Europa steht vor einer Zerreißprobe

Flaggen in Erfurt an der Staatskanzlei, Foto: Stefan Groß

Nach einem jahrelangen Einheitskurs wird in Brüssel nun über ein Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten nachgedacht. Die Idee Europas bröckelt, das hat nun auch Jean-Claude Juncker eingesehen und plädiert für ein Europa der „konzentrischen Kreise“. Doch an der europäischen Spaltung ist Brüssel letztendlich nicht ganz unschuldig. Ein neues „Weißbuch“ hat verschiedene Szenarien im Blick.

Ob Karl der Große, Nikolaus von Kues oder Erasmus von Rotterdam – die großen Denker des Abendlandes hatten eine Vision: ein großes und friedliches Europa, doch ohne dabei der heutigen Illusion und Vision zu erliegen, das nationale Interesse zugunsten eines absoluten Hegemon aufzugeben. Vieles von dem, was wir als Errungenschaften der Moderne und der Aufklärung als den Geist Europas heute feiern, zählte bereits zum Gedankengut eines Erasmus von Rotterdam. Der gelehrte Theologe war ein Vorzeigeeuropäer und darüber hinaus ein Repräsentant eines europäischen Humanismus. Er warb nicht nur für die heute viel beschworene Religionsfreiheit, sondern gab auch moralische Anweisungen in Form eines „Fürstenspiegels“. Mit seiner „Die Klage des Friedens“ schrieb er eine der pazifistischsten Hauptschriften des Abendlandes. Das heutige Europa war und ist ohne den Geist der Humanisten undenkbar. Doch die Zeiten haben sich geändert!

Über die EU muss selbst Putin lachen

Kommen jetzt Europa-Dämmerung und der berühmte „Abschied vom Prinzipiellen“? Ideologien allesamt, dies hatte bereits der Philosoph Odo Marquard postuliert, sind in der Moderne obsolet geworden. Sie vermögen keinen Allgemeinheits-, Universal – und absoluten Wahrheitsanspruch mehr zu erheben. An die Stelle universaler Geltungsansprüche ist die Skepsis und die Philosophie des „Stattdessen“ getreten.

Ein Blick über den Himmel Europas zeigt; die jugendliche Morgenröte ist der Dämmerung gewichen. Dunkle Wolken haben sich zusammengebraut. Von der einstigen Aufbruchsstimmung eines Helmut Kohl und Francois Mitterand ist wenig geblieben. Der Brexit war nur die blasse Vorahnung dessen, was Europaskeptiker und Euro-Kritiker immer schon voraussagten. Schon früh warnten Ökonomen vor einem Tsunami, der auf die Festungen in Brüssel und Strassburg ungebrochen zurast – doch die Stimmen der ewigen Nörgler verblassten im Herrschaftsschein der sich szenisch inszenierenden europäischen Politelite, die kritikresistent blieb.

Ob die mahnenden Stimmen von Hans Olaf Henkel oder Hans-Werner Sinn, sie wurden in die Skepsis-Ecke gestellt oder als purer Populismus gebrandmarkt. Schon vor Jahren kritisierte Henkel die europäische Realitätsverweigerung, die dogmatischen Herrschaftsstrukturen, entlarvte den Schein vom dogmatischen Gemeinschaftsinteresse als Selbstzweck, der darin kulminiere, dass sich die EU nur noch durch bloße „Absichtserklärungen legitimieren“ kann. Henkel sprach von einer „selbst erschaffenen Ideologie“ und monierte den absurden „Zehnjahresplan zur Zentralisierung der Fiskalpolitik“. „Die EU sei“, so Henkel, „nur noch da, um sich selbst zu retten.“ Zuerst sich, dann die Kommissare, dann die über 700 Abgeordneten und zuletzt die 60.000 Mitarbeiter.
Das Euro-Projekt deklassifizierte Henkel somit als „abgehobenes Elitenprojekt“ und erklärte es für gescheitert. Selbst der russische Oligarch Putin „kann über die Armee einer handlungsunfähigen und krisengeplagten EU doch nur lachen.“

