Erinnern, Glauben und Wissen

In Ihrem Grundkurs zur Philosophie, den Sie herausgegeben haben mit Ekkehard Martens, da gehen Sie von den kantischen Fragen aus. Sie zitieren Kant: „Alles Interesse meiner Vernunft – das spekulative sowohl als das praktische – vereinigt sich in folgenden drei Fragen: 1. Was kann ich wissen, 2. Was soll ich tun, 3. Was darf ich hoffen.“ In den Vorlesungen über Logik fügt Kant noch die Frage „Was ist der Mensch?“ hinzu. In Ihrem letzten Aufsatzband reden Sie wieder von allen vier Fragen Kants, aber dann ist so eine Frage wie „Was darf ich hoffen?“ – Zitat von Ihnen: „in keiner Weise grundlegend“ für die Philosophie. Und es bleibt dann übrig nur „Was kann ich wissen?“ und „Was soll ich tun?“ als die beiden Grundfragen kritischen Philosophierens. Also wo sind jetzt die beiden Fragen „Was ist der Mensch?“ und „Was darf ich hoffen?“ geblieben?

Schnädelbach: Also „Was darf ich hoffen?“, das ist ja die Frage der Religion (wenn man das mit Kant versteht) – das ist ja nicht gemeint im Sinne von „Ich hoffe, auf einen Lottogewinn“ oder so. Sondern: Das hat natürlich zu tun mit der Idee der Unsterblichkeit der Seele, mit dem Leben nach dem Tod und so. Und da meine ich einfach, dass durch die Privatisierung der Religion, die ja seit dem 19. Jahrhundert eingetreten ist, also einfach in dem Sinne, dass die Religion heute eine ganz persönliche Sache geworden ist und es eigentlich keine Instanz gibt, die noch – jedenfalls im Westen – das nun tatsächlich dem Menschen beibringen kann, was nun Glaube ist – das ist meine Einschätzung – glaube ich nicht, dass die Philosophie zu diesem Punkt was verallgemeinerungsfähiges beitragen kann. Also deswegen glaube ich: dieses religionsphilosophische Thema scheint mir dann doch sehr in den Hintergrund getreten zu sein.

„Was ist der Mensch?“

Das ist dann natürlich ein Streitpunkt. Ich halte es für eine Fehlinterpretation, die jetzt auch wieder im Schwange ist, das man meint, die Frage „Was ist der Mensch?“ sei die Grundfrage der Philosophie. Das halte ich für verkehrt. Das ist auch bei Kant nicht der Fall. Deswegen ist es auch verkehrt! (lacht) Naja, der Punkt ist einfach der: die Frage nach dem Mensch betrifft ja unsere Selbstverständigung, also im Sinne von „Was sind wir eigentlich für welche?“, „Wer sind wir?“, und diese Frage, die kann man nur dann beantworten, wenn man schon Antworten hat, auf die Fragen „Was kann ich wissen?“, „Was sollen wir tun?“. Vor allem müsste man die Frage heute immer auch ein bisschen anders stellen. Man müsste die Frage mehr in dem Sinne stellen von „Was können wir wissen?“, „Was sollen wir tun“. Also dieser methodische Individualismus ist sicher ’ne Sache, die man aus heutiger Sicht skeptischer betrachten muss als das noch bei Descartes oder bei Kant der Fall war. Gut, also wenn das soweit klar ist, dann bedeutet das, dass die Frage nach dem Menschen oder nach dem Wer oder Was wir sind vielleicht ’ne Abschlussfrage ist – oder ’ne Anschlussfrage ist, aber sie kann nicht mehr als die Grundfrage der Philosophie betrachtet werden wie das häufig immer wieder geschieht.

Im philosophischen Unterricht lehren Sie, ‚Wissen’ mit Platon zu begreifen, an Anlehnung an den Theaitetos-Dialog. Es ist inzwischen weltweit etabliert Wissen als „wahre, begründete Meinung“ oder „true, justified belief“ zu definieren – darauf haben sich die Philosophen im Anschluss an diesen Dialog verständigt.


