Haben Schlangen Längs- oder Quermuskeln? Was an unserem Schulsystem nicht stimmt

In diesem Artikel möchte ich eine auf den ersten Blick ganz absonderliche These vertreten. Sie lautet: Nichts hindert so sehr am Lernen wie die Schule. Damit meine ich nicht, dass die Theorie grau und die Praxis das eigentliche Erstrebenswerte ist, sondern dass der Zweck der Schule ist, die Menschen schlecht auszubilden. Seit die PISA-Studie im Jahr 2000 den deutschen Schulen die Illusion geraubt hat, ein herausragendes Bildungssystem zu besitzen, wird über die Verbesserung der Lernvoraussetzung an den Schulen diskutiert. Das wirkliche Schreckgespenst, auf das die PISA-Studie hindeutet, ist die Angst, dass die Deutschen in der Zukunft wirtschaftliche Einbußen erleben könnten, wenn es dazu kommt, dass der Bildungsstand anderer Länder unseren übertrumpft. „Vorsprung durch Technik“ heißt ein bekannter Werbespruch von VW. Um diesen Vorsprung muss gekämpft werden. Das ökonomische Konkurrenz-Denken findet sich im Bildungssystem wieder. Bildung aus der Warte des Vergleichs bedeutet Niederringung der weniger Gebildeten[1]. Das Bemühen der Lehrer ihre Schüler geistig zu trimmen, ist gut gemeint. Aber je mehr die Angst der Pädagogen und der Eltern steigt, den Schüler für den Arbeitsmarkt nicht genügend fit zu machen, desto mehr wird die Schule zum Zulieferbetrieb von gut funktionierenden Arbeitsbatterien. Aus dem Druck resultiert stärkere Anpassung, nicht unbedingt eine größere Leistung. Gleichzeitig steigt das Bedürfnis des Schülers selbst, sich von anderen Schülern abzusondern. Die Ellenbogengesellschaft nimmt ihren Lauf und der vermeintlich Starke triumphiert über den Schwachen, mit dem Ziel zu jener kleinen Elite von „Einserkandidaten“ zu gehören, denen später alle Türen offen stehen. Verantwortung für Andere und gegenseitiges Hilfeleisten verschwindet aus den Klassenräumen. Es ist die allgemein akzeptierte Meinung, dass ein solches Kampfklima dem Lernen förderlich sei. Jedoch bringt diese Lernatmosphäre auch gemäß ihren eigenen Maßstäben nur eine geringe Zahl guter Schüler hervor. Kein Wunder: Wo es Konkurrenz gibt, muss es Verlierer geben. Das deutsche Schulsystem schafft Eliten und eine Schicht gut ausgebildeter Personen, aber es bringt genauso andere traurige Resultate hervor: 7,5 Millionen Deutsche (14,5% der Deutschen)[2] gelten als funktionale Analphabeten und können am täglichen Leben nicht gleichwertig teilnehmen.
Lang scheint es her zu sein, als der Zweck von Bildung ein anderer war, zumindest wie sie ein Denker wie Immanuel Kant[3] meinte und Goethe in seinen Bildungsromanen literarisch darstellte: Bildung war die Ausprägung von Innerlichkeit durch Erfahrung und Wissen, kurz die Erzeugung von Subjektivität. Und diese hat auch einen äußeren Zweck: Die Ermächtigung des Individuums zu einem selbstgesteuerten Leben. War der Kant’sche Gedanke auf die Ausbildung des Individuums gemünzt, beugte sich die Schule in den letzten zwei Jahrhunderten den gesellschaftlichen Interessen. Nicht das Individuum, sondern die Gemeinschaft setzt ihre ökonomischen und gesellschaftlichen Wünsche durch, auch auf Kosten der Bildungsinteressen des Individuums. Über den Zweck von Schule gibt es allgemein die Ansicht, dass dieser Lernen sei und unter Lernen versteht man die Akkumulation eines Wissens, das später im Berufsleben gebraucht wird. Die Schulnoten spiegeln scheinbar den individuellen Lernfortschritt wider.