Auch der Ökonom Hans Werner Sinn warnte jüngst in dieser Zeitung, dass der „eingeschlagene Weg“ durchaus „nicht alternativlos“ sei. Der derzeitige Kurs allerdings „führt nicht nach Europa, sondern zu einer Schuldenunion, von der man befürchten muss, dass sie viel Streit und Hass zwischen den Völkern Europas erzeugen wird.“ Die Prophezeiungen beider Denker gehören mittlerweile zur traurigen und bitteren Realität eines zerrissenen Kontinents, der einer Illusion nachjagt, deren Realisierung aber, um mit Heidegger zu sprechen, nicht mehr vertraut und „zuhanden“, sondern lediglich „vorhanden“ – abstrakt ist.

Die europäische Planwirtschaft funktioniert nicht

Der Traum von den Vereinigten Staaten Europa hat in den letzten Monaten einen Dämpfer nach dem anderen erhalten. Die Idee von Europa als geeinter Lokomotive, die alle Länder wie einen gemütlichen Speisewagen hinter sich herzieht und für die Bewirtung aller sorgt, beginnt immer schneller zu bröckeln. Ob bei der Asylpolitik oder bei der Arbeitslosigkeit in den Südländern, der Griechenlandfinanzierung und dem finanziell maroden Italien – Europa als Hegemon, der von Brüssel aus zentral und monadologisch die Geschicke der Länder lenkt, muss sich nun zumindest eingestehen, dass eine europäische Planwirtschaft auf Dauer nicht funktioniert. Ob Brexit, ein möglicher Nexit, das Erstarken der Rechtspopulisten und Eurokritiker – bislang hatte man den Willen der Bürger Europas geflissentlich ignoriert. Nun bezahlt man die Zeche für die Politik der verschlossenen Augen. Wie ein schnurrender Parteiapparat aus längst vergessenen Tagen des Kommunismus agierte das politische Brüssel. Und das Erstarken von nationalen Interessen sowie die Konjunktur eines heraufziehenden Rechtspopulismus à la Björn Höcke, Geert Wilders und Marine Le Pen resultieren letztendlich aus dem Versagen der EU-Institutionen und ihrer Realitätsferne, die jede Kritik als ein vorübergehendes und belangloses Phänomen einstufte. Und mit der Flüchtlingskrise im Jahr 2015 ist die EU nur noch zum schlichtenden Schiedsrichter auf einem Spielfeld geworden, wo die Akteure in alle Richtungen spielen, nur eben nicht mehr in das gleiche Tor.

Ein Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten

„Auf jede Krise kennt die EU nur eine Antwort: mehr Europa“ hatte Hans-Olaf Henkel einst im „Focus“ geschrieben. Doch das Goldene Zeitalter von mehr Europa ist jetzt Geschichte. Nachdem bereits Bundeskanzlerin Angela Merkel für ein Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten geworben hatte, plädiert nun auch EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker dafür. „Wir können viel gemeinsam tun, aber es ist nicht mehr zeitgemäß anzunehmen, dass wir alle zusammen dasselbe machen könnten“, so Juncker. Im belgischen Louvain-la-Neuve sagte er: „Wollen wir als 28 voranschreiten – wir haben den 28. schon verloren – oder muss es nicht so sein, dass die, die schneller voranschreiten wollen, dies tun können, ohne die anderen zu stören, und dabei ein strukturierteres Gebilde schaffen, das für alle offen ist?“

Das neue “Weißbuch” für die Zukunft Europas

Auch im neuen „Weißbuch“ über die Zukunft Europas, das am 1. März 2017 vorgestellt wurde, ist das Modell der „konzentrischen Kreise“, in dem nicht alle Staaten gleich eng zusammenarbeiten, ein mögliches Szenario. Demnach hat das künftige „Gebilde“ Europa einen Kern und verschiedene Kreise. Im Mittelpunkt stehe die „Koalition der Willigen“, die „Vorhut“ und die Vordenker Europas, im „Orbit“ kreisen dann all jene, die den Ehrgeiz der Integration nicht teilen – die Türkei inklusive.

