Grußwort von Bundespräsident Horst Köhler bei der Verleihungdes Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland an Gegner des SED-Unrechts

Ich möchte Ihnen zuerst von einem jungen Mann erzählen. Als 16-Jähriger wollte er, was viele in seinem Alter wollen: Partys feiern, Musik hören, lange Haare haben, reisen. Er war nicht wirklich politisch. Aber er stieß mit seinen Bedürfnissen in seiner Heimatstadt Jena immer wieder an Grenzen. Er ging auf Partys, die die Volkspolizei gewaltsam auflöste. Er hielt sich in der Nähe des Grenzgebiets auf und wurde festgenommen. Einer seiner Freunde wurde auf dem Weg zu einer Geburtstagsparty in Ost-Berlin von der Stasi aus dem Zug geholt und war zwei Tage später tot. Selbstmord, hieß es damals.
Der junge Mann wollte das alles nicht einfach hinnehmen. Er begann mit kleinen Protestaktionen. Einmal ging er am 1. Mai auf die Straße mit einem weißen Plakat. Einfach nur mit einem weißen Plakat, auf dem nichts stand. Ein Jahr später – wieder am 1. Mai – stellte er sich während der offiziellen Kundgebung neben die Tribüne mit einer Gesichtsmaske, die auf der einen Seite aussah wie Hitler, auf der anderen wie Stalin. Gewalt übte er nicht aus. Ein paar Monate später wurde er festgenommen und zu anderthalb Jahren Haft verurteilt.
Anderthalb Jahre Haft als politischer Gefangener. Tausende haben das in der DDR erlebt, unter unmenschlichen Bedingungen. Isolationshaft, stundenlange Verhöre, vollständige Kontaktsperre nach außen; viele haben das erlitten. Wenn man ehemalige Haftanstalten wie Bautzen oder das Stasi-Gefängnis in Hohenschönhausen besucht, wird einem vor Augen geführt, wie die Staatsmacht der DDR systematisch Menschen ihrer Rechte und ihrer Würde beraubte.
Und wofür? Welche Verbrechen hatten diese Menschen begangen? Sie wollten in Freiheit leben. Sie wollten das Unrecht, das sie jeden Tag sahen, nicht länger hinnehmen. Sie wollten, dass ihre Kinder es einmal besser haben würden. Die einen haben versucht, die Verhältnisse in der DDR zu verändern. Andere wollten fliehen. Manche allein. Manche mit der Familie. Bei solchen Fluchtversuchen wurden Hunderte festgenommen, Familien wurden auseinandergerissen. Monate wussten die inhaftierten Eltern oft nichts vom Schicksal ihrer Kinder.
Auch der junge Mann aus Jena hatte eine Tochter. „Ich war ganz klein und habe geflennt, als ich das Foto meiner dreijährigen Tochter in den Knast bekam“, erzählt er. Die Repression traf seine Familie. Sein Vater, der nicht politisch aktiv war, musste den Fußball-Club verlassen. Er bekam einen Herzinfarkt. Der Sohn machte sich Vorwürfe, dass das Leben seiner eigenen Angehörigen durch seine politische Aktivität zerstört werde.
Sehr geehrte Damen und Herren, einige von Ihnen haben Ähnliches erlebt. Sie kennen die Sorge um Kinder, um Eltern, um Verwandte. Sie wissen, was es bedeutet, Jahre hinter Gittern zu verbringen. Sie wussten, welches Risiko sie eingingen, als Sie politisch aktiv wurden, oder als Sie sich zur Flucht entschlossen, und trotzdem haben Sie für Ihre Rechte und für Ihre Freiheit gekämpft. Das verdient unsere Hochachtung.
Dieses Risiko kannten auch die vielen tausend Menschen, die in Leipzig und anderen Städten der DDR Woche für Woche demonstriert haben. Ohne ihren Mut wäre die Mauer nicht gefallen.
Unsere Anerkennung verdient aber auch, dass Sie alle, die heute ausgezeichnet werden, sich dafür einsetzen, die Erinnerung an die Geschichte der DDR wach zu halten. „Die Zukunft wird nämlich entschieden im Streit um die Vergangenheit“, sagte hier in Schloss Bellevue einmal Wolf Biermann, der genau heute vor 33 Jahren aus der DDR ausgebürgert wurde. Sie, meine Damen und Herren, streiten um die Vergangenheit. Sie legen – oft auf sehr persönliche Weise – Zeugnis ab von dem Unrecht und von der Heimtücke der SED-Diktatur.
Das ist vor allem für junge Menschen wichtig. Es macht mir Sorge, wenn ich in Studien lese, wie wenig Schülerinnen und Schüler heute über die DDR wissen. Deswegen brauchen wir die historische Aufklärung.
