Es bedarf wohl keiner friedlichen Revolution mehr inDeutschland…

Ein Tagungsband zu 20 Jahre Friedliche Revolution

Gerade frisch aus der Druckpresse erreicht die geneigte Leserschaft ein kleiner Sammelband zu „20 Jahre Friedlichen Revolution – Warschau – Leipzig – Berlin – Jena“. Herausgeber ist das Collegium Europaeum Jenense (CEJ) der Friedrich Schiller Universität Jena unter Federführung von Prof. Dr. Martin Herrmann als Herausgeber. Der Sammelband geht zurück auf das gleichnamige Kolloquium vom 19. Juni 2009, welches vom CEJ, der Stadt Jena und der Ostthüringer Zeitung (OTZ) organisiert wurde. Der Sammelband vereint die überarbeiteten Vorträge dieser Tagung.
Einziger internationaler Vortragender war der ehemalige österreichische Botschafter in der DDR Friedrich Bauer, der über die Beziehungen zwischen Österreich und der DDR zwischen 1972 und 1990 Ausführungen macht. Sein Kredo, die Anfang der siebziger Jahre erfolgte internationale Anerkennung der DDR führte, wenn auch unter Vorbehalten, zur „Normalisierung“ der außenpolitischen Beziehungen zwischen der DDR und einer Reihe westeuropäischer Staaten, wobei die Beziehungen zwischen der DDR und Österreich von besonderer Bedeutung waren, weil Österreich in Gegensatz zur Bundesrepublik die DDR als „gleichwertigen“ Partner ansehen konnte und wollte. Was Friedrich Bauer nicht ausführt, sind die Folgen dieser „gleichwertigen Partnerschaft“. Über Österreich liefen nicht nur zahlreiche illegale Finanzgeschäfte der DDR zur Devisenbeschaffung, Österreich wurde unter Duldung der politischen Kreise Österreichs 1989/90 zum „Verschiebebahnhof“ des SED-Vermögens.
Ulrich Erzigkeit, Chefredakteur der OTZ, berichtet vom ambivalenten Emanzipierungsprozess der DDR-Regionalpresse 1989/90 und der Entstehungsgeschichte der Ostthüringer Nachrichten / Ostthüringer Zeitung. Er vermittelt vor allem Einblicke in die internen Auseinandersetzungen bei der Neuausrichtung der bisherigen „SED-Organe“ und beschreibt detailliert die Abwicklung und Umstrukturierung der Tageszeitung, bei der die alten SED- und neuen PDS-Kader eine gewichtige Rolle mitzuspielen suchten. Am Rande der wirtschaftlichen Existenz in den Jahren 1990/91 und von der Treuhand verwaltet, übernahm schließlich die westdeutsche WAZ-Gruppe 1991 die Regionalzeitung.
Ilko-Sascha Kowalczuk, wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Forschungsabteilung der BStU in Berlin, zeichnet noch einmal die Vorgeschichte und die Revolution 1989 in der DDR in wesentlichen Zügen nach. Neue Erkenntnisse werden zwar nicht vermittelt. Kowalczuk weist aber gleich zu Beginn auf eine der wichtigsten Voraussetzungen für die Friedliche Revolution überhaupt hin, die gern als Nebensache abgetan und/oder falsch interpretiert wird, nämlich die Rolle Gorbatschows in dem ganzen Prozess. Zu Recht stellt er fest, dass die Inthronisierung Gorbatschows im März 1985 zum KPdSU-Chef den Versuch darstellte, „ein reformkommunistisches Projekt in Gang zu setzen, um das Kommunismus-Projekt überhaupt zu retten. Gorbatschow war nicht Reformer wider Willen, aber er wurde wider Willen zu einem Sargnagel des kommunistischen Systems.“ Am Schluss stellt Kowalczuk noch einmal fest, dass die Vorgänge 1989/90 revolutionär waren, wenn auch utopiefrei, da es zunächst nur um die Beseitigung des SED-Systems gegangen sei.
