Geht das merkelanische Zeitalter zu Ende? Muss Merkel gehen? Nein, aber…

Noch 2015 war sie die Königin der Herzen, unangefochten regierte Angela Merkel das Land. Man hatte sich weitgehend mit ihr arrangiert, denn sie steuerte Deutschland aus einer Krise nach der anderen. Verziehen war ihr, dass sie peu à peu die CDU sozialdemokratisiert hatte, das C weitgehend aus der Partei tilgte und als vollkommene Ich-AG wie ein Ozeandampfer still und majestätisch die stürmischen Wogen auf der Bühne Europas und der Weltpolitik glättete. Ihre Partei hatte sie sorgsam aus der bürgerlichen Mitte heraus an den linken Rand getragen. Aber auch dies wurde ihr verziehen. Merkels CDU wurde in den zehn Jahren ihrer Kanzlerschaft ein Sammelsurium fast aller politischen Meinungen, die einst diametral einander gegenüberstanden. Sie hat in den letzten Jahren damit den Parteien aller Couleur den Wind aus den Segeln genommen und das Projekt der Adaption unterschiedlicher Programme perfektioniert. Mit Merkel wurde die CDU zu einem rundum Wohlfühlpaket, dass auch Kritiker besänftigte bzw. neutralisierte. Merkel hatte es geschafft, die Bundesrepublik zu entpolitisieren und letztendlich zu einer spießbürgerlichen Gartenidylle gemacht, in der es sich gut leben ließ. Das angelanische Zeitalter verströmte Behaglichkeit und in Merkelland, Merkelhand, konnte man durchaus sein lebensweltliches Glück finden. Wellness fürs Gemüt war die ausgegebene und gelebte Parole. Tugenden wie Ataraxie, Unerschütterlichkeit des Gemütes, stoische Apathie, Freiheit von Affekten wie Lust, Unmut oder Neid, Autarkie, Selbstgenügsamkeit, zählten zu den ethischen Stärken der weisen und abgeklärten Staatslenkerin, die nicht wie Gerhard Schröder brachial und wortstark die Insignien der Macht wie einen Bauchladen vor sich hertrug, sich der politischen Macht mit Machogesten versicherte. Merkel agierte fast geräuschlos. Sie blieb bescheiden wie einst das junge Mädchen von Helmut Kohl, wenngleich sich hinter der bescheiden wirkenden Fassade das Kalkül der machtpolitischen Regentin peu à peu verfestigte. 2016 strahlt Angela Merkel nun noch wenig davon aus, sie ist gealtert, wirkt aggressiv. In der Flüchtlingsfrage regiert sie mit apodiktischem Starsinn, der mit Realitätsverlust Hand in Hand geht. Derartiges kannte man bislang von den alten Granden aus dem Kreml und aus der DDR mit dem greisen Erich Honecker und dem noch greiseren Erich Mielke – bei einer frei gewählten Kanzlerin in einer Demokratie ist dieses Phänomen neu.

Mitleid kann keine Triebfeder des politischen Handelns sein
Der dritte September 2015, ein kleiner toter Junge am Strand, mittlerweile das Symbol für das Flüchtlingsdrama, hat die Bundeskanzlerin und mit ihr eine ganze Nation erschüttert. Die Logikerin und Physikerin war gefordert, nicht wie bislang, mit dem Verstand, sondern mit dem Herzen zu entscheiden. Und ihre Entscheidung der Hilfe war richtig und ethisch im höchsten Grade legitim. Aber Mitleid allein kann nicht zum Bestimmungsgrund oder zur Triebfeder politischer Entscheidungen werden, es ist hinreichend, aber nicht notwendig. Während Schopenhauer eine ganze Philosophie des Mitleids entworfen hatte, um dem lebensweltlichen Pessimismus und das Leid zu überwinden, war der Staatstheoretiker, Politiker Seneca da weitaus kritischer: „Mitleid ist ein seelisches Leiden wegen des Anblicks fremden Elends oder Trauer auf Grund fremden Unglücks. […] Seelenleid aber befällt einen weisen Mann nicht.“

