Ein Erklärungsversuch

Am 28. Dezember 1984, einem nasskalten Freitag, wird vor dem CENTRUM-Warenhaus in Dresden der fünf Monate alte, schlafende Felix aus dem davor abgestellten Kinderwagen entführt. Wenige Tage später findet man in den Mittagsstunden des 6. Januar 1985 in einem Hausflur der heutigen Königsstraße ein männliches Kleinkind. Allerdings ist es nicht Felix. Keiner vermisst diesen Jungen. Keiner kennt seinen Namen. Man nennt ihn Martin. Die Kriminalpolizei kann jedoch den Nachweis erbringen, dass Felix und das ausgesetzte Kind einige Tage gemeinsam gelebt haben. Bei Untersuchungen des schätzungsweise ein Jahr alten Kindes, wird zudem festgestellt, dass es in den ersten Lebenswochen einer intensiven medizinischen und Infusionsbehandlung unterzogen worden ist. Alles deutet darauf hin, dass das Findelkind aus der damaligen Sowjetunion stammt. Man wendet sich mit einem Rechtshilfeersuchen an die Militärstaatsanwaltschaft der Gruppe der Sowjetischen Streitkräfte in Deutschland und bittet um Unterstützung bei der Aufklärung der Kindesentführung und Kindesaussetzung. Doch nach einem Jahr wird der Fall vor allem wegen der nicht gerade kooperativ zu nennenden sowjetischen Seite zu den Akten gelegt. War vielleicht sogar ein gewisser Präsident der Russischen Föderation in den Fall verwickelt? Unstrittig ist: Wladimir Putin agierte von 1985 bis zum Zusammenbruch der DDR in einer Außenstelle des KGB und zwar in Dresden…

Aus diesem Stoff hat Thomas Wendrich einen spannenden, irrwitzigen, anspruchsvollen und großartigen Roman gestrickt. Doch er belässt es nicht bei der literarisch-belletristischen Umsetzung dieses bis heute nicht aufgeklärten Verbrechens, sondern der Autor spiegelt die damaligen Geschehnisse in eine ähnliche Konstellation am gleichen Ort, allerding in der Gegenwart. Hier trifft es einen stadtbekannten FDP-Politiker und seine Frau, die in deutsch-weißrussische Verstrickungen geraten, als man ihre Tochter entführt und wenig später ein ausgesetztes, offensichtlich russischsprechendes Mädchen findet. Und um das Verwirrspiel noch etwas anzufeuern, erfindet Wendrich den Ich-Erzähler Johann Stadt, der gemeinsam mit seinem Regisseur M. aus alldem einen cinematesken Plot drehen will. Doch in der Einöde des brandenburgischen Ferienhauses, in das sich die beiden zurückgezogen haben, gerät nicht nur die Story, sondern so langsam aber sicher auch die Psyche und geistige Zurechnungsfähigkeit des Ich-Erzählers außer Kontrolle. Als Bindeglied und ruhender Mittelpol in dem sich zunehmend überschlagenden und absurderen Geschehen agiert Kommissar Alvart, der in beide Fälle „verwickelt“ ist.

Dem „Ringen um die Geschichte, die Worte, die Charaktere“, die Johann Stadt – dem offensichtlichen Alter Ego Thomas Wendrichs – des Öfteren im Buch nahezu verzweifeln lassen, ist dem Roman nichts anzumerken. Der gebürtige Dresdner, der bis dato erfolgreich als Drehbuchautor arbeitete, schreibt in seinem Debütroman eine Story, die nur so vor Ideenreichtum sprüht. Nahezu schwerelos verlagert er den Plot von Dresden nach Weißrussland, streift dabei Görlitz, um sich hernach wieder in der weiten und waldreichen Natur der Uckermark einzupendeln. Doch keine endlos ausufernden Passagen und Sätzen zeichnen seinen Duktus aus, sondern Wendrich beschränkt sich stets auf Wesentliche. Klare Aussagen und kurze, gut lesbare Sätze, lassen trotz diverser Orts- und Zeitenspünge ein gutes Gefühl für den jeweiligen Augenblick entstehen. Der Autor hat ein unglaublich sensibles Händchen aus mehreren Jahren die Skizze eines Augenblicks zu stricken.

Dennoch wird der Leser mehr ums eine Mal gefordert, seine Gedanken schweifen, ja, sie um die Ecke biegen zu lassen. Als aktives Lesen würde ich dies beschreiben wollen. Tut er das nicht, wird er schnell mit der Handlung überfordert sein bzw. wird sie ihm entgleiten. Doch genauso nebulös und diffus wie wir zuweilen den Agierenden dieses Romans begegnen, war auch das Verbrechen aus dem Jahr 1985. Thomas Wendrich hat genau den richtigen Ton dafür getroffen: „Geschichte entsteht doch nur, wenn aus Versehen Licht ins Dunkel fällt, denke ich. Wo es hinfällt, ist Zufall, und wer die Schatten wirft, erst recht. Derjenige der die Lampe hält, um die Vergangenheit auszuleuchten, schreibt Geschichte. Nichts ist Alles. In der Gegenwart und in der Zukunft.“

Fazit: „Es gibt Momente, in denen ich etwas sehe, was für andere nicht existiert. Und da ich es formuliere, erhält es Eingang in die Welt.“ Thomas Wendrich trägt in seinem Romandebüt ein tatsächliches Verbrechen aus der Vergangenheit in die Gegenwart und lässt mit einem enthüllenden Nachwort den Leser mit offenem Mund zurück. Ein Buch über menschliche und geschichtliche Verwicklungen, über Gräben und Verwerfungen. Ein psychologisch feinfühliges Porträt unserer Gesellschaft, skizziert in groben Zügen, aber mit wirkungsvollen Treffern.

Thomas Wendrich
Eine Rose für Putin
Berlin Verlag (Februar 2015)
320 Seiten, Gebunden
ISBN-10: 3827012635
ISBN-13: 978-3827012630
Preis: 19,99 EUR

Über Heike Geilen 597 Artikel
Heike Geilen, geboren 1963, studierte Bauingenieurswesen an der Technischen Universität Cottbus. Sie arbeitet als freie Autorin und Rezensentin für verschiedene Literaturportale. Von ihr ist eine Vielzahl von Rezensionen zu unterschiedlichsten Themen im Internet zu finden.

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