Die Welt gerät aus den Fugen

Auch weiterhin beherrschen Gewalttaten, die im Namen der Religion begangen werden, die internationalen Nachrichtenmedien. Es drängt sich der Eindruck auf, dass religiös motivierter Terror nicht nur weitverbreitet ist, sondern auch zunimmt. Der vom katholischen Hilfswerk „Kirche in Not“ jetzt veröffentlichte Bericht „Religious Freedom Report 2014“ bestätigt leider, dass diese Einschätzung richtig ist.
Obwohl sich die internationalen Nachrichtenmedien in ihren Schlagzeilen auf Gewalt und Grausamkeit im Zusammenhang mit religiösem Extremismus konzentrieren, findet anschließend selten eine Analyse der möglichen Auswirkungen und Folgen dieser Gewaltakte statt. Die Medien berichten in der Regel auch nicht über die religiösen Wurzeln dieser Konflikte, was zumindest eine Basis für ein besseres Verständnis liefern könnte. So müssen die Leser, Zuschauer und Zuhörer den Eindruck gewinnen, dass die berichteten Ereignisse zufällige Akte der Grausamkeit sind, die von geistesgestörten Bewaffneten begangen werden. Im Westen setzt sich immer mehr die Sicht durch, dass Religion nicht etwa das Beste im Menschen hervorbringt, sondern seine schlimmsten Seiten.
In direktem Zusammenhang mit religiös motivierter Gewalt steht ein Rückgang der religiösen Toleranz, des religiösen Pluralismus und des Rechts auf religiöse Selbstbestimmung. Zwar ist das Recht auf Religionsfreiheit in Artikel 18 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte verankert, doch ist es nahezu überall bedroht. Auch wenn er schwer zu quantifizieren ist, so ist der Trend weg vom religiösen Pluralismus, vor allem in den Entwicklungsländern, in diesem Bericht eindeutig dokumentiert.
Im Nahen und Mittleren Osten zeigt sich zunehmend das Phänomen des monoreligiösen Staates. Wo einst verschiedene christliche und muslimische Gruppen jahrhundertelang zusammenlebten, nimmt heute die Tendenz zu, dass die dominante religiöse Gruppe auf eine allgemeine Konformität der religiösen Praxis dringt, häufig durch die Durchsetzung des Scharia-Rechts oder durch Ins-trumente wie ein „Blasphemiegesetz“.
Die Entstehung des Islamischen Staates ist dafür das deutlichste Beispiel. Im Juli 2014 vertrieben die Dschihadisten alle Glaubensgemeinschaften einschließlich der nicht sunnitischen Muslime aus Mossul, der Stadt im nördlichen Irak, die sie einen Monat zuvor eingenommen hatten. Den Christen blieb nur die Wahl zwischen dem Übertritt zum Islam und der Flucht. Ihnen wurde ein Ultimatum gestellt und der Islamische Staat erklärte, falls sie sich nicht daran halten würden, „wird es für sie nichts als das Schwert geben“. In kürzester Zeit verschwanden die Christen in einer Stadt, in der bis vor kurzem dreißigtausend von ihnen gelebt hatten, und zum ersten Mal nach sechzehnhundert Jahren gab es dort auch keine Sonntagsgottesdienste mehr.
Es zeigt sich, dass Extremismus und Verfolgungen dieser Art maßgebliche Faktoren für das wachsende Phänomen der Massenmigration sind. Seit vielen Jahren schwinden im Nahen und Mittleren Osten die religiösen Minderheiten, doch im Berichtszeitraum hat sich eine bereits bestehende humanitäre Krise plötzlich und dramatisch verschlimmert. Zum Beispiel ging die Zahl der Christen in Syrien von 1,75 Millionen Anfang 2011 auf vermutlich knapp 1,2 Millionen im Sommer 2014 zurück – ein Rückgang von über dreißig Prozent in drei Jahren.
