Essay zum Artikel von Stefan Groß in der Tabula Rasa (1/2016) „AfD im Aufwind- Ende der Demokratie- Wie rechts sind wir wirklich?“

Die AfD befindet sich aktuell auf einem politischen Höhenflug. Beim aktuell alles beherrschenden Thema, der deutschen und internationalen Flüchtlingspolitik, profitiert sie von rassistischen Steilvorlagen in allen sich demokratisch nennenden und dem Grundgesetz verpflichteten Parteien. Selbst innerhalb der Bündnis 90/Die Grünen und in der Linkspartei gibt es Stimmen von führenden Personen siehe Sarah Wagenknecht, die mit der Übernahme von rechten Thesen in der Öffentlichkeit punkten wollen. Dies sind zwar Einzelmeinungen, die auch heftig in der Linkspartei und innerhalb Bündnis 90/Die Grünen kritisiert wurden. Trotzdem scheint ein Rechtsruck auch in linken, emanzipatorischen Parteien stattzufinden. Stefan Groß bemerkt zu Recht: „Mittlerweile hat die AfD im Kampf um die Macht alle übrigen Parteien auf ihr semantisches Spielfeld gezwungen, die ihrerseits auf die von der Partei parolenhaft ausgegebenen Schablonen mit gleichfalls schablonenhaften Platitüden reagieren. Einer wieder – wie ein Phönix – aus der Asche tretenden AfD gießt nicht nur die CSU mit einem geplanten Brandbrief an die Kanzlerin Öl aufs Feuer, sondern auch die Linke um Sarah Wagenknecht und Oskar Lafontaine schenken sich nichts, wenn es darum geht, die Populisten am rechten Rand der Gesellschaft stark zu machen. Wenn der bayerische Finanzminister Markus Söder poltert, dass sich „deutsche Frauen wieder sicher“ fühlen müssen, regt das nicht einmal mehr Linke-Politikerin Katja Kipping auf. Die Strategie, die potentiellen AfD-Wähler durch populistische Äußerungen zurückzuholen, wie es CSU-Chef Horst Seehofer gerade praktiziert, hat schon in Frankreich nicht funktioniert. Nicolas Sarkozy hatte dort versucht, den Immigrationskurs zu verschärfen, was dabei herauskam, war eine Stärkung des Front National. (…) Nach Außen, so scheint es, ist die AfD eine Alternative, der es ganz geschickt gelingt, die These zu verbreiten, dass sich die großen Parteien hierzulande mehr um Flüchtlinge und Migranten kümmern als um die eigene Bevölkerung, um die einfachen Menschen, die sich von der großen Politik enttäuscht fühlen. Das Perfide an dieser Taktung ist nicht neu. So mobilisierte schon Adolf Hitler Millionen von Menschen, die sich nach der Deutschen Wirtschaftskrise in Not, persönlichem Elend, mit Ressentiments aufgeladen, fanden, um diese in sein uniformes Weltbild einzukleiden. Sie von dort abzuholen, war ein Leichtes gewesen.“[1]
Dass die Bürger dann doch lieber das Original als die Kopie haben wollen, zeigen die aktuellen Meinungsumfragen, wo die AfD mittlerweile bei 13% liegt und die drittstärkste Kraft in der Bundesrepublik darstellt. Dass die Partei außer populistischen Sprüchen, Panikmache und rassistische Agitation nichts zu bieten haben und in den bisherigen fünf Landesparlamenten, wo die AfD vertreten ist, sehr wenig zu ergebnisführender Politik beigetragen hat und sich einem konstruktiven Dialog verweigert, interessiert offenbar nicht. Die bisherigen eher peinlichen Fernsehauftritte von Vertretern der AfD schaden dem Bild der Partei offensichtlich auch nicht.
Die insgesamt gelungene Auseinandersetzung des Artikels von Stefan Groß hat allerdings auch an einigen Stellen Schwachpunkte, die nun eingehender erläutert werden sollen.
Groß spricht im Zusammenhang mit dem Erstarken der AfD in Meinungsumfragen von einem „Trend“und dass es„mittlerweile (fett, M.L.) ein rechtes Problem in Deutschland“. gebe. So hätte „sich das politische Spektrum in Deutschland (…) deutlich nach rechts verschoben“. Diese Darstellung eines sich erst in der letzten Zeit entwickelten „Trends“ nach rechts innerhalb der bundesrepublikanischen Gesellschaft trifft nicht zu. Es gibt vielmehr seit Jahrzehnten ein nachweisbares hohes Einstellungspotential innerhalb der „Mitte der Gesellschaft“, das nun durch die AfD zur Wahl einer rechten Partei ermuntert und nur noch in Stimmzetteln umgemünzt werden musste. Es gelang in den letzten Jahrzehnten abgesehen von den Wahlerfolgen der NPD in Sachsen, der DVU in Sachsen-Anhalt 1998 und den „Republikanern“ in Baden-Württemberg 1996 keiner rechten Partei dieses schlummernde rechte und demokratiefeindliche Potential auch nur annähernd abzurufen. Nur dank der Inkompetenz der bisherigen etablierten rechten Parteien und zivilgesellschaftlicher Gegenwehr – in welcher Form auch immer- blieb eine elektorale Stärke von Rechs bisher aus. Die CSU/CDU und auch die FDP saugten mit ihren jeweiligen starken rechten Flügeln diese Wählerschichten auf. Der schwindende Einfluss der Stahlhelm-Fraktion in der CDU/CSU und die Annäherung der Politik Angela Merkels an moderne Überzeugungen ließ Platz für eine Partei rechts von der CDU/CSU, den die AfD nun ausfüllt.
AfD-Mitglieder und Neonazis finden sich vermehrt bei der Polizei, was immer wieder von staatlichen Stellen als „Einzelfälle“ bagatellisiert wird.