In den Köpfen der Menschen stecken noch Erklärungsansätze von Schule, die sehr ursprünglich und zu idealistischeren Zeiten entstanden sein müssen. Die Bevölkerung vertraut, recht blauäugig und passiv, muss man sagen, dem, was ihren Kindern in der Schule als relevanter Lernstoff geboten wird. Es gibt kritische, aber wenig beachtete Literatur über Schule und Notengebung – von Paul Goodman[4] bis hin zu Ursula Leppert[5]. Die meiste kritische Literatur hinterfragt didaktische Konzepte, die Lehrer oder die Notengebung, aber nicht das Gebilde „Schule“ als solches. Um dieses innerhalb einer modernen Industriegesellschaft zu verstehen, muss man nach dem Sinn von Schule fragen, der sich gesellschaftlich als die Erfüllung von drei Zwecken darstellt. Der jedem bekannte Zweck der Schule, 1) Bildung zu vermitteln, muss durch zwei weitere ergänzt werden. Diese sind 2) Kinder und Jugendliche „aufzubewahren“ und 3) „kluge“ und „dumme“ Menschen gesellschaftlich vorzusortieren.
Dass die gängigen Institutionen wie Kinderkrippen, Kindergarten und Schule dazu da sind, Kinder gewissermaßen unter Verschluss zu halten, während die Eltern ihrer Arbeit nachgehen, ist ein offenes Geheimnis. Ganztagsschulen werden in der von Arbeitszwängen erfüllten Alltagswelt immer attraktiver. Nach dem Pädagogen Jesper Juul[6] verbringen Kinder bis zum Alter von 14 Jahren allein 26.000 Stunden in den Einrichtungen staatlicher Bildungsanstalten. Freiheitliche Erziehung als komplette Kontrolle des Bewegungsraums des Jugendlichen und ständiger Stress durch Gruppendruck, die eigene Persönlichkeit gemäß den Wünschen der Gemeinschaft zu formen. Der Gedanke, dass junge Menschen auf sich selbst gestellt, eigene ihrer wachsenden Persönlichkeit entsprechende Bildungserfahrungen machen, ist zweitrangig. Und wenn man gar von geraubter Kindheit spricht, erntet man nur Stirnrunzeln von Eltern, die selbst wiederum als Arbeiter die meisten Überstunden in Europa[7] machen. Die den Nachmittag eines Jugendlichen verkürzenden Hausaufgaben verhindern ebenso die freie Zeitgestaltung eines Kindes und „verwahren“ den Jugendlichen im Haus. Ob diese lernunterstützend notwendig sind, ist fraglich. Zumindest werden kritische Stimmen wie beispielsweise von Alfie Kohn[8] bezüglich deren mangelnden didaktischen Nutzen regelmäßig überhört. Es scheint aus der Haltung heraus, den Schüler etwas zu tun zu geben, was deren Zeit füllt, kein kritisches Nachfragen über den Sinn von bestimmten Bildungsinhalten und die Formen derer Vermittlung zu geben. Lernen wird zur Auseinandersetzung mit leerer Materie, an denen sich Schüler abmühen. Eine Rechtfertigung von Bildungsinhalten gegenüber den Eltern oder gar eine Mitsprache der Schüler gibt es nicht. Eltern akzeptieren sämtliche Vorgaben, aus dem banalen Grund, weil die Schule ihnen den „Gefallen“ tut, den Schüler zu beschäftigen.
Während Elterninteresse und Gesellschaftsinteresse in der zweiten Funktion von Schule noch übereinstimmen, bildet sich im dritten Zweck von Schule, die intelligenten von den weniger intelligenten Schülern zu trennen, ein rein gesellschaftliches Interesse ab. Menschen werden vorsortiert, folgenreich für das Individuum, denn die Trennung hat den Sinn, den gesellschaftlichen Bewegungsraum der nicht so gescheiten Menschen einzuschränken. Das Dreischulsystem als Grobraster, die Notenskala als Feinraster. Das bedeutet, dass Schulen gesellschaftlich gesehen eine Art Filter sind.