In Deutschland rumort es kräftig
Es ist etwas faul in der Bundesrepublik, so tönt es mittlerweile selbst durch die staatsnahen Medien, die bisher auf Kanzlerkurs fuhren. Nach dem Terrorakt in Istanbul sind erste Karnevalsveranstaltungen abgesagt. Gutlaunige Karnevalisten wollen die Fünfte Jahreszeit nunmehr in der Burka feiern, um vor Übergriffen sicher zu sein. Aber auch die radikale und gefährliche Pegida und Legida schrecken zusehends nicht mehr vor Gewaltexzessen zurück, so in Leipzig Connewitz. Ein irrer Björn Höcke radikalisiert das Land mit einer immer mehr nach rechts abdriftenden AfD, die die Kanzlerin in der „Zwangsjacke“ abführen will. Selbsternannte Retter, sogenannte Bürgerwehren, Sittenwächter mit fahlen ethischen Maximen, die das kodifizierte Recht im Sinne der Selbstgesetzgebung und individuellen Selbstermächtigung interpretieren, laufen Amok.
Aber auch die Linken profilieren sich mit fatalen Bekenntnissen. So schrieb Jakob Augstein zu den Ereignissen in Köln auf seiner Facebookseite: „Ein paar grapschende Ausländer und schon reißt bei uns der Firnis der Zivilisation. “ Auch der Frontmann der Leipziger Kultband „Die Prinzen“, immer schon ganz links außen, formulierte zum Silvesterabend: „Sie sollen es nicht so aufbauschen, dass so etwas passiert ist völlig normal wenn soviel Männer zusammen kommen und etwas trinken.“ Dabei hatte der Barde, den des Sängers Höflichkeit oder Intelligenz verlassen zu haben scheint, auch die alltäglich staatfindenden sexuellen Übergriffe, die täglich in der gesamten Bundesrepublik auf der Tagesordnung stehen im Blick. Mittlerweile hat er sich dafür bei Plasberg „Hart aber fair“ entschuldigt. Darüber hinaus muten auch die Äußerungen von Deutschlands Justizminister Heiko Maas (SPD) etwas pauschal an, immerhin best dressed man, wenn er Täter zu Opfern und Opfer zu Tätern werden läßt, und wenn er Flüchtlinge per se in der Opferrolle zu verortet.

Kritik kommt auch aus den Reihen der SPD
Das Volk schreit auf, bekämpft sich an Biertischen und verbal in den Sozialen Netzwerken, wie es dies in den letzten Jahren der Bundesrepublik in Gesten und Tonfällen nicht mehr gab. Die Stimmung im Land gleicht einem Pulverfaß, das jederzeit in die Luft zu gehen droht. Doch die Kanzlerin hält beharrlich an ihrem Kurs fest und läßt durch ihren Bundesminister für besondere Aufgaben und Chef des Bundeskanzleramtes, Peter Altmaier, bei „Anne Will“ verkünden, sie habe alles im Griff, stehe fest auf der Basis des Grundrechts und diene nach wie vor und uneingeschränkt dem Wohl des Staates. Von einer Kurskorrektur, wie sie der Ehrenvorsitzende der CSU, Edmund Stoiber, forderte und Merkel gar ein Ultimatum bis März setzte, davon keine Rede. Nicht nur die CSU, sondern auch der Chef der Liberalen, Christian Lindner (FDP), hat Merkel den Kampf angesagt und will sich politisch zwischen Merkel und Seehofer positionieren. Und auch aus den Reihen der SPD, von Sigmar Gabriel und Altkanzler Gerhard Schröder, ist der Unmut an Merkels Führungsrolle nicht mehr zu überhören und äußert sich, wie jüngst in Nauen, zunehmend lautstark. Die SPD ist im Bundeswahlkampf angekommen. Altkanzler Schröder betonte gar gegenüber dem „Handelsblatt“: „Die Kapazitäten bei der Aufnahme, Versorgung und Integration von Flüchtlingen in Deutschland sind begrenzt. Alles andere ist eine Illusion“ und den unbegrenzten Zuzug von Flüchtlingen nach Deutschland bezeichnete er als Fehler. „Man muss den Eindruck gewinnen, als hätten nationale Grenzen keine Bedeutung mehr. Das ist gefährlich und das ist auch nicht richtig.“ Mehr noch: Merkel hatte „viel Herz“, aber jetzt hat sie „keinen Plan“. Es sei, so Schröder weiter, ein zentrales Versäumnis der CDU, dass sie ein Einwanderungsgesetz stets abgelehnt hatte und erst in der nächsten Legislaturperiode über ein Einwanderungsgesetz verhandeln will.