Gegen den Polizisten Norman Wollenzien wird seit Oktober 2015 in Zusammenhang mit einer PEGIDA-Demonstration dienstrechtlich ermittelt.[2] Bei einem Aufmarsch des Brandenburger PEGIDA-Ablegers „Bramm“ im Januar 2015 hatte Wollenzien ein Schild mit folgender Aufschrift hochgehalten: „Antirassismus, Weltoffenheit, Vielheit sind Kennwörter für weißen Genozid – Europa den Europäern“. Wollenzien ist politisch bei der AfD engagiert. 2013 wurde er zum stellvertretenden Vorsitzenden des Kreisverbandes Havelland gewählt.Mittlerweile ist er noch Beisitzer im Kreisvorstand. Das Heck seines PKW war mit Aufklebern der neonazistischen „Identitären Bewegung“ und der Organisation „Europäische Aktion“ versehen. [3] Als Identitäre Bewegung werden mehrere lose verbundene extrem rechte bzw. völkisch orientierte Gruppierungen bezeichnet, die von der Neuen Rechten entwickelte Ideen des Ethnopluralismus aufgreifen. Ihr Ziel ist nach eigenen Angaben die Aufrechterhaltung einer nationalen und/oder europäischen „Identität“, die ihrer Ansicht nach vor allem von einer „Islamisierung“ bedroht sei. Die Identitäre Bewegung entwickelte sich als Bloc identitaire zunächst in Frankreich, später entstanden Gruppierungen in anderen europäischen Ländern, darunter auch in der BRD und Österreich. Die deutsche Sektion wurde im Jahre 2012 gegründet und wurde zu einem nicht unerheblichen Faktor innerhalb der extremen Rechten. Die „Europäische Aktion“ ist der Verbund der europäischen Leugner der Shoa, die sich aus Antisemiten, Revisionisten, und aus Rassisten aus unterschiedlichen Ländern zusammensetzt.
Der Fall Wollenzien reiht sich ein in eine ganze Reihe von jüngst bekannt gewordenen Verstrickungen Brandenburger Polizeibeamter in den organisierten und unorganisierten Neonazismus, auf den aus Platzmangel nicht weiter eingegangen wird.[4] Im September 2015 wurde ein Berliner Polizeibeamter zu einer Geldstrafe von 2750 Euro verurteilt und im Dienst versetzt, nachdem er per WhatsApp neonazistische „Weihnachtsgrüße“ an seine Kollegen verschickt hatte („Ho-Ho-Holocaust“).[5] Ein AfD-Mitglied und im Hauptberuf Polizist wurde Ende Dezember wegen einer Reizgasattacke auf Gegendemonstranten wegen gefährlicher Körperverletzung verurteilt. Als Reaktion daraus wurde er vom Innenministerium Mecklenburg-Vorpommern an die an die Polizeihochschule in Güstrow versetzt undunterrichtet an der Hochschule jetzt „Einsatzlehre“ (!).[6]
Wegen des Verdachts der Strafvereitelung imAmt wird bereits seit 2012 gegen einen Polizeikommissarermittelt, der seit einigen Jahren im Wach- und Wechseldienst der Polizeiinspektion Uckermark in Schwedt/Brandenburg tätig ist.Er soll zusammen mit einem Kollegen Neonazis ungeschoren davonkommen lassen haben. Er war dorthin strafversetzt worden, nachdem er bereits vor einigen Jahren für Schlagzeilen sorgte. Damals war er noch beim Landeskriminalamt und 2005 und 2006 bei Neonaziaufmärschen inSeelow und Halbe, beim so genannten„Heldengedenken“, mitmarschiert.[7]
Der zuständige Polizeipräsident Hans-Jürgen Mörke hat den Beamten mit sofortiger Wirkung vomDienst freistellen und mit einer Anzeige Ermittlungen wegen des Verdachts der Volksverhetzung aufnehmen lassen.
Torsten Rogalla berichtete auf dem Internatportal „Berlin-online: „Beim jährlichen Neonazi-Aufmarsch auf dem Schlachtfeld in Halbe fiel die militärisch formierte Gruppe am Rande kaum auf: Sie trug Skinhead-Frisuren und unter den Uniformen T-Shirts, die vorn den Bundesadler und hinten gekreuzte Schlagstöcke mit einem zähnefletschenden Hundekopf zeigten. Zum Wechseln hatten die Uniformierten Hemden mit dem Aufdruck “Unsere Heimat, unsere Liebe, unser Stolz” dabei. In den Händen trugen sie Schlagstöcke mit den Namen nordischer Götter, ein Anführer hatte für seinen Stock “Odin” gewählt. Die Männer gehörten nicht zur NPD. Es waren Polizisten aus Berlin, Angehörige der “Mobilen Kontroll- und Überwachungseinheit” (MKÜ) der Bundespolizei in Schöneweide. Die meisten von ihnen tun weiter Dienst, bis auf zwei Beamtenanwärter, die das Bundespolizeipräsidium Ost in Berlin Ende 2005 wegen Verbreitung rechtsradikalen Gedankenguts aus dem Dienst warf. Der 26-jährige Beamtenanwärter Björn S. klagte dagegen vor dem Berliner Verwaltungsgericht, das die Entlassung jedoch gestern im einstweiligen Rechtsschutzverfahren bestätigte. Björn S. wurde vorgeworfen, dass er zwei CDs mit Programmen des rechtsradikalen “Radio Wolfsschanze” aus dem Internet gebrannt und unter Kollegen weitergereicht hatte.“ [8]

Der nun folgende ausführlichere Verweis auf Meinungsumfragen soll nun zeigen, dass es mindestens seit der Wende[9] hohe rechte Einstellungspotentiale gibt. Dies ist verbunden mit dem Hinweis, dass ein beträchtlicher Bevölkerungsanteil im postfaschistischen Deutschland nichts aus der NS-Vergangenheit gelernt hat oder nicht lernen will. Die im Ausland penetrant vertretene Konstruktion, Deutschland hätte mit nationalsozialistischen und rassistischen Einstellungsmustern gebrochen und sei nun ein demokratisches und weltoffenes Land, ist eine Lebenslüge.

