Ein Blick auf Beuys

Dieses Jahr erschien im Aufbau-Verlag Hans Peter Riegels dickleibiger Wälzer „Beuys. DieBiographie“. Dem gut recherchierten Buch haftet leider der Makel an, dem Künstler die Maske vom Gesicht reißen zu wollen. Er soll einfach auf Teufel komm raus „entzaubert“ werden und das raubt dem Werk die sympathische Wärme, ohne die eine Biografie schal bleibt. Man merkt die Absicht und man ist verstimmt. Dass Beuys seinen eigenen Lebenslauf mystifiziert hat, war schon bekannt; er ist wahrlich nicht der einzige Künstler, der das tat. Riegel deckt hier noch weitere Einzelheiten auf, was verdienstvoll ist, mehr aber nicht. Das trifft auch für die vielen problematischen Äußerungen zu, die Beuys bei verschiedenen Gelegenheiten von sich gab und Riegel sammelt – wenn Künstler Politiker sein wollen, kann das immer zu Peinlichkeiten führen. Na und? Natürlich kann Beuys´ messianische Attitüde mit dem Einfluß Rudolf Steiners und Kameradentreffen, denen sich der Künstler nicht verweigert hat, vermengt werden zu einer Art Naziportrait – es bleibt dennoch schief. Beuys war Kind seiner Zeit – aber eben nicht nur. Es ist gut und nützlich, die prosaischen Tatsachen zu kennen, doch was bei einem Künstler letztlich zählt, ist das Werk. Riegels Biografie setzt mit ihrer Faktendichte neue Maßstäbe für ihren Gegenstand, der aufklärerische, und sagen wir es offen: linke Furor jedoch führt beim Leser zu gemischten Gefühlen. Wenn das Buch aber dazu führt, sich dem Werk des Künstlers mit einem frischen Blick zuzuwenden, hat es seinen Zweck erreicht.

Am 16. Januar 2011 ist in Düsseldorf die große Ausstellung „Parallelprozesse“ zum Gesamtwerk von Joseph Beuys zuende gegangen; nur sieben Tage später war es 25 Jahre her, dass dieser überragende deutsche Künstler verstorben ist. Man merkt nicht immer, wie lange das Jahr 1986 her ist, aber bei Beuys hat man sofort das Gefühl, dass ein Vierteljahrhundert eine sehr lange Zeit ist. Meistens bedeutet dieses Gefühl nichts Gutes: Etwas oder jemand ist veraltet, irrelevant geworden. Schon Beuys’ berüchtigtes Outfit (der Hut!), die endlosen verqueren politischen Diskussionen, das irgendwo naiv anrührende Pflanzen von Eichen und Gießen von Friedenshasen, das Reden von der „sozialen Plastik“ und davon, dass „jeder Mensch ein Künstler“ sei, als Ausdruck einer zumindest missverständlichen Auffassung von Kunst und Demokratie muten heute tatsächlich wie aus einer fernen Zeit auf uns gekommen an.

Aber ein Gang durch die großartige Ausstellung in der Kunstsammlung am Grabbeplatz ließ den aufmerksamen Betrachter nachdenklich werden. Ist es nicht eher so, dass Vieles, ja das Meiste des Beuys’schen Werks erst jetzt so langsam richtig ins Bewusstsein kommt? Er war ja ab den 1960er Jahren bis zu seinem Tode berühmt, aber war er es aus den richtigen Gründen? Jede Zeit mag zwar ihre eigenen Gründe haben, jemanden und sein Werk zu schätzen, aber gibt es nicht auch großartige oder tragische Missverständnisse? Dass er nicht der bloße Provokateur war, als der er vielen galt, wurde zwar von Verständigen früh erkannt, aber es könnte sein, dass der gefühlte große Abstand zu seinem Werk am Veralten so vieler Eigenarten und Ideale des sozialdemokratischen Zeitalters (1966-1982) liegt und nicht am Werk selbst, dessen Bedeutung zusammen mit den Intentionen des Künstlers erst jetzt auf ein freieres Denken trifft, das es nun wirklich in seinem Kern wahrnimmt.