Im Irak geht die Zahl sogar noch drastischer zurück. Religion war zunächst offensichtlich nicht der einzige Grund für die Vertreibung von Menschen aus ihrem Heimatland – ausschlaggebend dafür waren in erster Linie wirtschaftliche Faktoren und die allgemeine Sicherheitslage –, aber dennoch entwickelte sich religiöser Hass eindeutig immer mehr zur treibenden Kraft bei den wachsenden Flüchtlingszahlen. Infolgedessen besteht ein Zusammenhang zwischen dem Anstieg der Migration aufgrund religiöser Verfolgung und der Meldung des Flüchtlingswerks der Vereinten Nationen (UNHCR) vom Juni, dass die Zahl der Vertriebenen und Flüchtlinge weltweit erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg über fünfzig Millionen liegt. Die Schaffung theokratischer oder monoreligiöser Staaten hat nicht nur tiefgreifende Auswirkungen auf diejenigen Länder, in denen dies umgesetzt wird, sondern auch auf die westlichen Demokratien.
Viele vertriebene Mitglieder religiöser Gemeinschaften suchen Zuflucht im Westen, was eine ganze Reihe von sozialen und wirtschaftlichen Herausforderungen mit sich bringt. Es liegt eine gewisse Ironie darin, dass der religiöse Pluralismus in Gebieten im Nahen Osten abnimmt, westliche Demokratien dagegen, die historisch überwiegend christlich und selbst weitgehend monoreligiös sind, nun lernen müssen, mit religiösem Pluralismus zu leben – oft zum ersten Mal.
Das Aufkommen der sozialen Medien hat dazu geführt, dass Fundamentalismus und religiöser Hass weit über geografische Grenzen hinaus spürbar sind. Der durch Facebook, Twitter, Chatrooms und andere soziale Medien verbreitete Extremismus führt dazu, dass religiöser Hass, der in einem weit entfernten Land gepredigt wird, schnell auch lokale Bedeutung gewinnt. Das zeigt sich am deutlichsten daran, dass im Westen Kämpfer für die Konflikte im Nahen Osten rekrutiert werden. In den westlichen Medien steht zunehmend die Sorge über die wachsende Bedrohung des Westens durch die zurückkehrende „Generation Dschihad“ im Vordergrund. Sporadische Anschläge, die von radikalisierten Personen auf bestimmte religiöse Gemeinschaften im Westen verübt werden – wobei die sozialen Medien oft eine wichtige Rolle spielen –, bestätigen, dass diese Bedrohung tatsächlich bereits existiert.
Im Allgemeinen ist das Maß der religiösen Unterdrückung in westlichen Demokratien weiterhin gering. Dennoch gibt es, wie dieser Bericht dokumentiert, wirklich beunruhigende Tendenzen. Eine dieser Entwicklungen ist besonders hervorzuheben: Während die öffentliche Meinung im Westen zunehmend und zu Recht Diskriminierung aufgrund der Rasse, des Geschlechts und der sexuellen Orientierung als unannehmbar betrachtet, nimmt gleichzeitig der Konsens über die Gewissensfreiheit von Gläubigen ab.
Insbesondere im Hinblick auf Themen wie konfessionelle Schulen, gleichgeschlechtliche Ehe und Euthanasie besteht ein zunehmender Konflikt zwischen traditionellen religiösen Auffassungen und dem „progressiven“ liberalen Konsens. Während die herrschende Meinung anerkennt, dass Gläubige zumindest die Freiheit haben sollten, ihren Glauben privat zu praktizieren, besteht immer weniger Einigkeit darüber, in welchem Maß dieser Glaube in der Gesamtgesellschaft sichtbar werden darf.