Seit 2002 untersuchen Elmar Brähler, Oliver Decker und Johannes Kiess von der Universität Leipzig im Zwei-Jahres-Rhythmus die Verbreitung extrem rechte Einstellungen in der so genannten „Mitte der Gesellschaft“. 2014 sank der Anteil der Menschen mit einem geschlossenen extrem rechten Weltbild von 9,7 Prozent 2002 auf 5,6 Prozent.[10] Dafür wird Rassismus ausdifferenzierter: Während die Zustimmung zu allgemeinen ausländerfeindlichen Aussagen sinkt, steigt die Abwertung gegen spezielle Gruppenunter den Migranten. Hier die Ergebnisse im Einzelnen:
Ausländerfeindlichkeit 2014:18,1 % (2002: 26,9 %)
Chauvinismus 2014: 13,6 % (2002: 18,3 %)
Antisemitismus 2014:5,1 % (2002: 9,3 %)
Befürwortung einer Diktatur 2014: 3,6 % (2002: 7,7 %)
Sozialdarwinismus 2014: 2,9 % (2002: 5,3 %)
Verharmlosung des Nationalsozialismus 2014: 2,2 % (2002: 4,1 %)
Abwertung von Flüchtlingen 55 – 76 % (2014)
Abwertung von Roma 47 – 55 % (2014)
Abwertung von Muslimen 36 – 42 % (2014)
Zustimmung zu extrem rechten Aussagen gibt es bei Anhängern aller politischen Parteien – am meisten aber bei den Anhängern der AfD. Während die Zustimmung zu allgemein rassistischen Aussagen sinkt, fokussiert sich Rassismus auf bestimmte Gruppe von Migranten: Diejenigen, die den Befragten als „grundlegend anders“ erschienen oder so, als „hätten sie ein gutes Leben ohne Arbeit“. Die Forscher sehen hier auch die Folge davon, rassistische Diskurse aktuell kulturalistisch zu verschieben, also nicht mehr von „anderen Rassen“ zu sprechen, aber von „anderen Kulturen“.
Den folgenden Aussagen haben prozentual von den Befragten zugestimmt:

Muslimen sollte die Zuwanderung nach Deutschland untersagt werden – 36,6 %
Durch die vielen Muslime hier fühle ich mich manchmal wie ein Fremder im eigenen Land. – 43 %
Ich hätte Probleme damit, wenn sich Sinti und Roma in meiner Gegend aufhalten – 55,4 %
Sinti und Roma sollten aus den Innenstädten verbannt werden. – 47,1 %
Sinti und Roma neigen zur Kriminalität – 55,9 %
Bei der Prüfung von Asylanträgen sollte der Staat großzügig sein. (hier: Prozentsatz der Ablehnung) – 76 %
Die meisten Asylbewerber befürchten nicht wirklich, in ihrem Heimatland verfolgt zu werden – 55,9 %

Die unter anderem von Wilhelm Heitmeyer von der Universität Bielefeld durchgeführten Studien zur „Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit“ kommen seit Jahren zu dem Ergebnis, dass rechte Aussagen von einem Teil der Bundesbürger befürwortet werden.[11] Das Syndrom „Gruppenbezogener Menschenfeindlichkei“t beinhaltet der Definition nach folgende Elemente: Rassismus, Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus, Homophobie, Abwertung von Obdachlosen, Abwertung von Behinderten, Islamfeindlichkeit, Sexismus, „Etabliertenvorrechte“, Abwertung von Langzeitarbeitslosen. Die Ergebnisse der jährlich stattfindenden Erhebungen werden kontinuierlich berichtet.
12,6% der Befragten vertraten im Jahr 2007 vertretene Auffassung, dass die Weißen zu Recht führend in der Welt seien. (2002: 16,4%; 2004: 13,1%). Der Aussage, Aussiedler sollten besser gestellt werden als Ausländer, da sie deutscher Abstammung seien, schlossen sich 18,5% der Befragten an (2002: 22%; 2004: 21,9%).
54,7% der Befragten im Jahr 2007 waren der Auffassung, dass zu viele Ausländer in Deutschland leben würden (2002: 55,4%; 2004: 60%). Zudem, so die Auffassung von 29,7%, sei es richtig, Ausländer zurückzuschicken, wenn die Arbeitsplätze knapp würden (2002: 27,7%; 2004: 36%).
Hinsichtlich des Antisemitismus wurde von 15,6% der Befragten im Jahr 2007 zu viel Einfluss von Juden in Deutschland angenommen (2002: 21,7%; 2004: 22%). Etwa 17,3% waren überzeugt davon, dass Juden durch ihr eigenes Verhalten eine Mitschuld an der Judenverfolgung trügen (2002: 16,6%; 2004: 12,8%).
31,3% der Befragten im Jahr 2007 äußerten „Ekel“, wenn Homosexuelle sich in der Öffentlichkeit küssen (2005: 34,8%). Homosexualität bezeichneten 15,3% als unmoralisch (2005: 16,6%). Gegen die Möglichkeit der Ehen zwischen Frauen und zwischen Männern sprachen sich 35,4% aus (2005: 40,5%).
Zur Frage hinsichtlich des Klassismus sagten 2007 38,8%, dass ihnen Obdachlose in Städten unangenehm seien (2005: 38,9%). Der Aussage, Obdachlose seien arbeitsscheu, stimmten 32,9% zu (2005: 22,8%). Der Forderung, bettelnde Obdachlose sollten aus den Fußgängerzonen entfernt werden, schlossen sich 34% der Befragten an (2005: 35%).
Bei statistischen Erhebungen zur Behindertenfeindlichkeit gaben 7,7% der Befragten im Jahr 2007 an, dass viele Forderungen von Behinderten „überzogen“ seien (2005: 8,3%). Ebenso meinten 12,7% der Befragten, dass für Behinderte in Deutschland zu viel Aufwand betrieben werde (2005: 15,2%). Dass Menschen mit Behinderungen zu viele Vergünstigungen erhalten würden, wurde von 8% angenommen (2005: 7,5%).