Im ersten Raum der Klee Halle traf der Besucher sogleich auf einen emblematisch in seiner Hässlichkeit und Rohheit verstörenden, auf einem Dreifuß wie eine Parodie auf ein Standbild aufragenden Frauentorso, der die Vergänglichkeit thematisiert, dem in einem Seitenraum umso überraschender ein wunderschöner ebenmäßiger kleiner Bronzetorso ebenfalls aus den 1940er Jahren kontrastierte. „Nach dem Tode, was hat da Gültigkeit?“, fragt der mehrfach verwundete ehemalige Sturzkampfflieger Beuys. Der zur Schaffung fast klassischer Schönheit fähige Bildhauer entsagt diesen als zu einfach empfundenen Antworten und sucht in Richtung einer „befremdlichen“ Art der Darstellung weiter, wie der Kunsthistoriker Gottfried Boehm formuliert. Im Krieg wollte Beuys „das Risiko und trotzdem überleben“, nun wollte er „etwas machen, was eine radikale Außenposition darstellt, und trotzdem siegen, sich durchsetzen mit einer Sache, wo man meint, man hätte die richtige Entscheidung getroffen.“ Selten sind darum die Werke, die noch direkte Assoziationen an bekannte Kunst ermöglichen: so das an altägyptische Skulpturen erinnernde Paar, zwei liegende Figuren von merkwürdiger Unfertigkeit, aus Gips und Wachs geformt und in einer Metall-Glas-Vitrine ausgestellt. Auch diese Arbeit scheint den Betrachter assoziativ über Mumien und Grabpyramiden an den Tod, aber auch an ein Weiterleben zu gemahnen.

Meist aber gelingt es der Phantasie Beuys’, eine vollkommen neue Welt zu erschaffen. Dies gilt besonders für seine Zeichnungen, die er selbst als außerordentlich wichtig einschätzte und die (zusammen mit seinen Aquarellen) für fast bedeutender gehalten werden können als seine bildhauerischen Arbeiten. Wohin weisen sie? Die Zeichnungen widersprechen meist allen gängigen Vorstellungen, die an derlei Kunst geknüpft werden. Es dürfte sogar überspitzt zu behaupten sein, dass Beuys da gescheitert ist, wo eine Zeichnung einmal an eine bekannte Form erinnert oder gewohnten Proportionen folgt. Keinerlei konkrete Assoziation ist möglich, kaum ein Anklang: Eine unbekannte, fremde Schönheit bietet sich dar. An Farben fallen Braun und Rot besonders auf, aber die feinen, oft wie hingehaucht wirkenden reinen Bleistiftzeichnungen sind in ihrer ephemeren Qualität spirituelle Zeichen, die an eine Transzendenz, an eine unsichtbare Welt gemahnen. Hier sei auf das Gesicht von Joseph Beuys verwiesen, wie es sich in einer Fotografie Charles Wilps zeigt. Dieses Portrait ohne (!) Hut zeigt ein schönes Antlitz von extremer Sensibilität, von fast durchsichtiger Geistigkeit, wie sie auch den besten Zeichnungen von Beuys innewohnt.

Diesen äußerst subtilen zeichnerischen Arbeiten stehen, als hätte Beuys nur in Extremen denken und arbeiten wollen und können, die monumentalen, ja oft klobigen Plastiken aus Fett, Filz und Stein gegenüber, die Boehm zurecht „barbarisch“ nennt. Natürlich ist das von ihm nur als Beschreibung und nicht als negative Wertung gemeint. Einige aber leben doch vorwiegend von der Idee her (zum Beispiel Fond IV/4, neun rechteckige Filzstapel von knapp einem Meter Höhe, die die Speicherung von, auch sozialer, Wärmeenergie und Absorption von Schall, was ja einer Art von Speicherung entspricht und Lärmschutz darstellt, evozieren sollen), ohne dass sie aus sich selbst heraus den Betrachter ansprechen. Hingegen hat das „Monument für die Zukunft“, die berühmte Straßenbahnhaltestelle, auch ohne jeden Kommentar eine bezwingende Wirkung. Die Schienen fordern zu einer Reise in das Unbekannte auf, die der Betrachter trotz des durch das umgestürzte Denkmal offenkundigen Risikos gerne antritt: Nach vorne! Immer weiter!