Frau Merkel, das paternalistische Matriarchat und Flankenschutz von Julia Klöckner
Ob Verfassungsrichter kritisch den Rechtsbruch anklagen, ob die Mehrheit des Wahl- oder Nichtwählervolkes nicht mehr auf Spur ist, interessiert in Berlin höchstens den Sicherheitsdienst, wenn ein Landrat aus Landshut einen Bus mit Flüchtlingen vor das Kanzleramt schickt, um so, ob sinnvoll oder nicht, seinen Protest zu äußern. Die Kanzlerin fährt politisch-planwirtschaftlich einen fünf oder zehn Jahre Flüchtlingsplan. Und wenn sie so weiterregiert, gibt es in fünfzig Jahren gar keine Flüchtlinge mehr, weil alle Flüchtlingsländer leer gesiedelt sind. Sie führt das Land, fast möchte man sagen, als paternalistisches Matriarchat, mit der Mütterlichkeit und der „weisen“ Voraussicht bei allen sozialen und rechtlichen Entscheidungen und bei einer gleichzeitigen Entmündigung der Bürger, die eh bevormundet werden müssen, weil dies zu einem starken Staat wie die Luft zum Atmen gehört. Die sich gerade im Wahlkampf befindende Spitzenkandidatin der CDU in Rheinland-Pfalz, Julia Klöckner, hat Merkels Politik flankiert und zur Staatsräson aufgerufen. Den Kritikern empfahl sie „Einfachmal die Klappe“ zu halten.
Die Gefahr, trotz Flankenschutz von Frau Klöckner, ist nur, dass Merkel über kurz oder lang von ihrem Volk entmündigt wird, das mürrisch die Irrungen und Wirrungen im Kanzleramt kommentiert und analysiert, aber in seiner Politikverdrossenheit und Selbstgefälligkeit noch nicht den Aufstand probt.



