Eine Wirklichkeit, „in der alles im Stillstand verharrt, abgetrennt vom Vorher und abgetrennt vom Nachher“

„Schlechte Nachrichten aus dem Westen: Es herrscht Ruhe rund um die Azoren – Europas Wetterküche ist außer Betrieb. Das Thermometer steigt seit Wochen, die Stimmung sinkt täglich: drückende Hitze lastet auf allen Ländern, die Sonne, sonst als Kraftspender des irdischen Daseins besungen, versengt das Leben, erstickt Hoffnungen, knickt Erwartungen, die Landschaft glüht, rot gelb und braun, der Boden liegt staubig und furztrocken, saftlose Wiesen welken dahin. Ausgemergelt Flussläufe winden sich aufgerissen durch flimmernde Täler, Staubfahnen wehen über knisternde Getreidefelder, erbarmungslos werden die Kulturen gegrillt. Ein dreifaches Tief, Tief, Tief auf die Azoren…“ Dieser Auszug aus einem Artikel der „Weltwoche“ vom 30. Juli 1976 beschreibt sehr prosaisch die als „große Dürre“ bezeichnete Situation Europas. Mit niedrigen Pegelständen und schweren Schäden in Land- und Viehwirtschaft ging sie in die Geschichte ein.

Auch die Felder der Familie Sutter – Roland Butis Protagonisten -, die in der dörflichen Abgeschiedenheit des Schweizer Waadtlandes einen Bauernbetrieb führt, geraten unter der gleißenden Sonne des wolkenlosen Himmels zu verdorren: „Der Wassermangel hatte die Landschaft ausgewrungen, die Natur bis ins Mark ausgelaugt.“ Mehr noch: deren menschliche Existenz gerät in Gefahr. Was unter der Landharmonie lange im Verborgenen schwelte, beginnt nun in der Hitze zu lodern. Aufgestautes bricht sich durch ewig geglaubte Strukturen und Ordnungen seine unaufhaltsame Bahn. Zugleich macht sich eine große Hilflosigkeit breit, angesichts all dessen, was sich um sie herum unwiederbringlich auflöst.

Erzählt wird in der Ich-Form aus der Sicht des dreizehnjährigen Auguste Sutter, genannt Gus. „Ich war Teil dieses zerbrechlichen Hauses. Ich war Teil dieses Hauses, in dem jeder in seinem eigenen Winkel kämpfte. Ich lag mit dem Rücken auf der warmen Erde, die Augen zum Himmel gerichtet, und sagte mir, dass unsere Träume wie ein Zug waren, der in den Bahnhof einfuhr, ein Zug, den man von weitem in blendend hellem, staubigen Licht herannahen und deutlicher werden sieht, der langsam vor unseren Augen vorbeifährt und den wir lange beobachten, ohne zu wissen, ob er wirklich anhalten wird und wir je werden einsteigen können.“ Er steht an einem Wendepunkt: dem Ende seiner Kindheit. Doch diese wird ihm ziemlich rigoros und plötzlich weggerissen. Die Wetterkapriolen stellen dabei nur ein äußeres Zeichen dar. Die schwerwiegendere Zersetzung findet im Inneren der Familie statt.

Da ist zum einen der stille und ruhige Vater, der tagein tagaus mit nahezu stoischem Gleichmut seinen Hof versorgt. Als Gehilfe steht ihm der „schwachsinnige“ Rudy zur Seite. Fast ebenso schweigsam und kaum zu mütterlich-liebevollen Regungen fähig – Gus' Mutter. Lea wiederum, seine Geige spielende, schöne Schwester, „die zwischen Kultur und Natur eine glasklare Trennlinie zog“, wirkt wie ein Fremdkörper in der häuslichen „Idylle“. Denn alles auf dem Hof scheint schwerfällig und in der Vergangenheit verharrt: sei es das alte Pferd Bagatelle oder Sheriff, der Hund, der zuweilen wie vom Schlag getroffen umfällt. Als Gus eines Tages eine flugunfähige weiße Taube findet und diese fortan jeden seiner Wege auf seiner Schulter sitzend begleitet, scheint das Unheil seinen unaufhaltsamen Lauf zu nehmen. Die plötzlich auf der Bildfläche erscheinende Cécile, in die sich Gus' Mutter verliebt und daraufhin Hof und Familie Knall auf Fall für die Frau verlässt, ist dabei nur das Zünglein an der Waage. Doch mit ihr verschwindet auch das letzte Stück Stabilität und fragile Verlässlichkeit. Der Untergang ist nicht mehr aufzuhalten.

Fazit: „Man müsste anhalten, um die unsichtbare Aktivität zu entdecken, genau wie ein Beobachter der Fauna eine Weile still im Verborgenen ausharren muss, bevor er beobachten kann, wie um ihn herum die kleinen Geschöpfe des Waldes den Gang ihres Daseins wiederaufnehmen, in dem sie von einem Störenfried unterbrochen worden waren.“ In wunderschöner, auf der einen Seite sehr bildhafter, auf der anderen auch nüchterner, aber immer kraftvoller Sprache, hat der 1964 in Lausanne geborene Autor einen kleinen, aber feinen Familien- und Entwicklungsroman geschrieben, bei dem Figuren und Landschaft nahezu miteinander verschmelzen. Gleichzeitig ist das beinahe sensitiv erlebbare Buch, jedoch auch ein Zeitzeugnis des zunehmenden Bauernsterbens in der Schweiz. „Ich sagte mir, dass er sich wohl in diesem Augenblick wünschte, langsam von der Erde aufgenommen und sanft in die Tiefe gezogen zu werden, um sich endlich mit den Überresten all der Männer und Frauen zu verbinden, die von diesen ehemals fruchtbaren Böden genährt wurden.“ Den Namen des Autors sollte man sich unbedingt merken.

Roland Buti
Das Flirren am Horizont
Aus dem Französischen von Marlies Ruß
Titel der Originalausgabe: Le milieu de l'horizon
Nagel & Kimche Verlag (August 2014)
186 Seiten, Gebunden
ISBN-10: 3312006368
ISBN-13: 978-3312006366
Preis: 18,90 EUR

Über Heike Geilen 597 Artikel
Heike Geilen, geboren 1963, studierte Bauingenieurswesen an der Technischen Universität Cottbus. Sie arbeitet als freie Autorin und Rezensentin für verschiedene Literaturportale. Von ihr ist eine Vielzahl von Rezensionen zu unterschiedlichsten Themen im Internet zu finden.

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