Das Phänomen des „klassischen Sexismus“ bezog sich auf laut den Forschern auf geschlechtsdiskriminierende Vorstellungen. So sollen sich Frauen nach der Auffassung von 28,5% der Befragten im Jahr 2007 wieder auf die „angestammte“ Rolle der Ehefrau und Mutter besinnen (2002: 29,4%; 2004: 29,3%). Und 18% stimmten der Aussage zu, dass es für eine Frau wichtiger sein sollte, ihrem Mann bei seiner Karriere zu helfen, als selbst Karriere zu machen (2004: 15,6%).
Unter „Etabliertenvorrechte“ verstanden die Forscher die von Alteingesessenen, gleich welcher Herkunft, beanspruchten raum-zeitlichen Vorrangstellungen, die auf eine Unterminierung gleicher Rechte hinauslaufen und somit die Gleichwertigkeit unterschiedlicher Gruppen verletzen. Für 35,1% der Befragten im Jahr 2007 sollten diejenigen, die schon immer hier leben, mehr Rechte haben als solche, die später zugezogen sind (2002: 40,9%; 2004: 35,5%). Und wer neu sei, solle sich erst mal mit weniger zufriedengeben; 52,8% vertreten eine solche Auffassung (2002: 57,8%; 2004: 61,5%).
2010 unterstellten 47 Prozent der Befragten, dass die meisten Arbeitslosen nicht wirklich daran interessiert seien, einen Job zu finden. 59 Prozent fänden es empörend, wenn Langzeitarbeitslose sich auf Kosten der Gesellschaft ein bequemes Leben machten.
Die Abwertung von Asylbewerbern wurde nur 2011 erfasst. Dabei lehnten 25,8 Prozent der Befragten die Aussage „Bei der Prüfung von Asylanträgen sollte der Staat großzügig sein“ ab. Fast die Hälfte der Befragten (46,7%) stimmte der Aussage „Die meisten Asylbewerber befürchten nicht wirklich, in ihrem Heimatland verfolgt zu werden“ zu.
Auch Zahlen zu Antiziganismus wurden nur 2011 erfasst. 40,1 Prozent der Deutschen hätten „(…) Probleme damit, wenn sich Sinti und Roma in meiner Gegend aufhalten“ würden. 27,7 Prozent der Befragten finden, „Sinti und Roma sollten aus den Innenstädten verbannt werden“, und 44,2 Prozent stimmen dem Satz „Sinti und Roma neigen zu Kriminalität“ zu.

Laut einer Umfrage von Emnid aus dem Jahre 2010 würde fast jeder fünfte Befragte eine „Sarrazin-Partei“ wählen.[12] LauLDie von Bundesbank-Vorstandsmitglied Thilo Sarrazin angefachte Integrationsdebatte lässt nach einer Umfrage Sympathien der Deutschen für eine bürgerliche Protestpartei zu Tage treten. Sarrazin hatte mit seinen Thesen zur angeblich mangelnden Integrationsfähigkeit von Migranten und weiteren provokanten Äußerungen für heftige Kritik gesorgt.
Wie eine repräsentative Emnid-Umfrage für die „Bild am Sonntag“ ergab, würde fast jeder fünfte Deutsche (18 Prozent) eine neue Partei wählen, wenn ihr Chef Sarrazin wäre. Besonders viel Zuspruch bekäme eine Sarrazin-Partei demnach bei Anhängern der Linkspartei (29 Prozent). Auch 17 Prozent der Unionswähler würden eine solche Formation wählen. Emnid-Chef Klaus-Peter Schöppner sagte, für diese Befragten sei Sarrazin jemand, „der endlich ausspricht, was viele denken“.
Nicht nur diese Studien führen die Extremismustheorie ad absurdum, die die theoretische Grundlage für die Veröffentlichungen des Verfassungsschutzes sowohl des Bundes als auch der Länder bildet. Die Extremismustheorie wird als „Sammelbezeichnung für unterschiedliche politische Gesinnungen und Bestrebungen“ verstanden, „die sich in der Ablehnung des demokratischen Verfassungsstaates und seiner fundamentalen Werte einig wissen.“[13]
Es handelt sich um eine Ideologie, die „die Bestandteile des demokratischen Verfassungsstaates (Gewaltenteilung, Menschen- und Bürgerrechte, Anerkennung des Pluralismus und des Repräsentationsprinzips) negieren.“[14] Im Falle der Negierung des Prinzips menschlicher Fundamentalgleichheit handelt es sich um „Rechtsextremismus“, im Falle der Ausdehnung des Gleichheitsgrundsatzes auf alle Lebensbereiche und Ablehnung der „individuellen Freiheitsrechte“ wird von „Kommunismus“ gesprochen. Als Anarchismus wird die Ablehnung jeder Form von staatlicher Gewalt bezeichnet.
Die Extremismustheorie geht davon aus, dass der „Linksextremismus“ und der „Rechtsextremismus“ einerseits weit voneinander entfernt, und andererseits dicht benachbart sind, wie die Enden eines Hufeisens. Der „Extremismus“ steht dabei als „Bedrohung“ der Demokratie gegenüber; „Extremismus“ und Demokratie bilden demnach sich ausschließende Antipoden.
Die Konzentration auf die Extreme lenkt zwangsläufig vom politischen Machtzentrum und seiner Verantwortung für die gesellschaftlichen Entwicklungen ab. Diese selbsternannte Mitte will dabei kritische und unerwünschte Positionen links und rechts von ihr ausgrenzen und bezeichnet sie als undemokratisch. Eine unleugbare Interaktion zwischen „Rechtsextremisten“ und der Mitte der Gesellschaft – wie Studien (siehe oben) beweisen – bei Themenfeldern wie Islamfeindschaft oder Einwanderung wird dabei geleugnet.[15] Die Vertreter der Extremismustheorie setzen auf einen starken Staat, der „Extremisten von links und rechts“ in Form einer „wehrhaften Demokratie“ bekämpfen soll. Dass dies Tendenzen eines autoritären Staates begünstigt, ist nicht schwer zu durchschauen.