Der bekannte Schriftsteller Erich Loest titelte seinen Beitrag „Der Letzte macht das Licht aus“. Wortgewandt hält er Rückschau auf die untergegangene DDDR, ihr Alltagsleben und das Spannungsverhältnis zwischen greisen Machthabern und den wenigen leidenschaftlichen Menschen, die für Veränderungen eintraten. Auch räumt er mit dem Mythos auf, die DDR sei in den achtziger Jahren „liberaler“ gewesen als in den Jahren des Stalinismus, wie gern von SED-PDS-Linkspartei-Seite behauptet. „Die DDR wurde nicht freiheitlicher, sondern schlampiger […].“ Der materielle und menschliche Verschleiß sei zudem gerade in den achtziger Jahren extrem spürbar gewesen, selbst für viel Genossen. Die unglaubliche Ressourcenverschwendung, der Dreck, der Verfall und die Hoffnungslosigkeit zeichnen diese Jahre aus. Das materielle Erbe des Kapitalismus war 1989 aufgebraucht. Selbst die Knastplätze reichten nicht mehr für unbequeme DDR-Witzeerzähler aus. Und als hätte man es schon damals ahnen oder sogar wissen müssen, resümiert Loest an anderer Stelle, dass die DDR auch ohne die Mutigen der Revolution von uns gegangen wäre, so seine vielleicht verstörende These: „Das DDR-Gefüge, die kommunistische Einparteiendiktatur brach zusammen ohne Druck einer anderen Kraft, sie war eine Fehlgeburt von Anfang an, pleite, erledigt, sie hauchte ihren Ungeist aus.“ Trotzdem sei es gut, dass es die Mutigen gegeben habe, denn wen sollten wir sonst feiern, für wen Freiheitsdenkmale errichten?
Günter Schabowski, ehemaliges SED-Politbüromitglied, referiert zum Thema „Vergesellschaftete Wirtschaft – der Krebsschaden des Sozialismus“. Ähnlich wie Loest urteilt Schabowski, ohne Nebenschauplätze zu beleuchten, über das „Projekt Sozialismus“ generell als nicht überlebensfähiges Konzept. Dabei führt er an, dass die Vergesellschaftung der Produktionsmittel das zentrale Problem im Kern des Systems gewesen sei. Die so künstlich ausgeschaltete Konkurrenzsituation der Produzenten untereinander konnte nie durch andere Hilfsmittel wie Leistungslohn oder Wettbewerbe ausgefüllt werden. Wenn sich der Diktator mit der Produktion von Tampons befasst, kann was nicht stimmen: „Einverstanden Honecker“. Die Ineffizienz des Systems an sich und nicht die revolutionären Vorgänge 1989 seinen daher wesentliche Ursache für den Untergang der DDR und des kommunistischen Systems insgesamt gewesen. Zugegeben kein so neuer Gedanke, die Analyse, die konkreten Beispiele und die Herleitung der historischen Zusammenhänge sind dennoch lesenswert und eine Bereicherung für den Sammelband: „Diese Macht war im Grunde eine Instanz von Amateuren, deren einzige Befähigung für das Experiment ihr revolutionärer Veränderungswille war.“ Die Folge waren organisierte Verantwortungslosigkeit und ein eingemauertes und begrenztes Leben für Millionen Menschen.
Udo Scheer, der Schabowski auf der Tagung vertrat, folgte dessen Einsichten, wonach die Vergesellschaftung der Produktionsmittel ein Kardinalfehler des Sozialismus gewesen sei und unterfüttert dies mit eigenen Erfahrungen als früherer Entwicklungsingenieur für Konsumgüter in einem Elektronik-Betrieb in Gera. Treffend zitiert er einen Witz aus der Planwirtschaft aus den achtziger Jahren: Ein Bundesbürger gerät irrtümlich in die sozialistische Hölle und wundert sich, warum alle so fröhlich sind. Da sagt ihm einer: „Uns geht´s doch prima! Wirst schon sehen! Wenn die Teufel Kohle haben, haben sie keine Streichhölzer, und wenn sie Streichhölzer haben, haben sie keine Kohle. Wenn sie beides haben, ist ihr Heizer garantiert auf Parteischule.“
Frank Schenker, Bürgermeister und Dezernent für Familie und Soziales der Stadt Jena, informiert in einem kleinen Erfahrungsbericht über eine Reise im Mai 2010 und die Beziehungen der Stadt Jena ins albanische Tirana, Hauptstadt Albaniens. Schenker bestätigt die Erfahrungen vieler Deutscher vor Ort, dass der Staatssozialismus tiefe Spuren hinterlassen habe. Nach wie vor gelte für viele Albaner die Devise, wonach der Staat alles regeln und sich um das Auskommen der Menschen sorgen müsse. „Von einem Geist der Freiheit und des Aufbruchs ist wenig zu spüren.“ Hieraus resümiert er für sich persönlich mit Blick auf die Friedliche Revolution: „Wir sind aufgerufen, die Probleme der Gegenwart in Freiheit und Verantwortung vor dem eigenen Gewissen zu lösen.“