Beuys ist ein deutscher Künstler. Dies manchmal in auch nachteilig-bedeutungsschwerer Konsequenz. Mythos und Esoterik sind Stichworte in diesem Zusammenhang; nicht nur Hasenblut und Coyote stehen dafür ein. Aber auch das muss, wie die selten zu sehende Installation Stripes from the house of the shaman beweist, nicht unbedingt problematisch sein: Man sieht in einem weiten Raum eine stark stilisierte Jurte, was vordergründig eine ökologisch-alternative Feier des Schamanismus sein soll, aber eben vor allem auch ein ungeheueres Gefühl von (nicht ausschließlich nomadischer) Freiheit vermittelt. Eine auf den ersten Blick vom tiefsinnigen romantischen Märchen beeinflusste Bronzeplastik, der Bergkönig (Tunnel) 2 Planeten, hat durchaus humorvolle Aspekte wie den vom Körper losgelösten, wie eine Krone geformten Kopf. Überhaupt zeigt Beuys viel Humor, wie man ihn von deutschen Künstlern nicht unbedingt erwartet. Hier denke ich auch an das Environment The pack (Das Rudel), bei dem mit gerollten Filzdecken und Stablampen gesattelte Holzschlitten eine Hundemeute darstellen, ferner das Filz-TV oder das Multiple Jaa Jaa Jaa Jaa Jaa, Nee Nee Nee Nee Nee, bei dem Beuys vom Tonband diese Worte endlos wiederholt und sich damit selbst immer wieder widerspricht. Auch sein Vorschlag, die Berliner Mauer zur Verbesserung der Proportion um 5 cm zu erhöhen, entbehrt nicht des Humors, und es war schön zu sehen, dass in der Düsseldorfer Ausstellung dieser Humor immer wieder erkannt und fröhlich gelacht wurde.

Aber natürlich ist Beuys bei extremer Breite des Ausdrucks (wieder ein Extrem!) ein Künstler von großer Bewusstheit. So wirklich lustig er sein kann, so gedanklich tief ist er auch. Wer in den ersten Raum der Grabbehalle trat, in dem die Arbeit Zeige deine Wunde stand, konnte kaum umhin, erschüttert zu sein – und auch für jemanden, der wie ich diese Installation schon einmal, 1980 im Lenbachhaus, gesehen hat, war sie wie ein Schock. An der linken Seite der Stirnwand stehen zwei rollbare Sezierbahren, vom Gebrauch zerschlissen. Daneben zwei Forken. Noch bevor man die anderen Objekte wahrnimmt, ist man augenblicklich, schlagartig getroffen vom Wissen um die Unausweichlichkeit des Todes. Plötzlich nimmt man etwas wahr, was weder der Künstler geplant haben konnte noch wohl die Kuratoren beabsichtigt hatten: Das Muster auf dem Boden des Raumes zeigt ein Kreuz, das den Boden in ungleiche Rechtecke teilt. Der hohe Raum wird zu einer sakralen Halle. In der Düsseldorfer Ausstellung kam der Besucher danach am berühmten Blitzschlag mit Lichtschein auf Hirsch vorbei in die Installation Palazzo Regale. Der Raum wirkte, vor allem durch die sieben mit Firnis und Goldstaub überzogenen Messingtafeln, wie die Grabkammer einer antiken Hochkultur, die eine heitere, lichte Vorstellung vom Jenseits hatte.

Diese Überwindung des Todes kommt am reinsten in der letzten Arbeit von Beuys zum Ausdruck, der Scala Napoletana, die am Ende der Henkel Galerie aufgestellt worden ist. Der Besucher hatte den Raum zeitpolitisch aufgeladener und darum etwas verblasster Arbeiten wie der Honigpumpe am Arbeitsplatz und den zwei Holzfaserplatten mit der Aufschrift: Dürer, ich führe persönlich Baader + Meinhof durch die Documenta V leicht amüsiert hinter sich gelassen, da wurde er mit dieser minimalistischen Arbeit konfrontiert, die aus einer neunsprossigen, über vier Meter hohen Holzleiter besteht, die durch das Gewicht von zwei Bleikugeln in einer leicht schrägen, aber aufrechten Position gehalten wird, wobei ein dünnes, kaum sichtbares Stahlseil von den Kugeln über die oberste Sprosse gespannt ist. Die Leiter steht da wie schwerelos und ermöglicht magisch den Aufstieg in eine andere Welt. Es ist die Arbeit eines Mannes, der mit dem Gedanken an sein nahes Ende Frieden geschlossen hat.