Karl Heinz Roth bezeichnet die Extremismustheorie als eine „manichäische Schwarz-Weiß-Typologie, die aus einem Bild und einem Gegenbild besteht. Dabei fungiert die Vorderseite lediglich als normativer Ausgangspunkt. Sie stellt den ,repräsentativ demokratischen Verfassungsstaat‘ dar, der aus der weiteren Analyse ausgeblendet bleibt. Das normative Vor-Bild hat lediglich die Funktion, die ,totalitäre Diktatur‘ als Kehrseite der Gewaltenteilung und der Garantie von Menschenrechten zu entwerfen, um sie für komperativ-empirische Analysen von bestimmten Varianten des Gegen-Bilds verfügbar zu machen. Ein solches Modell ist per se reine Herrschaftsideologie.“[16]
Weiterhin wird übersehen, dass antidemokratische Tendenzen oder Gefahrenpotentiale in allen politischen Parteien, Gewerkschaften oder gesellschaftlichen Gruppen auftreten können. Butterwegge stellt fest: „Rechtsextremismus kommt aus ,der Mitte der Gesellschaft‘, ist also keineswegs ein Randphänomen. Eine nicht näher definierte Mitte grenzt somit rivalisierende Positionen links und rechts von sich aus und lässt keine Kritik an der eigenen Werthaltung zu.“[17] Die extreme Rechte kann sich nur dann etablieren, wenn die „demokratische Mitte“ – verbunden mit den staatlichen und gesellschaftlichen Institutionen – ihm nicht genügend Widerstand leistet oder sogar nationalistische Diskurse aufnimmt und weiterverbreitet (z.B. faktische Abschaffung des Asylrechts).
Die Extremismustheorie bedient sich – angelehnt an Aristoteles – einem Zentrum zwischen zwei Extremen, um den eigenen Standpunkt als legitim und mustergültig erscheinen zu lassen. Die extreme Rechte wird nicht als soziales Phänomen gesehen, das mitten in der Gesellschaft Anklang findet und sich immer weiter ausbreitet: „Gesellschaftliche Ursachenzusammenhänge wie etwa soziale Ungleichheiten, ökonomische Entwicklungen und Vorurteilsstrukturen bleiben außen vor, weil soziologische und analytische Ebenen in einer Politikwissenschaft keine Rolle spielen, wo es um die Rehabilitierung und Verteidigung der Staatsräson gegen politische Normabweichungen von Bürgern geht.“[18]
Der Ansatz der „wehrhaften Demokratie“ geht auf das Scheitern der Weimarer Republik zurück. Die Legende, dass die Weimarer Republik von rechts (Nationalsozialisten) und von links (Kommunisten) zerstört worden sei, diente dabei als Legitimationsbasis. In Wirklichkeit wurde die Weimarer Republik von oben durch die missbräuchliche Anwendung der Artikels 48 schrittweise beseitigt. Der Artikel 48 galt als Notverordnung, nach dem der Reichspräsident im Falle einer Gefährdung der öffentlichen Sicherheit die Grundrechte außer Kraft setzen konnte. Schon ab 1930 kann nicht mehr von einer demokratischen Regierung gesprochen werden, da alle Reichskanzler seit Brüning unter Bezug auf den Artikel 48 ohne Zustimmung des Parlaments regierten. 1933 wurde die Republik endgültig durch das Bündnis von Deutschnationalen und Nationalsozialisten beseitigt.
Die Verwendung des Begriffes der „Flüchtlingskrise“ oder sonstige Angstmetaphern sind sicherlich nicht hilfreich für eine Versachlichung des Diskurses. Schon Anfang der 1990er Jahre bestärkten Begriffe wie „Asylantenflut“ oder „Ausländerschwemme“, die 2015/16 unhinterfragt wiederverwendet werden, den rassistischen Diskurs. Das Wort „Flüchtlingskrise“ suggeriert auch, dass die Flüchtlinge für eine „Krise“ in der BRD sorgen würden, also Ursache des „Problems“ sind. Vielmehr sind sie in großer Zahl vor Kriegen geflüchtet, traumatisiert und aufgrund der zuweilen unzulänglichen staatlichen Organisation von Problemen betroffen.
Die jetzt herrschende Situation ist vielmehr als schwierige Herausforderung zu betrachten, die natürlich an vielen Stellen noch Mängel aufweist. Ohne ehrenamtliche Flüchtlingshelfer würden sich die institutionellen staatlichen Unzulänglichkeiten wie in Berlin zu sehen noch wesentlich verschärfen. Während Geflüchtete durch rassistische Agitationen bedroht werden, grenzt ihre „Unterbringung“ an eine humanitäre Katastrophe. Mitten in einem der reichsten Länder der Welt werden Zeltstädte oder Container errichtet, aus zahlreichen Unterkünften wird berichtet, dass den Geflüchteten nicht ausreichend Nahrung, Wasser und Hygieneartikel zur Verfügung gestellt werden und die Menschenrechte auf Gesundheit und Privatsphäre außer Kraft gesetzt sind. Wer solch einen künstlichen Notstand erzeugt, ist mitverantwortlich für die Taten der rechten Brandstifter.[19]
Die jetzige Situation lässt sich zumindest teilweise mit der nach Ende des 2.Weltkrieges vergleichen. Als damalsMillionen Flüchtlinge aus dem Osten des ehemaligen Deutschen Reiches in der Bundesrepublik kamen, gab es aber keine Hetze aus den bürgerlichen Parteien gegen diese Gruppe. Dies lag vor allem an der Tatsache, dass diese„Volksdeutsche“ waren und nicht „Ausländer“ wie 2015/2016.

Groß schreibt weiterhin: „Alexander Gauland gar hatte die Flüchtlingskrise als „Geschenk“ für seine Partei bezeichnet. Ohne Asylanten und Flüchtlinge, ohne Syrer, Iraker, Algerier und Afghanen könnte die AfD in der Tat einpacken.“
Die Feststellung, dass die AfD ohne die Diskussion um die Flüchtlingspolitik, wo sie ja selbst auch keine sachlichen Lösungen findet und nur auf dumpfe „Ausländer raus“-Agitation setzt, in Meinungsumfragen drastisch abstürzen würde, ist richtig. Allerdings ist auch der Themenbereich Islam und Islamismus in den letzten Jahren so virulent geworden, dass eine mögliche Konzentration auf dieses Thema der AfD sicherlich Zuspruch geben wird. Und das nicht nur kurzfristig, sondern auf jahrelanger Sicht.