Neben dem Szenario der verschiedenen Geschwindigkeiten spielt Juncker vier weitere durch, ohne sich allerdings auf eines festzulegen.

  1. es bleibt alles so wie es ist
  2. die Fokussierung auf den Binnenmarkt und Entscheidungsfreiheit bei Fragen der Migration, Sicherheit oder Verteidigung
  3. die EU konzentriert sich auf ihre begrenzten Ressourcen, arbeitet so effizienter und greift in regionale Entwicklungen nicht mehr ein
  4. die Utopie von der ganz großen Zusammenarbeit – oder anders gesagt: noch mehr Europa!

Für die Befürworter Europas jedenfalls wäre dies (4.) das wünschenswerteste Szenario, für die Kritiker allerdings eine Horrorvision, weil alle Macht dann letztendlich von Brüssel ausginge und die Nationalstaaten das Nachsehen hätten und mit ihren Entscheidungen restlos abgehängt würden.

Für welches Szenario Brüssel sich dann endgültig entscheidet, bleibt abzuwarten. Wichtiger jedenfalls ist, dass man sich in der EU überhaupt einmal realitätsnähere Gedanken über die Zukunft macht. Vielleicht kann man die grandiose europäische Idee dann doch noch retten. Zu wünschen wäre es.

 

 

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Über Stefan Groß-Lobkowicz 2127 Artikel
Dr. Dr. Stefan Groß-Lobkowicz, Magister und DEA-Master (* 5. Februar 1972 in Jena) ist ein deutscher Philosoph, Journalist, Publizist und Herausgeber. Er war von 2017 bis 2022 Chefredakteur des Debattenmagazins The European. Davor war er stellvertretender Chefredakteur und bis 2022 Chefredakteur des Kulturmagazins „Die Gazette“. Davor arbeitete er als Chef vom Dienst für die WEIMER MEDIA GROUP. Groß studierte Philosophie, Theologie und Kunstgeschichte in Jena und München. Seit 1992 ist er Chefredakteur, Herausgeber und Publizist der von ihm mitbegründeten TABVLA RASA, Jenenser Zeitschrift für kritisches Denken. An der Friedrich-Schiller-Universität Jena arbeitete und dozierte er ab 1993 zunächst in Praktischer und ab 2002 in Antiker Philosophie. Dort promovierte er 2002 mit einer Arbeit zu Karl Christian Friedrich Krause (erschienen 2002 und 2007), in der Groß das Verhältnis von Metaphysik und Transzendentalphilosophie kritisch konstruiert. Eine zweite Promotion folgte an der "Universidad Pontificia Comillas" in Madrid. Groß ist Stiftungsrat und Pressesprecher der Joseph Ratzinger Papst Benedikt XVI.-Stiftung. Er ist Mitglied der Europäischen Bewegung Deutschland Bayerns, Geschäftsführer und Pressesprecher. Er war Pressesprecher des Zentrums für Arbeitnehmerfragen in Bayern (EZAB Bayern). Seit November 2021 ist er Mitglied der Päpstlichen Stiftung Centesimus Annus Pro Pontifice. Ein Teil seiner Aufsätze beschäftigt sich mit kunstästhetischen Reflexionen und einer epistemologischen Bezugnahme auf Wolfgang Cramers rationalistische Metaphysik. Von August 2005 bis September 2006 war er Ressortleiter für Cicero. Groß-Lobkowicz ist Autor mehrerer Bücher und schreibt u.a. für den "Focus", die "Tagespost".

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