Die Bildungseinrichtungen sind aber nicht nur ein institutionalisierter Intelligenztest. Gut in der Schule zu sein verlangt Anpassungsvermögen, Pünktlichkeit, Disziplin, Unterordnung etc. alles Dinge, die der Staat später von seinen „Humanbausteinen“ erwartet. Ebensoidentifiziert Schule diejenigen Personen, die diese Erwartungshaltung nicht erfüllen und limitiert deren gesellschaftlichen Möglichkeiten.
Gerade dieses Filtersystem behindert das Lernen des Schülers. Es ist ein enormer Unterschied, ob die Schulen primär versuchen, den Schülern Bildung und Wissen zu vermitteln, oder ob sie sich bemühen, weniger fähige sowie nicht-konforme junge Persönlichkeiten als solche zu identifizieren. Man könnte denken, dass sich beide Intentionen vereinbaren lassen, dem ist aber in der Praxis nicht so. Im Gegenteil: Das Etikettieren der Menschen formt das didaktische Verständnis an den Schulen.
Wenn ein Schüler Mathematik nicht begreift oder schlechte Noten vorzuweisen hat, dann wird ein Lehrer nicht überlegen, welche didaktischen Möglichkeiten es gibt, den Stoff besser zu erklären, genauso wenig wird er dies nicht als sein eigenes Versagen ansehen, sondern er wird die Schwierigkeit des Schülers, Mathematik zu verstehen, auf dessen Unwillen zu lernen, aber meist auf eine inhärente Unfähigkeit zurückführen und ihm ein zu kleines Hirnvermögen oder gar genetischen Mangel attestieren. Der Schüler erhält so ein Identitätskonzept übergestülpt, das ihn als self-fulfilling prophecy sein Leben lang begleitet, hemmt und lenkt (insofern es Einfluss auf die Berufswahl nimmt). Die Begabungshypothese wird in den Augen des Schülers ein ganzes Schulleben bestätigt. Ein Schüler, der längere Zeit keinen Notenerfolg in einem Fach hat, gibt seine Lernbemühungen irgendwann auf. Ein in Mathematik schlechter Schüler bleibt meist bis zum Ende ein schlechter Schüler. Die Ursachen könnten aber andere sein als ein biologischer Bremsklotz in den Genen. Jemand, der eine Vier hat, belegt mit der Note, dass er 50 (max. 60) Prozent des Stoffes verstanden hat, und seine Leistung wird als „ausreichend“ etikettiert. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Schüler mit nur fünfzigprozentigem Wissen das nächste Lernkapitel gut versteht, ist reduziert. So entsteht eine schwer zu schließende Lernlücke – besonders dann, wenn der halb verstandene Stoff später wieder verwendet wird -, die zum Teil über Jahre hinweg folgenreich ist. Die Lehrer übernehmen didaktisch keine Verantwortung, da das Schulsystem, den eigentlich schlecht lernenden Schüler als „ausreichend“ markiert und dies innerhalb des Notenspektrums bei Schularbeiten nichts Außergewöhnliches ist.
Lehrer erwarten die Notenverteilung innerhalb einer Klasse gemäß einer Glockenkurve[9]: Das bedeutet, der Lehrer wird in einer Klasse von etwa 30 Schülern eine oder zwei Einsen, vielleicht vier oder fünf Zweien, geschätzte zehn bis zwölf Dreien, sechs bis acht Vieren und zwischen zwei bis vier Fünfen innerhalb der Klasse vergeben. Wenn der Lehrer eine Klassenarbeit schreibt, in der zu viele gute Noten erzielt werden, wird er die nächste Arbeit anpassen und anspruchsvoller machen. Lehrer, die zu oft gute Noten geben, werden zum Rektor zitiert, das ist innerhalb jeder öffentlichen Schule üblich. Meistens werden Lehrer allerdings bereits in ihrer Referandariatszeit daraufhin getrimmt, nicht zu „lasch“ in der Notengebung zu sein.