Unter den bürgerlichen Parteien sticht besonders die CSU mit rassistischen und wohlstandschauvinistischen Parolen gegen Flüchtlinge und Ausländer im Allgemeinen hervor.
Die CSU unternimmt systematisch den Versuch, mit rassistischen und populistischen Thesen zur Flüchtlingspolitik der AfD das Wasser abzugraben und macht sich mitschuldig am angeheizten rassistischen Klima in der Gesellschaft, was direkt in Übergriffe auf Flüchtlinge oder Anschläge auf ihre Wohnheime mündet. Im Folgenden einige Beispiele:
Als am 5.9.2015 die deutsche Regierung mit Beteiligung von CSU-Ministern der Einreise von 8000 in Ungarn festgehaltener Flüchtlinge zustimmte, verurteilte der bayerische Innenminister Joachim Herrmann die Entscheidung als „völlig falsches Signal innerhalb Europas“.[20]
Der CSU-Vorsitzende Horst Seehofer kündigte Anfang Oktober 2015 an, neu ankommende Asylbewerber direkt in andere Bundesländer weiterzuleiten: „Hinzu kommen ausdrücklich auch Maßnahmen der Notwehr zur Begrenzung der Zuwanderung, wie etwa Zurückweisungen an der Grenze zu Österreich und unmittelbare Weiterleitung neu eintreffender Asylbewerber innerhalb Deutschlands.“[21]
Wenige Stunden nach den Anschlägen von Paris stellte Markus Söder (CSU) mit dem Tweet „#ParisAttacks ändert alles. Wir dürfen keine illegale und unkontrollierte Zuwanderung zulassen“ völlig zusammenhanglos einen Zusammenhang zwischen Flüchtlingen und Terrorismus her. Dies erntete Kritik aus allen Fraktionen in Bundestag. Söder hielt dem entgegen: „Die deutsche Regierung muss zuvorderst an ihre eigenen Leute denken.“ Die Regierungsmitglieder hätten sich dazu verpflichtet, das deutsche Volk zu schützen: „Sie verpflichten sich nicht, dies für die ganze Welt zu tun.“ Seehofer stellte sich vor Söder und forderte: „Wir müssen uns umgehend wieder Klarheit verschaffen, wer in unser Land kommt, wer durch unser Land fährt und wer sich hier aufhält.“[22]
Horst Seehofer forderte in der Flüchtlingspolitik von Kanzlerin Angela Merkel (CDU) kategorisch eine Kurskorrektur: „Wie man es dreht und wendet, an einer Begrenzung, einer Obergrenze führt kein Weg vorbei“.[23] Seehofers Hauptforderungen in der Flüchtlingsdiskussion waren eine Obergrenze für Asylsuchende, Transitzonen an Grenzen Bayerns, eine schnellere Bearbeitung der Asylanträge sowie schnellere Vertreibung abgelehnter Asylsuchender. Nach jüngsten Meinungsumfragen sinkt die Beliebtheit der Kanzlerin in Bayern, während Seehofers Werte auf ein Rekordhoch gestiegen sind. Daraus schloss Seehofer: „Wir sind von dem Sinkflug (der Union) nicht erfasst. Die Basis denkt wie wir.“[24]
Markus Rinderspacher, SPD-Fraktionsvorsitzende bemerkte im Bayerischen Landtag zu der rassistischen Agitation der CSU: „Wir brauchen einen politischen Diskurs, in dem auf geistige Brandstiftung verzichtet wird, da dies reale Feuerteufel nach sich zieht.”[25]
Die Zornedinger CSU-Ortschefin Sylvia Boher schrieb Mitte November im Partei-Mitteilungsblatt „Zorneding-Report“, Bayern werde derzeit von Flüchtlingen „überrannt“: „Das, was wir heute erleben, ist eine Invasion“. Migrant_innen aus Eritrea bezeichnete sie als Militärdienstflüchtlinge. Als der Pfarrgemeinderat diese Äußerungen missbilligte, bezeichnete der CSU-Ortsverbandsvize Johann Haindl den aus dem Kongo stammenden katholischen Pfarrer als „Neger“. Die oberbayerische CSU-Bezirksvorsitzende und Wirtschaftsministerin Ilse Aigner (CSU) schloss auf öffentlichen Druck Parteiausschlussverfahren gegen die Zornedinger Parteispitze nicht aus. „Wir prüfen Ordnungsmaßnahmen – von der Rüge bis zur Amtsenthebung“, sagte sie.[26]
Im Jahre 2014 wurden offiziell 77 Übergriffe auf Flüchtlinge und 35 Brandanschläge auf deren Unterkünfte gezählt. Nach einem Brandschlag in Franken stellte Heribert Prantl zu Recht fest: „Wer heute hetzerische Reden verharmlost, leistet Beihilfe zur Herstellung von Agitationscocktails. Und wer, wie 1992, von Wogen, Wellen und Massen von Flüchtlingen spricht, soll seine Hände nicht in Unschuld waschen.“[27]
In Deutschland sind 2015 789 Anschläge auf Asylbewerberunterkünfte verübt worden. Das geht aus einer Statistik des Bundeskriminalamts (BKA) hervor. Darunter seien 65 Brandstiftungen. Im gesamten Jahr 2014 waren es zum Vergleich sechs Brandanschläge gewesen. Die Zahl der Übergriffe hat sich damit 2015 im Vergleich zum Vorjahr mehr als vervierfacht.[28] Dass es bislang noch keine Toten gab, ist nichts als Zufall. Diese Anschläge sind als Mordversuche zu werten und sind keine Bagatelldelikte von „frustrierten Bürgern“ oder Neonazis.
