Gegründet von Kurfürst August dem Starken – Das Zuchthaus Waldheim wird 300 Jahre alt

Im Juni 1850 hielt im Morgengrauen auf einer Anhöhe vor Waldheim in Sachsen eine mit Pferden bespannte Kutsche, in der der Revolutionär August Röckel (1814-1876) saß. Er war wegen Beteiligung am Dresdner Mai-Aufstand 1849 zunächst zum Tode verurteilt worden, hatte ein reichliches Jahr auf der Festung Königstein im Elbsandsteingebirge verbracht und war nun von König Friedrich August (1797-1854) zu einer lebenslangen Zuchthausstrafe begnadigt worden. Der Wagen war, begleitet von einem Gerichtsdiener und zwei Unteroffizieren, die Nacht durchgefahren, um den politischen Gefangenen fristgerecht abzuliefern. In seinen Erinnerungen „Sachsen Erhebung und das Zuchthaus zu Waldheim“ (1863) schrieb August Röckel Jahre später: „Wir hatten endlich einen Hügel erstiegen, vor dem sich ein wunderbar schönes Flusstal ausbreitete, in deren Mitte, von Höhen umschlossen, ein Städtchen lag…Fünf Minuten später hielt der Wagen vor dem Tor des Zuchthauses. Der Gerichtsdiener schellte; das Tor wurde geöffnet und schloss sich wieder hinter mir – auf mehr denn elf Jahre.“
August Röckel, Musikdirektoram Dresdner Hof, war nicht der einzige Revolutionär, der damals in Waldheim einsaß, auch der Kreisamtmann Otto Leonhard Heubner (1812-1893) aus Freiberg/Sachsen und der Leipziger Schriftsteller Theodor Oelckers (1816-1869) waren dort, neben 250 namenlosen Aufständischen, für zehn Jahre eingesperrt, während nach Hofkapellmeister Richard Wagner (1813-1883), der nach Weimar hatte entkommen können, steckbrieflich gefahndet („…ist aber nicht zu erlangen gewesen“) wurde.
Ein Jahrhundert nach August Röckels Entlassung 1862, traf ich, am 2. September 1962, im Zuchthaus Waldheim ein. Wir Neuankömmlinge verbrachten die erste Nacht im „Kuhstall“, einem Relikt aus der Feudalzeit, als die Strafanstalt noch Jagdschloss der sächsischen Kurfürsten gewesen war. Am nächsten Morgen wurden wir ins neue Zellenhaus geführt, das 1886 errichtet worden war und das von den Gefangenen, weil es wie ein Ozeandampfer aussah, nur die „Bremen“ genannt wurde. Später, als ich aus dem Zellenfenster im vierten Stock blickte, sah ich auf dem Turm gegenüber eine Wetterfahne, die die Jahreszahl 1779 trug. Waren wir im 18. Jahrhundert angekommen? Damals, 1779, war Goethe 30 Jahre alt und lebte schon in Weimar. Jahre später, 1790 und 1813, hat er im „Goldenen Löwen“ zu Waldheim übernachtet, einmal nach der Rückkehr aus Schlesien, einmal von den böhmischen Bädern kommend.
Das Zuchthaus war noch 1404 eine alte Burganlage, die dann in ein Augustinerkloster umgewandelt wurde, das aber schon anderthalb Jahrhunderte später, während der Reformationszeit 1549, wieder aufgelöst wurde. Danach kaufte der sächsische Kurfürst Christian I. (1560-1591) das leerstehende Gebäude und ließ es zu einem Jagdschloss umbauen, das aber nach dem Dreißigjährigen Krieg 1618/48 verfiel. Dieser langanhaltende Glaubenskrieg zwischen Katholiken und Protestanten war, weil das Bettel- und Bandenwesen zu einer furchtbaren Landplage geworden war, der Grund dafür, dass Kurfürst August der Starke (1670-1733) in Waldheim, das verkehrsgünstig zwischen Chemnitz, Dresden und Leipzig lag, ein „Zucht-, Waisen- und Armenhaus“ errichtete, dessen Einweihung am 3./4. April 1716 erfolgte; die heute noch existierende Linde vor der Anstaltskirche, die 1969 von der „Volkspolizei“ in eine Turnhalle umgewandelt wurde, war 1719 gepflanzt worden. Unter dieser Linde stand ich am 21. August 1964, als die „Staatssicherheit“ uns von der Bundesregierung freigekauften Häftlinge nach Berlin-Hohenschönhausen fuhr.
Im 19./20. Jahrhundert, besonders im „Dritten Reich“ und zu DDR-Zeiten, war Waldheim auch der Ort, wo politische Gefangene weggeschlossen wurden. In den Jahren 1933/45 saßen dort die Kommunisten und späteren DDR-Politiker Fritz Selbmann (1899-1975) und Horst Sindermann (1915-1990) und 1950/60 der aus dem Erzgebirge stammende Oberschüler Hermann Joseph Flade (1932-1980), der zunächst, weil er DDR-kritische Flugblätter in Hausbriefkästen gesteckt hatte, zum Tode verurteilt worden war. Dass auch der Lehrer und später als Schriftsteller berühmt gewordene Karl May (1842-1912) dort 1869/74 eingesessen hat, wenn auch nicht aus politischen Gründen, und beim Geschichtenerzählen während der Arbeit zum Schriftsteller wurde, hat sein sächsischer Landsmann Erich Loest einfühlsam in seinem Roman „Swallow, mein wackerer Mustang“ (1980) beschrieben.