Die Folge ist eine immer deutlichere Tendenz dahin, dass die Rechte einiger Gruppen die Rechte anderer Gruppen in den Hintergrund drängen. In der Praxis bedeutet diese „Hierarchie der Rechte“, dass dort, wo die Rechte von Homosexuellen oder Menschen, die eine Gleichstellung der Geschlechter fordern, mit der Gewissensfreiheit von Gläubigen kollidieren, die erstgenannten Gruppen in der Regel Vorrang haben. Im Vereinigten Königreich wurden zum Beispiel katholische Adoptionsagenturen, die sich weigern, Kinder an homosexuelle Paare zu vermitteln, gezwungen, ihre Regeln zu ändern oder zu schließen. In ganz Westeuropa finden sich weitere zahllose Beispiele für diese Tendenz.
Eine Erklärung, warum Intoleranz und religiöse Gewalt zunehmen, würde den Rahmen dieses Berichts sprengen. Spätere Historiker werden zweifellos die Gründe ausmachen. Wir können hier nur einige der heute gängigeren Erklärungen wiedergeben.
Eine dieser Theorien handelt von der Frustration, die daher rührt, dass sich die islamische Welt in den letzten Jahrhunderten nicht so schnell wie der Westen entwickelt hat. Das hat zur Folge, dass einige Muslime für die Wiederherstellung des „Goldenen Zeitalters“ des Kalifats kämpfen, in dem der Islam als Sieger galt.
Eine andere Überlegung geht dahin, dass Globalisierung und Multikulturalismus keineswegs größere Toleranz hervorbringen, sondern vielmehr dazu führen, dass sich religiöse und ethnische Gruppen bedroht fühlen und sich daher in eine intolerante „Bunkermentalität“ zurückziehen.
Eine dritte Erklärung lautet, dass die westliche Demokratie – einst so bewundert und nachgeahmt – nicht länger automatisch als bevorzugtes Modell für Entwicklungsländer gilt. Wenn Abtreibung, Empfängnisverhütung, Schamlosigkeit, das Auseinanderbrechen von Familien, gleichgeschlechtliche Ehen sowie eine enorme nationale und persönliche Verschuldung die Folgen des westlichen Liberalismus sind, dann – so die Argumentation – möchten traditionell gesinnte religiöse Gruppen nichts damit zu tun haben.
Der Bericht bestätigt frühere Untersuchungen, nach denen Christen die bei weitem am meisten verfolgte Glaubensgemeinschaft sind. Dass so häufig Christen einer Unterdrückung ausgesetzt sind, steht in direktem Zusammenhang damit, dass sie seit jeher weit verstreut sind und oftmals in Kulturen leben, die sich sehr von ihrer eigenen unterscheiden. In vielen Ländern, in denen Christen seit Generationen oder gar Jahrhunderten zu Hause sind, kommt es heute zu extremistischen Entwicklungen. In fast jedem der von uns ermittelten zwanzig Länder mit hohen Einschränkungen der Religionsfreiheit sind auch muslimische Minderheiten schrecklicher und systematischer Verfolgung ausgesetzt. Allerdings ist festzustellen, dass diese in den meisten Fällen durch andere Muslime geschieht. Die zunehmenden Spannungen zwischen Schiiten und Sunniten sind ein wiederkehrendes Thema dieses Berichts.
Jüdische Gemeinschaften, vor allem in einigen Teilen Westeuropas, waren ebenfalls von einer Zunahme von Bedrohung und Gewalt betroffen, was Rekordzahlen bei der Auswanderung nach Israel zur Folge hatte.
Im Juli 2014 konstatierte der frühere britische Oberrabbiner Jonathan Sacks im britischen Parlament einen Rückgang der Religionsfreiheit, von dem jüdische, christliche und andere Gemeinschaften betroffen sind. Wie er sagte, führt „ein neuer Tribalismus“ dazu, dass „die Religion dazu benutzt wird, die nackte Machtgier mit der Aura der Heiligkeit zu tarnen und zu legitimieren“, und er fügte hinzu: „Gott selbst weint über die bösen Taten, die in seinem Namen begangen werden.“

(c)-Vermerk VATICAN-Magazin: 12/2014

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