Die Taktik der CSU besteht darin, mit rassistischen Aussagen den rechten Rand bedienen, um diese immer größer werdende Gruppe für die Koalition einzunehmen und der AfD das Wasser abzugraben. Flüchtlinge werden dabei als Gefahr dargestellt, anstatt die Fluchtursachen zu bekämpfen. Migration wird in der Semantik der Gefahren dargestellt und mit Angstmetaphern betitelt, eine sachliche Darstellung der eigentlichen Situation und zielgerichtetes Handeln nach den Prinzipien der Vernunft ist nicht erkennbar und wahrscheinlich auch gar nicht gewollt. Konkrete Fluchtursachen (Kriege, Gewalt, regionale Bürgerkriege aufgrund der westlichen Interventionen in den vergangenen Jahrzehnten, deutsche Waffenlieferungen) werden bewusst in der Debatte unterschlagen.[29] Dass die eigentliche Gefahr der teilweise rassistische Umgang mit der Situation der Flüchtlinge und die dramatisch zunehmenden Anschläge auf Unterkünfte oder rechte Gewalttaten sind, ist nur ein Nebenschauplatz. Die Situation der Flüchtlinge wird gezielt von der CSU für parteipolitische Zwecke instrumentalisiert.
In der taz stellte Tobias Schulze mit Recht fest: „Was schizophren wirkt, ist nichts anderes als die alte CSU-Strategie des Sowohl-als-auch: Einerseits erledigt sie ohne großes Aufheben ihren Job als Regierungspartei und sorgt dafür, dass Flüchtlinge ein Dach über den Kopf haben. Dazu passt auch, dass Bayern als einziges Bundesland die Unterbringungskosten der Kommunen übernimmt. Andererseits fischt die Staatsregierung mit Verbalrassismus am rechten Rand um Wählerstimmen und lässt so fleißig abschieben wie niemand sonst.“[30]

Im Zeitalter der Globalisierung bilden nicht mehr die Nationalstaaten, sondern die kosmopolitische Weltgesellschaft den Referenzrahmen des alltäglichen Denken und Handelns. Die Bedeutung der Nationalstaaten schwindet, da sie ihre ökonomische, soziale und kulturelle Steuerungsfunktion nur noch in begrenztem Maße wahrnehmen können. Die interagierende Weltgesellschaft mit ihrer kulturellen Vielfalt kann nur durch interkulturellen Dialog und Kooperation bestehen. Der Philosoph Kwame Anthony Appiah stellt zu Recht fest: „Eine Welt, in der sich Gemeinschaften klar gegenüber abgrenzen, scheint keine ernsthafte Option mehr zu sein, falls sie es denn jemals war. Abtrennung und Abschließung waren in unserer umherreisenden Spezies schon immer etwas Anormales.“[31]
Die Geschichte der Ein- und Auswanderung nach bzw. aus Deutschland zeigt eindeutig, dass es immer wieder zu einer Vermischung und Neuschöpfung von Kultur in jeglicher Form gab.[32] Die im Laufe des 17. Jahrhunderts nach Brandenburg-Preußen eingewanderten Salzburger Protestanten, holländische Fabrikanten und Handwerker sowie die französischen Glaubensflüchtlinge (Hugenotten) sind dafür das beste Beispiel. Gerhard Paul bemerkt richtigerweise: „‘Autochtone‘ Kulturen gibt es nicht. So gibt es keine reine oder ‚wahrhaft‘ deutsche Kultur.“[33]
Flucht und Migration sind Folgeerscheinungen von Kriegen, zu deren Entstehung die Bundesrepublik und andere westliche Staaten auch durch Waffenlieferungen beigetragen haben. Es gilt also auf dem Parkett der internationalen Politik für ein Ende der Kriege oder wenigstens einen vorzeitigen Frieden zu sorgen.
Als weiteres gilt, das was Aydan Ösuguz, Bundesbeauftragte für Migration, Flüchtlinge und Integration, bemerkte: „Die EU ist multikulturell, multiethnisch und multireligiös. Unsere Grundwerte verpflichten uns und diejenigen, die bei uns eine neue Heimat suchen. Besonders schutzbedürftige Personen, wie die syrischen Flüchtlinge, sollten bereits im Libanon oder Nordafrika aufgenommen und auf sicheren und legalen Wegen nach Europa gebracht werden. Sie dürfen sich nicht mehr länger in Lebensgefahr begeben, um bei uns Asyl zu beantragen. Der aktuelle Zustrom an Flüchtlingen ist die Folge dramatischer Entwicklungen in unserer Nachbarschaft. Doch die Krisen in den Herkunftsstaaten der Flüchtlinge – wie Bürgerkriege, zerfallende Staatlichkeit, Terrorismus oder Armut – werden wir nicht mit Zäunen an den Außengrenzen der EU oder Patrouillenbooten im Mittelmeer lösen. Wir müssen die Fluchtursachen bekämpfen, nicht die Flüchtlinge!“[34]

© dpa
Michael Roth ist Staatsminister für Europa im Auswärtigen Amt


[1] https://www.tabularasamagazin.de/artikel/artikel_6854/
[2] http://www.maz-online.de/Brandenburg/Polizist-hetzt-auf-Bramm-Pegida-Demonstration
[3] http://www.spiegel.de/politik/deutschland/berliner-polizist-und-afd-mitglied-unter-rechtsextremismus-verdacht-a-1059295.html
[4] Weitere Erläuterungen unter http://www.pnn.de/brandenburg-berlin/1031220/
[5] http://www.spiegel.de/politik/deutschland/berliner-polizist-und-afd-mitglied-unter-rechtsextremismus-verdacht-a-1059295.html
[6] http://www.svz.de/regionales/mecklenburg-vorpommern/afd-mitglied-nach-reizgasattacke-an-polizeischule-versetzt-id8193526.html
[7] www.pnn.de/brandenburg-berlin/1031220/
[8] http://www.elementarteile.de/2006/11/06/nazis-bei-der-polizei/