Also der Punkt, ob das nun auf Platon zurückgeht oder nicht, is’ nicht so wichtig. Sondern: Es geht ja zunächst mal um die Frage, was könnte eine überzeugende Explikation unserer Intuition sein, was Wissen betrifft. Und wenn man dann zu dem kommt, dass man sagt, ‚wahre, gerechtfertigte Überzeugung’, dann kann man zunächst mal sagen, also Wissen ist sicher ’ne Art von Überzeugung. Ich glaub’ man wird nicht sagen, ich weiß etwas und gleichzeitig bezweif’le ich das. Also is’ es schon, sozusagen, eine festgelegte Überzeugung. Und jetzt ist natürlich die Frage, was muss dazu kommen, damit eine Überzeugung als Wissen gelten kann? Und da muss man zunächst mal sagen, es muss wahr sein! – das hat auch schon Platon gefunden. Aber da fehlt dann noch was, denn es kann ja zum Beispiel sein, ich bin davon überzeugt, dass im Augenblick in Japan ein Erdbeben stattfindet und das ist auch zufällig wahr, es findet eins statt! Aber dann könnt’ ich nicht sagen, ‚Ich hab’s gewusst!’ Sondern: Ich hab’ richtig geraten. Und deswegen kommt dann eben die zweite Bedingung dazu, dass man auch Gründe anführen können muss.
Nun, beim Theaitetos ist es so, dass Platon das auch noch zurückweist als aporetisch, also als ausweglos – das überzeugt nicht so sehr. So, und jetzt ist die nächste Frage: Was könnte jetzt philosophisches Wissen sein? Was könnte Wissen in der Philosophie sein? Und da scheint mir das klar zu sein, dass unser philosophisches Wissen nicht darin gründet, das wir in die Welt hinausgehen und gucken, was der Fall ist. Also das machen halt die Wissenschaften. Sondern: Philosophisches Wissen ist eben Nachdenklichkeitswissen, ist gewissermaßen Wissen aus zweiter Hand. Wissen ist Wissen das aus der Beschäftigung mit Gewusstem – mit der kritischen Beschäftigung mit schon Gewusstem – resultiert. Und dann ist natürlich die Frage: Gibt es philosophische Wahrheiten? Da kann man vielleicht auch skeptisch sein und sagen, es ist so die Idee – so ein Ziel, was man vielleicht anstrebt. Aber das es in der Philosophie auf die Argumente ankommt, das möchte ich allerdings wirklich nachdrücklich betonen. Und deswegen meine ich, philosophisches Wissen muss gerechtfertigtes Wissen sein – also in dem Sinne, dass jemand einen vernünftigen Grund hat anzunehmen, das etwas so und so ist.
Mir war nur wichtig, dass man – wenn man schon auf Platon zugeht – dass man dann bei Platon nicht immer nur den Theorie-Diktator sieht oder – mit Popper so – den angeblichen Erfinder des Totalitarismus. Sondern, dass es bei ihm auch eine politisch-kritische Funktion hat, auf die Anamnesis-Lehre und die Ideenlehre zuzugehen.

Die ‚Anamnesis’, die Platon immer wieder gebraucht, und Wittgenstein: „Die Arbeit des Philosophen ist ein Zusammentragen von Erinnerungen (…)“ – kennzeichnet dies beides die Rolle, die Sie dem philosophischen Wissen zuweisen?


Ja also natürlich ‚Anamensis’ im Sinne von Wiedererinnerung – das ist ein Motiv, das sich bei Wittgenstein wiederfindet, aber eben natürlich ganz anders als bei Platon. Platon meint ja, dass eigentlich all unser Wissen aus Wiedererinnerung besteht. Also wir haben im Grunde schon immer alles gewusst und wir brauchen uns nur bei bestimmten Anlässen wieder daran zu erinnern. Das hängt mit seiner Seelenlehre zusammen, der Vorstellung, dass unsere Seele in der Präexistenz die Ideen geschaut hat. Also philosophisch ausgedrückt meint er, dass alles Wissen a priori ist. Nech?
Und bei Wittgenstein ist das natürlich ein bissel anders gemeint. Da geht’s um die Wiedererinnerung an das, was wir irgendwie vergessen haben, und deswegen in Verwirrung geraten sind. Er meint, dass das philosophische Problem in erster Linie darin besteht, dass wir uns nicht auskennen, dass wir die Übersicht verloren haben – in unserem Denken. Und da meint er, dass es genügt, dass wir uns einfach nur mal systematisch an das erinnern, was wir eigentlich schon mal gewusst haben oder verstanden haben, um aus dieser Konfusion herauszukommen.
Was erstens mal Wittgenstein ausschließen wollte ist, dass man anfängt, nach Ursachen zu suchen – also dass man gewissermaßen die explanatorische Wissenschaft nachahmt in der Philosophie. Also das ist eine Gemeinsamkeit, aber eben auch ’n großer Unterschied zwischen diesen beiden Positionen. Und ich denke, dass es richtig ist – dass die philosophische Reflexion sehr weitgehend darin besteht, dass wir uns auf das beziehen, was wir – jetzt mal so mit Heidegger – immer schon unterstellen, was wir eigentlich schon als gültig akzeptiert haben; so dass man schon sagen kann: Also dieses Motiv Anamnesis ist sicher sehr wichtig in der Philosophie.