Kritiker aus dem USA fordern Merkels Rücktritt
Derzeit gibt es, ganz wie in der Monarchie, nur eine Wahrheit, und die heißt Merkel. Auch wenn diese Wahrheit nicht die des Volkes ist, ist man über so viel Absolutismus und Realitätsblindheit überrascht. Fatal, wie man an seinem Volk so vorbeireden oder es in seinem Mehrheitswillen ignorieren kann!
Bei einer Rede zum 125.Geburtstag von Walter Eucken am 13.Januar 2016 hatte Merkel ihren Kurs weiter bekräftigt und erklärt, es sei „relativ naiv zu glauben, wir könnten einfach wieder zum alten Grenzkontrollregime zurückkehren“. USA-Experten hingegen werfen Merkel umgekehrt Naivität vor. Der amerikanische Geopolitik-Experte George Friedmann beklagt in der „Huffington Post“ die bundesdeutschen Alleingänge und prognostiziert den Untergang Deutschlands aus drei Gründen: 1. die Verunsicherung im Land wächst, 2. die Integration der Flüchtlinge ist extrem schwierig und 3. verläßt sich Deutschland zu sehr auf seine Exportgeschäfte. Anfang Januar 2016 hatte Ross Douthats in der „New York Times“ ebenfalls kritische Töne angeschlagen und geschrieben: Wer glaubt, „dass eine alternde, säkularisierte, bislang weitgehend homogene Gesellschaft die Zuwanderung in einer solchen Größe und bei derartigen kulturellen Unterschieden mutmaßlich friedlich absorbieren wird, hat eine leuchtende Zukunft als Pressesprecher für die aktuelle deutsche Regierung. Aber er ist auch ein Narr. Derartige Transformationen lassen eine zunehmende Polarisierung zwischen Alteingesessenen und Neuankömmlingen erwarten.“ Die Schlußfolgerung, die er zog, war der Rücktritt Merkels, „damit ihr Land und der Kontinent, der es trägt, vermeiden kann, einen zu hohen Preis zu zahlen für ihre wohlmeinende Torheit.“
Aber vielleicht müßte Merkel gar nicht gehen, sondern nur die Wünsche und Ängste ihres Wahlvolkes und der europäischen Staatenlenker, die immer kritischer auf Distanz zu ihr gehen, wahrnehmen und respektieren. Wir bräuchten neben Lichterketten für Flüchtlinge auch Lichterketten für die Bundeskanzlerin, damit ihr ein Licht aufgeht, damit der Logos, die Vernunft, wieder den Rechtsstaat regiert. Nicht nur die Ausländer, Flüchtlinge und Migranten sollen sich in Deutschland wohl fühlen, auch wir Bundesbürger haben ein Recht darauf. Was wir bräuchten wäre eine Willkommenskultur für uns Bundesdeutschen. Sonst wird aus dem einstigen Wellnesspaket eine Schlammschlacht mit ungewissem Ausgang.

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Über Stefan Groß-Lobkowicz 2126 Artikel
Dr. Dr. Stefan Groß-Lobkowicz, Magister und DEA-Master (* 5. Februar 1972 in Jena) ist ein deutscher Philosoph, Journalist, Publizist und Herausgeber. Er war von 2017 bis 2022 Chefredakteur des Debattenmagazins The European. Davor war er stellvertretender Chefredakteur und bis 2022 Chefredakteur des Kulturmagazins „Die Gazette“. Davor arbeitete er als Chef vom Dienst für die WEIMER MEDIA GROUP. Groß studierte Philosophie, Theologie und Kunstgeschichte in Jena und München. Seit 1992 ist er Chefredakteur, Herausgeber und Publizist der von ihm mitbegründeten TABVLA RASA, Jenenser Zeitschrift für kritisches Denken. An der Friedrich-Schiller-Universität Jena arbeitete und dozierte er ab 1993 zunächst in Praktischer und ab 2002 in Antiker Philosophie. Dort promovierte er 2002 mit einer Arbeit zu Karl Christian Friedrich Krause (erschienen 2002 und 2007), in der Groß das Verhältnis von Metaphysik und Transzendentalphilosophie kritisch konstruiert. Eine zweite Promotion folgte an der "Universidad Pontificia Comillas" in Madrid. Groß ist Stiftungsrat und Pressesprecher der Joseph Ratzinger Papst Benedikt XVI.-Stiftung. Er ist Mitglied der Europäischen Bewegung Deutschland Bayerns, Geschäftsführer und Pressesprecher. Er war Pressesprecher des Zentrums für Arbeitnehmerfragen in Bayern (EZAB Bayern). Seit November 2021 ist er Mitglied der Päpstlichen Stiftung Centesimus Annus Pro Pontifice. Ein Teil seiner Aufsätze beschäftigt sich mit kunstästhetischen Reflexionen und einer epistemologischen Bezugnahme auf Wolfgang Cramers rationalistische Metaphysik. Von August 2005 bis September 2006 war er Ressortleiter für Cicero. Groß-Lobkowicz ist Autor mehrerer Bücher und schreibt u.a. für den "Focus", die "Tagespost".

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