In den 100 Jahren seit August Röckels Entlassung hatte sich an den Verhältnissen im Zuchthaus Waldheim wenig verändert und manches verschlechtert. Wir verurteilten Häftlinge, die am 2. September 1962 aus Leipzig eingetroffen waren, wurden die erste Nacht im „Kuhstall“ untergebracht, einem Relikt aus der Feudalzeit, als Waldheim noch Jagdschloss der Kurfürsten war. In das neue Zellenhaus kamen wir am nächsten Morgen. Hier hausten Hunderte von Strafgefangenen zu viert in Zellen von 9,20 Quadratmetern Größe, die nur für zwei Leute vorgesehen waren, wie an der Tür zu lesen stand. Der Raum in den Zellen, die offiziell „Verwahrräume“ hießen, war noch beengter dadurch, dass zwei Doppelpritschen darinstanden. Fließendes Wasser gab es wie zu August Röckels Zeiten nicht, dafür aber einen Krug und vier Waschschüsseln. In der Ecke unter dem Fenster stand ein stinkender Kübel für unsere Notdurft, der täglich um 4.00 Uhr, wenn wir geweckt wurden, in die Kübelzelle gebracht und entleert werden musste. Dieser Kübel wurde auch dann von Gefangenen, die beispielsweise an Durchfall litten, benutzt, wenn andere Gefangene an der Tischplatte aßen. Als ich diese hygienischen Zustände einmal zwei hohen Offizieren der „Volkspolizei“ gegenüber ansprach, meinten sie nur, bis 1970 wären ohnehin alle DDR-Bürger umerzogen, dann bräuchte man keine Zuchthäuser mehr! Immerhin wurden die Gefangenen nicht mehr, wie es in August Röckels Buch zu lesen ist, „Zum Willkomm ausgepeitscht!“
Um 5.30 Uhr mussten wir auf dem Hof vor der „Bremen“ antreten, dann wurde abgezählt, ob nicht einer über Nacht geflohen war. Die Arbeit für die Firma „Elmo“ (VEB Elektromotorenwerk Hartha) dauerte von 6.00 bis 14.30 Uhr, danach waren Körperreinigung in der Waschkaue angesagt und „Freistunde“, wo wir in Fünferreihen über den Zuchthaushof marschierten. Anschließend stiegen wir die Treppen in der „Bremen“ nach oben und warteten vor unseren Zellen, wo bereits die Kaltverpflegung abgelegt war. Unser Feierabend waren die drei Stunden von 16.00 bis 19.00 Uhr, wo wir Bücher lasen oder die langweiligen DDR-Zeitungen wie „Neues Deutschland“. Die Zuchthausbücherei, auch das muss gesagt werden, war vorzüglich ausgestattet. An deutscher Literatur war fast alles von Goethe bis Thomas Mann vertreten, auch Romane des Amerikaners Thomas Wolfe gab es, weiterhin jede Menge Sowjet- und DRR-Literatur, denn wir sollten im Sinne des Sozialismus „umerzogen“ werden. Wenn man Werke von Marx und Engels lesen wollte, brauchte man eine Sondergenehmigung. Der Kulturhauptmann der „Volkspolizei“ konfiszierte im Sommer 1963 von Dostojewski die „Aufzeichnungen aus einem Totenhaus“ (1861/62) und von Bruno Apitz den Roman „Nackt unter Wölfen“ (1958), weil Gefangene mit Bleistift hämische Bemerkungen hineingeschrieben hatten. Es gab auch einen Gefangenenchor und eine Theatergruppe, die im Kultursaal hinter der „Bremen“ übten. Dort hatten wir auch alle zwei Wochen politische Schulung, wo uns Vertreter der „Nationalen Front“ über die Vorzüge des Sozialismus belehrten, oder wo wir spannende Filme sehen durften wie „Ernst Thälmann. Sohn seiner Klasse“ (1954) und „Ernst Thälmann. Führer seiner Klasse“ (1955).
Wenn man heute in Waldheim durch den Strafvollzug in der „Bremen“ geführt wird, kann man nur staunen darüber, was den 400 Häftlingen dort an Vergünstigungen geboten wird. Alle Häftlinge leben in Einzelzellen, die von innen verschließbar sind. Sie verfügen über Fernseher, Radios, Plattenspieler und Computer, auf dem Flur gibt es Telefonapparate, wo sie Verwandte und Freunde anrufen können, in der Küche können sie sich Essen kochen oder Kuchen backen. In der Freistunde dürfen sie über den Hof schlendern, wo es ein riesiges Schachbrett gibt mit Sitzbänken. Es fehlt nur noch, dass Justizvollzugsbeamte mit einem Schreibblock von Mann zu Mann gehen: „Wünschen der Herr Strafgefangene den Kaffee mit Milch der mit Zucker?“

Über Jörg Bernhard Bilke 251 Artikel
Dr. Jörg Bernhard Bilke, geboren 1937, studierte u.a. Klassische Philologie, Gemanistik und Geschichte in Berlin und wurde über das Frühwerk von Anna Seghers promoviert. Er war Kulturredakteur der Tageszeitung "Die Welt" und später Chefredakteur der Kulturpolitischen Korrespondenz in der Stiftung ostdeutscher Kulturrat.

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