„Erkenne dich selbst!“

Wann? Ca. 400 vor Christus
Wo? Ein Marktplatz in Athen
Wer? Ein bärtiger Mann mit zerfurchter Stirn

Wieder einmal hat sich eine Menschenmenge auf dem Marktplatz von Athen um den wunderlichen alten Mannes in weißer Toga gebildet. Seine angebotenen „Waren“ kosten allerdings keine Drachme. Er wirft sie kostenlos unter das Volk. „Philo-soph“ nennt er sich, was übertragen „Freund der Weisheit“ bedeutet. Sein Handelsprodukt: Gespräche über die Tugend, die Seele, Gerechtigkeit und Wahrheit. Sein Name: Sokrates.

Auch wenn Sokrates von sich selbst sagt, er wisse nur eines, nämlich dass er nichts wisse, verwickelt er so manchen Gesprächspartner, der sich für weise hält, in ein verwirrendes Konstrukt aus vielerlei Fragen, so dass derjenige am Ende nur noch beschämt seine Unwissenheit eingestehen muss. Das stößt natürlich nicht bei allen auf Gegenliebe. Für die einen ist er nur ein wunderlicher Streuner, für andere jedoch ein gefährlicher „Revolutionär“, dem man „Missachtung der Götter“ und „Verführung der Jugend“ vorwirft. Hinzu gesellt sich seine Respektlosigkeit allen Autoritäten gegenüber und sein zielloses Umherschweifen auf dem Marktplatz, ohne offenbar einer geregelten Arbeit nachzugehen. Also ab mit ihm vor die athenische Volksversammlung. Doch nicht einmal hier kriecht Sokrates zu Kreuze. Weder eine Entschuldigung, noch ein Entgegenkommen, vielleicht gar noch ein Bitten um Mitgefühl kommt über seine Lippen. Im Gegenteil: Erneut entlarvt er bei seinen Anklägern nur hohles Scheinwissen. Was diese natürlich besonders wütend macht und das Todesurteil aussprechen lässt. Seine Schüler und seine Familie sind verzweifelt, wollen ihn retten und zur Flucht überreden. Aber auch hier lehnt er den feigen Versuch ab. Sokrates glaubt an ein gutes Fortleben seiner Seele und trinkt seinen tödlichen Schierlingsbecher.

Begleitet von Yann Le Bras' plakativen, farbintensiven Aquarellen, seinen Figuren mit großen, das Gesicht dominierenden Augen, die trotz ihrer Einfachheit mit unglaublich mimischer Ausdruckskraft aufwarten, ist dem französischen Autor Jean Paul Mongin ein anspruchsvolles, aber durchaus verständliches Kinderbuch über die Grundlagen von Sokrates Philosophie gelungen. Gemeinsam mit Eltern oder Großeltern finden bereits junge Leser durch den kindgerecht aufbereiteten Text und die kongenialen Illustrationen einen ersten Zugang zur Lehre des „Philosophie-Erfinders“. Einprägsam wird dem jungen Leser/Zuhörer vermittelt, dass die Fähigkeit des Menschen zwischen Recht und Unrecht zu unterscheiden in der Vernunft und Einsicht des Menschen begründet liegt und nur ein ständiges Hinterfragen, Scheinheiligkeit und Lügen zu Tage fördert. Nur wenn man weiß, was „gut“ ist, wird man auch das Gute tun und „böse Handlungen“ vermeiden können.

„Ich bin wie eine Pferdebremse, die dem Gaul um den Kopf schwirrt und ihn von seinem Nickerchen abhält! Vielleicht wollt ihr mich ja loswerden, weil ihr meine Sticheleien leid seid und den Rest eures Lebens verschlafen wollt…“ Hui…. da schwirrt der zum Insekt mutierte Sokrates auch schon mit einem feuerroten spitzen Nasenstachel los, begleitet von seinem kleinen, breitgrinsenden Dämon und treibt nicht nur den dicken Meletos zur feuerroten Weißglut.

Fazit: Ein wunderbares Buch, Kindern Philosophie näher zu bringen. Denn gerade sie sind es, die in Bezug auf Denkweisen, Lebensansichten und Ideologien noch eine relativ unverstellte Sicht besitzen. Warum also nicht das „Wagnis“ eingehen, sie mit den Anschauungen eines Mannes vertraut zu machen, der sich nicht in die Studierstube zurückzog, kein hermetisches Gedankengebäude errichtete, sondern selbige im Dialog entwickelte, gemeinsam mit anderen. Und zwar dort, wo Athen sein gesellschaftliches und politisches Zentrum hat: auf dem Marktplatz. Ein Buch zum gemeinsamen Zweifeln, Anfechten und Nachfragen stellen – zum Mutig sein im Denken.

Jean Paul Mongin, Yann Le Bras
Der Tod des weisen Sokrates
Aus dem Französischen von Heinz Jatho und Sabine Schulz
Titel der Originalausgabe: La mort du divin Socrate
diaphanes Verlag (März 2014)
64 Seiten, Gebunden
ISBN-10: 3037346566
ISBN-13: 978-3037346563
Preis: 14,95 EUR

Über Heike Geilen 597 Artikel
Heike Geilen, geboren 1963, studierte Bauingenieurswesen an der Technischen Universität Cottbus. Sie arbeitet als freie Autorin und Rezensentin für verschiedene Literaturportale. Von ihr ist eine Vielzahl von Rezensionen zu unterschiedlichsten Themen im Internet zu finden.

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