[9] Zu extrem rechten Einstellungen vor 1989 in der Bundesrepublik siehe: Nationalrat der Nationalen Front des Demokratischen Deutschland. Dokumentationszentrum der Staatlichen Archivverwaltung der DDR (Hrsg.): „Braunbuch“. Kriegs- und Naziverbrecher in der Bundesrepublik und in West-Berlin. Staat, Wirtschaft, Verwaltung, Armee, Justiz, Wissenschaft, 3. Auflage, Berlin 1968; Herbart, U.: NS-Eliten in der Bundesrepublik. Bestrafung-Tolerierung-Integration, in: Teppe, K./Thamer, H.-U. (Hrsg.): 50 Jahre Nordrhein-Westfalen. Land im Wandel, Münster 1998, S. 7-22; Kühnl, R.: Die NPD. Struktur, Programm und Ideologie einer neofaschistischen Partei, Berlin 1967; Kühnl, R./Rilling, R./Sager, C.: Die NPD. Struktur, Ideologie und Funktion einer neofaschistischen Partei, 2. Auflage, Frankfurt/M. 1969; Liepelt, K.: Anhänger der neuen Rechtspartei, Berlin 1967; Maier, H./Bott, H.: Die NPD. Struktur und Ideologie einer nationalen Rechtspartei, 2.Auflage, München 1968 Zur Entnazifizierung in den Westzonen siehe Niethammer, L.: Die Mitläuferfabrik. Die Entnazifizierung am Beispiel Bayerns, 2. Auflage, Berlin 1982; Funke, H. (Hrsg.): Von der Gnade einer geschenkten Nation. Zur politischen Moral der Bonner Republik, Berlin 1988; Krüger, W.: Entnazifiziert! Zur Praxis der politischen Säuberungen in Nordrhein-Westfalen, Wuppertal 1982; Peukert, D./Bajohr, F.: Rechtsradikalismus in Deutschland, Hamburg 1990
[10] http://www.fes-gegen-rechtsextremismus.de/pdf_14/141120pressemitteilung.pdf
[11] Deutsche Zustände. Folge 1. Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2002,Deutsche Zustände. Folge 2. Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2003, Deutsche Zustände. Folge 3. Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2004, Deutsche Zustände. Folge 4. Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2005,Deutsche Zustände. Folge 5. Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2006, Deutsche Zustände. Folge 6. Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2007, Deutsche Zustände. Folge 7. Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2008, Deutsche Zustände. Folge 8. Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2009, Deutsche Zustände. Folge 9. Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2010, Deutsche Zustände. Folge 10. Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2011

[12] http://www.welt.de/politik/deutschland/article9409117/Jeder-fuenfte-Deutsche-wuerde-Sarrazin-Partei-waehlen.html
[13] Backes, U./Jesse, E.: Politischer Extremismus in der Bundesrepublik Deutschland, 3. Auflage, Bonn 1993, S. 40ff
[14] Ebd.
[15] Vgl. dazu die Ausführungen von Wolfgang Wippermann in: http://jungle-world.com/artikel/2009/10/32822.html
[16] Jaschke, H.-G.: Staatliche Institutionen und Rechtsextremismus, in: Kowalsky, W./Schröder, W. (Hrsg.): Rechtsextremismus. Einführung und Forschungsbilanz, Opladen 1997, S. 9-53, hier S. 23
[17] Butterwegge, C.: Entwicklung, gegenwärtiger Stand und Perspektiven der Rechtsextremismusforschung, in: Ders.:/Griese, B./Krüger, C. u.a.: Rechtsextremisten in Parlamenten, Opladen 1997, S. 9-53, hier S. 34
[18] Jaschke, H.-G.: Staatliche Institutionen und Rechtsextremismus, in: Kowalsky, W./Schröder, W. (Hrsg.): Rechtsextremismus. Einführung und Forschungsbilanz, Opladen 1997, S. 9-53, hier S. 25
[19] http://www.disskursiv.de/2015/08/25/diss-presseerklaerung-das-problem-heisst-rassismus/
[20] www.tagesspiegel.de/politik/newsblog-zu-fluechtlingen-csu-sauer-auf-die-kanzlerin-linke-geben-usa-schuld-an-krise/12282848.html
[21] Abendzeitung München, 8.10.2015
[22] http://www.mz-web.de/politik/-terror-von-paris-sote-soeder-zusammenhang-terror-fluechtlinge,20642162,32421910.html#plx927164031
[23] www.derwesten.de/politik/csu-will-merkel-bei-parteitag-wegen-fluechtlingen-unter-druck-setzen-id11304786.html
[24] Ebd.
[25] SZ, 17. Juli 2015, S. 37
[26] http://www.sueddeutsche.de/bayern/zorneding-das-schwarze-loch-der-csu-1.2717296
[27] SZ 13.12.2014, S. 4
[28] http://www.derwesten.de/politik/789-anschlaege-auf-fluechtlingsheime-seit-jahresbeginn-id11365088.html#plx296536233
[29] www.tagesspiegel.de/politik/newsblog-zu-fluechtlingen-csu-sauer-auf-die-kanzlerin-linke-geben-usa-schuld-an-krise/12282848.html
[30] www.genios.de/presse-archiv/artikel/TAZ/20150903/-dachzeiletobias-schulze-ueber-die/T150903.5226261.html
[31] Appiah, K.A.: Der Kosmopolit. Philosophie des Weltbürgertums, München 2009, S. 19
[32] Bade, K.J.: Europa in Bewegung: Migration vom späten 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, München 2000 oder Bade, K.J. (Hrsg.), Deutsche im Ausland – Fremde in Deutschland: Migration in Geschichte und Gegenwart, München 1992
[33] Paul, Einführung in die interkulturelle Philosophie, a.a.O., S. 19
[34] http://www.faz.net/aktuell/politik/europaeische-union/gastbeitrag-die-fluchtursachen-bekaempfen-nicht-die-fluechtlinge-13597358.html

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Über Michael Lausberg 545 Artikel
Dr. phil. Michael Lausberg, studierte Philosophie, Mittlere und Neuere Geschichte an den Universitäten Köln, Aachen und Amsterdam. Derzeit promoviert er sich mit dem Thema „Rechtsextremismus in Nordrhein-Westfalen 1946-1971“. Er schrieb u. a. Monographien zu Kurt Hahn, zu den Hugenotten, zu Bakunin und zu Kant. Zuletzt erschien „DDR 1946-1961“ im tecum-Verlag.

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