Mit der Aufarbeitung der DDR-Geschichte haben wir direkt nach der Wiedervereinigung begonnen: Die Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes gaben und geben Einblick in das Unrecht, das durch die Stasi begangen wurde. Der Deutsche Bundestag hat die Stiftung Aufarbeitung ins Leben gerufen. In ungezählten Veranstaltungen, Publikationen und Gesprächen setzt sie sich mit der SED-Diktatur und ihren Folgen auseinander. Wie lehrreich es ist, wenn die Zeitzeugen von damals mit jungen Leuten von heute über ihre Erfahrungen reden, hat mir eine Diskussionsrunde gezeigt, die ich in Zusammenarbeit mit der Stiftung ausgerichtet habe. Es war gut zu sehen, welche Neugier, welches Interesse die persönliche Schilderung der Älteren bei den Jungen weckte, und welchen Anteil sie am Leid der Opfer nahmen.
Viele dieser Opfer von damals sind inzwischen vollständig rehabilitiert. Damit ist offiziell anerkannt, dass nicht sie Unrechtes getan haben, sondern dass ihnen Unrecht zugefügt wurde. Es gibt Ansprüche auf Haftentschädigung, und zumindest die Bedürftigen erhalten inzwischen eine Opferpension. Das sind wichtige Schritte.
Aber das alles kann nicht das Leid, das die Opfer erlitten haben, wieder gut machen. Es kann nicht wieder gut machen, dass Menschen ihre Jugend im Gefängnis verbracht haben. Es kann nicht wieder gut machen, dass Kinder von ihren Eltern getrennt wurden. Es kann nicht verlorene Jahre zurückgeben. Ich kann den Schmerz derjenigen nachempfinden, die noch immer – physisch oder psychisch – unter den Folgen der Haft leiden, und die zusehen müssen, wie ihre früheren Peiniger ihren Lebensabend genießen. Und die heute auch noch erleben müssen, dass Verantwortliche und Täter keine Reue zeigen, sondern im Gegenteil mit Unverfrorenheit über ihre Taten in der DDR reden.
Sehr geehrte Damen und Herren, Ihr Einsatz hilft, solche Einstellungen und Reden zu entlarven. Er hilft zu verhindern, dass die DDR-Vergangenheit verklärt wird. Dabei geht es keineswegs darum, die Leistungen der Menschen in der DDR herabzuwürdigen. Natürlich gab es Anstrengung und Fleiß, Mitmenschlichkeit und Solidarität. Das macht die Lebensleistungen der Menschen wertvoll, vielleicht umso wertvoller, wenn wir daran denken, dass die DDR eben keine Demokratie und erst recht kein Rechtsstaat war.
Wir können aus der Geschichte der DDR viel lernen. Wir können lernen, was Mut bedeutet und Zivilcourage, die in einer Diktatur noch viel mehr erfordert als in einem Rechtsstaat. Wir können lernen, dass es auch in der Unfreiheit immer Menschen gibt, die ihrem Gewissen folgen und sich treu bleiben – gegen die Staatsgewalt und eine schweigende Mehrheit; meist um einen sehr hohen Preis.
Diese Lehren zu beherzigen, bedeutet auch, sich bewusst zu sein, dass Demokratie, Freiheit und Menschenrechte Errungenschaften und Werte sind, für die wir uns täglich aufs Neue einsetzen müssen, die wir verteidigen und vor allem auch leben müssen.
Sie tun das, meine Damen und Herren, und dafür möchte ich Ihnen von Herzen danken. Nicht nur mit Worten, sondern auch mit der höchsten Auszeichnung, die unser Land zu vergeben hat: mit dem Verdienstorden der Bundesrepublik Deutschland. Sie haben sich um unser Land verdient gemacht, Sie haben seine Einheit gefördert. Sie haben die Werte gestärkt, auf denen es gründet.
Noch einmal zu dem Mann aus Jena. Sein Name ist Roland Jahn. Er hat auch an einer der Gesprächsrunden teilgenommen, die ich gemeinsam mit der Stiftung Aufarbeitung ins Leben gerufen habe. Ein Schüler fragte die Teilnehmer der Runde, ob sie mal an ihrer oppositionellen Haltung gezweifelt hätten. Roland Jahn bewegte diese Frage, weil – so sagte er – sie oft als Helden dargestellt würden, die niemals zweifelten. Er hatte Zweifel, und auch das zeichnet ihn aus. Aber er ist sich treu geblieben. Wie Sie alle. Ich danke Ihnen.
www.bundespraesident.de

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