Spätestens hier wird klar, dass Beuys zwar durchaus auch der ökonomische und soziale Theorien im „erweiterten Kunstbegriff“ ausdeutende Künstler war, als den ihn die politisierten Zeitgenossen sehen wollten, es diese Facette seiner Arbeit sicherlich war, die ihn im sozialdemokratischen Zeitalter berühmt machte, er aber diesen Werkaspekt bei weitem transzendierte. Das Symbol schlechthin dafür ist im Werk von Beuys das Kreuz. Es taucht in seinem gesamten Werk auf, sei es als Wurfkreuz, als Braunkreuz, auf Stempeln oder aus Filz. Oft sehen wir ein halbes oder halbiertes Kreuz, das offensichtlich durch den Betrachter in einem Akt des Nachdenkens und Nachvollziehens zu einem ganzen, zu einem „heilen“ Kreuz ergänzt werden soll. Es ist evident, dass der Katholik Beuys das Kreuz als christliches Symbol sah, auch wenn er aus der Kirche austrat und irgendwann zu einem „catholique maudit“ wurde. Seine Faszination durch Ignatius von Loyola sowie natürlich Jesus Christus, seine Überzeugung, dass die Idee des Menschen untrennbar, nämlich speziell durch die Möglichkeit der Wandlung von Materie in etwas Geistigeres, mit Christus verknüpft sei, zeigen das nur zu deutlich, auch wenn seine Exegeten vor allem damals statt eines Kreuzes am liebsten nur zwei sich überschneidende Balken sahen. An Beuys ist hier übrigens, wie an vielen Ex-Katholiken, beispielsweise Buñuel und Stockhausen, sichtbar, dass das Katholischsein mit Martin Mosebach gesprochen ein Naturzustand ist, den man nicht mit dem Kirchenaustritt ablegt. Nicht umsonst ist ein berührendes Werk mit dem simplen Namen Kreuz die Lieblingsarbeit der Ehefrau Eva Beuys. Zwei gekreuzte dornige Rosenzweige, der senkrechte etwas nach links gebogen, von einem Eisennagel zusammengehalten, waren hoch an der Wand angebracht. Dornenkrone, Kreuzigung und Liebe sind wohl kaum je einfacher und zwingender zusammengebracht worden.

Der christliche Künstler Joseph Beuys wäre wohl nie von der Institution Kirche angenommen worden, auch wenn er sich nicht von ihr abgewandt hätte. Sie hätte ihn leider nicht verstanden. Aber auch die Zeitgenossen, die Atheisten und die Laien, haben ihn missverstanden, sein Ruhm war zu Lebzeiten ein doppeltes Missverständnis: Von den Linken, den Sozialdemokraten, den Grünen, also den angeblich oder tatsächlich Fortschrittlichen wurde er gelobt, obwohl er tief gläubig war und dies in seiner Kunst auch erkennbar zeigte – das konnte nur unter willentlicher Ausblendung, eher jedoch schlichter Unfähigkeit des Erkennens dieses innersten Kerns seiner Arbeit möglich sein. Umgekehrt bekämpften ihn die Rechten, das damalige juste milieu, die angeblich oder tatsächlich Konservativen, obwohl er gläubig war, womit sie ihren eigenen, aber nur routinierten Glauben als echten Unglauben desavouierten. Die Rückkehr des Religiösen, die in den letzten Jahren zumindest in der medialen Diskussion festzustellen ist und die nicht den kleinsten Unterschied zum Zeitgeist der sozialdemokratischen Ära darstellt, hat es ermöglicht, Beuys als christlichen Künstler zu entdecken. Die Düsseldorfer Ausstellung hat das noch etwas verschämt, aber deutlich erkennbar getan. Der neue Blick auf das Werk von Joseph Beuys macht es aber keineswegs weniger sperrig: Es bleibt der Skandal, der das Christentum immer war und immer bleiben wird.

Dieser Beitrag ist die erweiterte Fassung eines im Buch des Verfassers mit dem Titel „Deutsche Befindlichkeiten“ beim Verlag Die Blaue Eule erschienenen Textes.

Über Adorján F. Kovács 36 Artikel
Prof. Dr. mult. Adorján Ferenc Kovács, geboren 1958, hat Medizin, Zahnmedizin und Philosophie in Ulm und Frankfurt am Main studiert. Er hat sich zur regionalen Chemotherapie bei Kopf-Hals-Tumoren für das Fach Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie habilitiert. Seit 2008 ist er für eine Reihe von Zeitschriften publizistisch tätig. Zuletzt erschien das Buch „Deutsche Befindlichkeiten: Eine Umkreisung. Artikel und Essays“.

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