Von den Visionen der Friedlichen Revolution, die andere schlicht Forderungen nannten, handelt der Beitrag von Albrecht Schröter, damals Pfarrer und heute Oberbürgermeister der Stadt Jena. Um ein möglichst genaues Bild von der Zeit zu entwerfen und um einer Legendenbildung zu widerstehen, beleuchtet er die Ereignisse an Hand seiner Tagebuchaufzeichnungen aus den Jahren 1989/90. Hierzu ist unter dem Titel „Die friedliche Revolution in Jena. Tagebuchaufzeichnungen. Dokumente. Fotos“ 2010 eine Zweitauflage im Jenaer Glaux-Verlag erschienen. Schröters Vision sei 1989 eine „tatsächliche Demokratie“ gewesen, verbunden mit freien Wahlen, Reise-, Meinungs- und Pressefreiheit, einem ökologischen Umbau des Landes, einer vollständigen Abrüstung auf beiden Seiten und dem Verschwinden der Diskriminierung von Christen und Andersdenkenden. Als quasi Nebeneffekte erhoffte er sich für die Menschen die Beseitigung der Mangelwirtschaft und hegte den Wunsch zur Wiedervereinigung, eingebettet in die Europäische Gemeinschaft, in der auch die DDR einen Platz hätte finden sollen. Letzteres scheint widersprüchlich, belegt aber zugleich die Dynamik des Prozesses im Nachhinein, wo zunächst vieles möglich schien. Schröter kommt zu dem Ergebnis, „dass wir eines der verfassungsrechtlich besten demokratischen Systeme der Welt haben.“ Die Wünsche, Forderungen und Visionen von damals seien weitgehend in Erfüllung gegangen. Ein Auswandern aus politischen Gründen sei nicht mehr nötig. Ziel bleibe aber weiterhin eine menschliche, tolerante und weltoffene Gesellschaft, denn wir sind noch nicht am Ziel.
Der letzte Beitrag des Sammelbandes kommt von Gerd Schuchardt, ehemaliger stellvertretender Ministerpräsident und Minister für Wissenschaft, Forschung und Kultur des Landes Thüringen. Er berichtet über den 1990 beginnenden Transformationsprozess und die Wiederbelebung der Carl-Zeiss-Stiftung in Jena. Die Stiftung war wie alle anderen privaten Rechtsformen in der DDR enteignet und mit staatlichen Mitteln künstlich am Leben erhalten worden, ihres ursprünglichen Stiftungszweckes beraubt. Innerhalb des Prozesses der „Rückumwandlung“ ging es vor allem am Anfang um ökonomische und politische Machtfragen. In der sozialistischen Stiftung hatten sich zahlreiche Parteifunktionäre der SED-Nomenklatur des Bezirks Gera über die Jahre eingerichtet. Sie wollten 1990 eine schnelle Rückumwandlung der Zeiss-Stiftung in eine freie Betriebsstiftung verhindern, um ihren persönlichen „Wechsel“ in die neue Zeit abzusichern. Rechtliche und politische Kämpfe erreichten jedoch noch vor der Wiedervereinigung die Umwandlung der sozialistischen Stiftungsbetriebe in die Jenaer Carl-Zeiss-Stiftung. Es ging um nichts Geringeres als die rechtliche Position der Stiftung in Jena, weil sie Eigentümer von Firmennamen und Warenzeichen war. Gerd Schuchardt hat diesen Prozess in seiner Eigenschaft als damaliger Thüringer Wirtschaftminister intensiv begleitet.
Insgesamt vermitteln die neun Beiträge auf 113 Seiten einen vielschichtigen Einblick in die revolutionären Voraussetzungen, Ereignisse und Folgen der Friedlichen Revolution vor 20 Jahren. Neben historischen Fakten geben sie Auskunft über erreichte und bestehende Ziele. Albrecht Schröter bringt es wohl auf den Punkt, wenn er meint: „Es bedarf wohl keiner friedlichen Revolution mehr in Deutschland, aber einer Evolution, die genau so viel Engagement von zielstrebigen Menschen erfordert wie in den Tagen zwischen dem Frühjahr 1989 und Herbst 1990.“

Dr. Henning Pietzsch ist Chefredakteur der „Gerbergasse 18“

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