Und inwiefern ist sie dann politisch?

Ja, also das ist die Anamnesis-Lehre bei Platon, die in der Tat eben diese politische Funktion hat, nämlich auch den Zweifler daran zu erinnern, dass er nicht recht haben kann mit seiner These, dass alles nur Meinungssache ist.
In meiner kleinen Erkenntnistheorie-Einführung habe ich versucht das Erkenntnis-Thema mal von der grammatischen Seite aufzugreifen. Also zu sagen: ‚Wir woll’n erst mal seh’n, wie werden eigentlich die epistemischen Grundausdrücke verwendet – Wissen, Vorstellung, Denken usw.?’ Und dann können wir uns immer noch Geltungsfragen zuwenden.

Sie sagen, Sie sind ein Fallibilist, also ähnlich wie der Philosoph Popper. Dennoch sagen Sie auch so wie Platon, es sei nicht alles bloß Meinungssache. Bitte definieren Sie kurz das Fremdwort ‚Fallibilist’!

Joa, definieren – es genügt vielleicht zu sagen, was es bedeutet (lacht): Unter einem Fallibilisten versteht man einen Philosophen, der davon überzeugt ist, dass unser Wissen fehlbar ist. Das ist ein Unterschied zum Skeptizismus. Der Skeptizismus sagt wir können nichts wissen, wir werden auch nichts wissen. Der hat eigentlich gar keine Verwendung mehr für den Ausdruck ‚Wissen’. So sagt er, es gibt eben Meinungen und wir müssen uns im Leben durchschlagen mit Meinungen. Der Fallibilist sagt das nicht.
Der Fallibilist sagt: Nein, nein, es gibt schon Wissen, aber wir müssen damit rechnen, dass unser Wissen – zum Beispiel, dass wir mit Gründen für wahr halten –, dass das fehlbar ist, dass das widerlegbar ist, dass es nicht für alle Ewigkeit sich als unfehlbar erweist – es könnte sein das darin doch ein Irrtum enthalten ist, und wenn der Irrtum aufgedeckt ist, dann haben wir vielleicht eine verbesserte Form des Wissens, aber hier können wir wieder prinzipiell nicht ausschließen, dass dann auch wieder neue Irrtümer hereingekommen sind. Also dieser Unterschied ist wichtig: zwischen Fallibilismus und Skeptizismus.
Und es ist kein Widerspruch zu sagen: ‚Wissen ist fehlbar’. Also der Fallibilist besteht ja darauf, dass nicht alles bloß Meinungssache ist, sonst wäre er ja Skeptiker – oder ‚Skeptizist’, wenn man das besser sagt. Aber der Punkt ist einfach, dass gerade die Überzeugung, dass nicht alles bloße Meinungssache ist, das ist ja genau das, was den Fallibilisten gewissermaßen motiviert, nach der besseren These, nach der besseren Theorie zu suchen.

Aus der unveröffentlichten Filmtrilogie „Schnädelbach und die Hegelsche Milchschale“ von Jakob A. Bertzbach: Film 1 „Glauben, Wissen, Kritisieren“, Episode 1 „Was weiß Philosophie?“ Part 2 „Erinnern, Glauben und Wissen“.

Über Schnädelbach Herbert 2 Artikel
Prof. Dr. Herbert Schnädelbach, geb. 1936, ist einer der bekanntesten derzeitigen deutschen Philosophen. Er gilt als Vertreter der Diskurs- und Sozialphilosophie. Von 1993-2002 war er ordentlicher Professor für Theoretische Philosophie am Institut für Philosophie der Humboldt-Universität zu Berlin. Zuletzt erschienen: „Was können wir wissen, was sollen wir tun?: Zwölf philosophische Antworten“ (Hg.) und „Religion in der modernen Welt“ (beide 2009).

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