Familien- und Weltstumpfsinn: Ein Verkümmerungsprozess

„Wir sagen ein Wort und vernichten einen Menschen, ohne dass dieser von uns vernichtete Mensch in dem Augenblick, in welchem wir das ihn vernichtende Wort aussprechen, von dieser tödlichen Tatsache Kenntnis hat, dachte ich. Noch ahnt ein solcher mit einem solchen tödlichen Wort als tödlicher Begriff Konfrontierter von der tödlichen Wirkung dieses Wortes und seines Begriffs nichts, dachte ich.“
Niemand anderer als der weltberühmte kanadische Pianist Glenn Gould spricht das vernichtende Wort aus. Und zwar zu einem Freund, zu seinem Mitstudenten Wertheimer, der gemeinsam mit ihm und dem Ich-Erzähler einen Sommerkurs bei Horowitz im Mozarteum in Salzburg belegt.
Drei aufstrebende junge Pianisten begegnen sich dort. Zurück bleibt ein überragender Könner – ein „Virtuosenkopf“ – und zwei „Verstandesköpfe“, die ihre Klaviere verschenken bzw. versteigern und auf „dilettantisches Worte-nieder-schreiben“ umsatteln. Keine aufstrebenden, sondern Lebensabbruchkünstler sind sie geworden, keine Existenzbeherrscher, sondern Menschen, die von ihrer Existenz beherrscht werden: letztendlich Selbstzerstörer. „Wir machen immer wieder den Versuch, aus uns herauszuschlüpfen, aber wir scheitern in diesem Versuch, lassen uns immer wieder auf den Kopf schlagen, weil wir nicht einsehen wollen, dass wir uns nicht entschlüpfen können, es sei denn durch den Tod.“
Der endlose Gedankenstrom des Ich-Erzählers, der eher an eine Rhapsodie als ein literarisches Werk erinnert, mäandert um den Selbstmord des „Untergehers“. Er beleuchtet, analysiert und rekonstruiert ihn. Der wirkliche Mittelpunkt dieser Beschreibung ist allerdings fraglich: Glenn Gould, Wertheimer oder gar der Erzähler selbst sind nur literarische Protagonisten. Beim Nachsinnen über das Wesen der Freundschaft dieses Dreigestirns, dem Wesen der Kunst, Gedanken um Talent und dessen Grenzen, um Fleiß und Ehrgeiz oder um das Erkennen der eigenen Fähigkeiten, offenbart der Ich-Erzähler gleichfalls viel mehr über sich selbst, als es den Anschein hat. „Der Untergeher“ ist letztendlich eine Geschichte der Flucht vor der eigenen Schuld und Verantwortung.
Die gesamten Seiten sind ein einziger Blocksatz, ein einziger langer Paragraph ohne Absätze, geschweige denn Kapiteleinteilungen. Der Monolog des Ich-Erzählers wird durch die fast schon penetranten Einschübe „ich dachte“ relativiert. Man weiß nicht genau: passiert das Erzählte so, oder dachte es sich der Erzähler nur. Spiralförmig oder auch in Variationen wiederholt Bernhard immer wieder dieselben Szenen. Als roten Faden, als Grundgerüst, webt er die Goldbergvariationen von Johann Sebastian Bach ein. „'Zur Gemüthsergetzung' waren sie ursprünglich komponiert worden und haben fast zweihundertfünfzig Jahre danach einen hoffnungslosen Menschen, eben Wertheimer, umgebracht.“
„… wenn wir genau sind in der Beobachtung unserer Umwelt, stellen wir fest, dass diese Umwelt fast nur aus solchen Untergehern zusammengesetzt ist (…) Wir haben es immer wieder mit solchen Untergehern und mit solchen Sackgassenmenschen zu tun, sagte ich mir und ging rasch gegen den Wind.“ Ein „Gegen-den-Wind-Geher“ ist zweifelsohne auch der österreichische Autor, der „große Allesbeschimpfer“, der zu Lebzeiten als der bestgehasste, tiefstverabscheute, meistverunglimpfte Schriftsteller seines Heimatlandes gehandelt wurde. Auch heute weiß er noch die Reihen zu spalten. Sich der Person Thomas Bernhard zu nähern ist allerdings nicht einfach. Zu sehr polarisiert er, zu kompromisslos treffen bei ihm Dichtung und Wahrheit aufeinander und verzahnen sich. Entweder man liebt diesen radikal offenen, großartigen Stilisten oder man lehnt ihn als Misanthrop, knorrigen Grantler, als „Unterganghofer“ kategorisch ab. Aber vielleicht steckt ein kleines bisschen Wahrheit darin, wenn dieser grandiose Weltanschauungskünstler denkt gesagt zu haben: „…unser Unglück ist die Voraussetzung dafür, dass wir auch glücklich sein können, nur über den Umweg des Unglücks können wir glücklich sein…“

Thomas Bernhard
Der Untergeher
Suhrkamp Verlag, Berlin (September 2010)
103 Seiten, Gebunden
ISBN-10: 978-351842170
ISBN-13: 978-3518421703
Preis: 14,90 EURO

Finanzen

Über Heike Geilen 597 Artikel
Heike Geilen, geboren 1963, studierte Bauingenieurswesen an der Technischen Universität Cottbus. Sie arbeitet als freie Autorin und Rezensentin für verschiedene Literaturportale. Von ihr ist eine Vielzahl von Rezensionen zu unterschiedlichsten Themen im Internet zu finden.

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