sich zum harten, aufwühlendem Rhythmus der Orgel zitternd bewegt.
Dann der Wechsel: das sich anschließende Lamento des qualvollen Kreuzestods in der 12. Station („Jesus stirbt am Kreuz“): „Eli, eli, lamma Sabacthani?“ (Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen?). Hier verlässt Wilson den Pfad der Abstraktion. An den Längsseiten leuchten inmitten der Dunkelheit jeweils zwei identische strahlend weiße Hirsche auf, wiederum durch die Lichttechnik visuell in den Raum hinein verdoppelt. Noch scheint das Tier in voller Lebenskraft zu stehen. Aber der Pfeil steckt schon in der Seite des Rumpfs. Die Wunde klafft. Und dann schließen sich die Augen, senkt sich der Kopf herab. Dazu erklingt mit „O Traurigkeit, O Herzeleid“ einer der berührendsten Passionsgesänge der Christenheit.
Ist diese Kombination aus Bild und Klang Kitsch? Nein. Der Kreuzestod wird gerade mit dieser Durchbrechung des Abstrakten hervorgehoben. Am Ende dieser Station fällt die Leinwand zu Boden. Eine Reminiszenz an das Zerreißen des Vorhangs im Tempel nach Jesu Tod. Danach kehrt Wilson zur Abstraktion zurück. Der Applaus am Ende? Fast spärlich. Aber alles andere wäre mitten hinein in diese sakrale Intensität auch merkwürdig. Das Rauschhafte des Erlebten wirkt nach. Viele stehen noch ganz im Bann der „Via Crucis“.
„Wahrnehmen und Bedeuten sind in seinem Theater als zwei separate Vorgänge zu begreifen, die nicht zeitgleich stattfinden“, schreibt wiederum Stefanie Fuchs über Wilson und schließt mit einem Verweis auf ein Zitat Christel Weilers an: „Dies verweist auf „das Bedürfnis nach gedanklicher Verarbeitung durch Erinnerung und Reflexion.““ Für die grandiose Weimarer „Via Crucis“ gilt dies voll und ganz. Sie wirkt nach.

Quelle: http://www.freundederkuenste.de/aktuelles/reden-ist-silber/meinung/die-via-crucis-in-der-postmodernen-kathedrale-robert-wilson-inszeniert-liszts-kuehnes-oratorium-beim-pelerinages-kunstfest-weimar.html

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Über Bednarz Liane 15 Artikel
Dr. Liane Bednarz studierte Rechtswissenschaften in Passau, Genf und Heidelberg. Sie wurde zum Dr. iur 2005 promoviert. Bednarz war Stipendiatin der Konrad-Adenauer-Stiftung und schrieb u.a. für die "Westfalenpost Schwelm." Liane Bednarz wohnt in München.

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