Um eine Arbeit schwerer zu machen, stehen verschiedene Mittel zur Verfügung. Beliebt hierfür sind so genannte Transferaufgaben, deren Sinn es ist, einen Selektionsprozess durchzuführen. Eine typische Transferaufgabe in Biologie beispielsweise wäre – nachdem man den Muskelbau beim Menschen besprochen hat -, die Frage zu stellen, ob Schlangen beim Kriechen Längs- oder Quermuskeln verwenden. Eine interessante Frage für Studenten, aber nicht für Schüler. Transferaufgaben – und das ist das Bedenkliche an ihnen – machen den Lernstoff nicht lernbar. Was Unterrichtsstoff ist und was Prüfungsstoff ist, ist in den Augen des Schülers zweierlei, verbunden mit der entsprechenden Lerndemotivation in einem Wissenssystem gefangen zu sein, das in keinster Weise transparent ist. Wenn die meisten Schüler die Transferaufgaben nicht oder schlecht lösen, fragt sich der Lehrer nicht, warum er den Stoff nicht so erklärt hat, dass er die meisten Schüler in die Lage versetzt hat, sie zu lösen, sondern er wird sich damit zufrieden geben, die wahrhaft für sein Fach Begabten entdeckt und die nicht Begabten identifiziert zu haben.
Tief ist der Einschnitt in den ursprünglichen Bildungsgedanken durch die Sortierfunktion der Schule. Ein Schüler, der etwas nicht versteht oder der schlechter ist als andere, ist ein Beleg dafür, dass die Schule richtig gearbeitet hat. Nicht alle zu bilden, sondern eine Mehrheit weniger gebildet oder gar ungebildet zu lassen, ist der Zweck der Schule als solche. „Nicht alle können ein Musikprofessor werden“, wie es einmal ein Politiker in einer Fernsehdiskussion über die Ziele von Schule bemerkt hat. Durch die Akzeptanz dieser Verhältnisse wird das Lernen verändert. Es gibt keine Übernahme von didaktischer Verantwortung durch den Lehrer. Niemand bekommt Gehaltsabzug oder wird gar entlassen, wenn die Mehrheit der Schüler die Sache nur halb oder gar nicht verstanden hat. Lehrer würden vielleicht jetzt einwenden, dass bei einer Klassengröße von 30 Schülern und einem drückend überfüllten Lehrplan etc. es gar nicht geleistet werden kann – auch wenn man mit besten Absichten diese Sortierfunktion nicht erfüllen möchte –, der Mehrheit der Klasse den Stoff zu vermitteln. Zu leicht kokettiert man mit seiner angeblichen Machtlosigkeit, ohne je etwas anderes versucht zu haben. Schulisches Reformdenken[10] kann auf der administrativen (Politik) und der ausführenden Ebenen (Rektor, Lehrer) ansetzen, ja selbst bei Schülern, wenn diese es gelernt hätten und ihnen der Raum eingeräumt würde, ihre Lernerwartungen gegenüber dem Lehrer zu artikulieren[11]. Ein erster Schritt wäre die Sortierfunktion (z.B. Erwartung einer Glockenkurve, klar definierten Schulstoff statt nebliger Transferaufgaben, Begabungserklärungen nicht mehr akzeptieren) aus dem Schulalltag zu verbannen und klare Bildungsinhalte dagegenzusetzen. Der Schüler könnte mehr als Individuum gesehen werden und nicht als einer unter Vielen. Der Lehrer könnte zum Lernberater werden, mit dem Willen, einen stärkeren Dialog mit seinem Schüler zu suchen. Nötig wäre eine klarere Benennung der Lernziele, die vom Schüler mitgestaltet werden könnten, transparentere didaktische Methoden, die bei einem Scheitern flexibel geändert werden etc. Didaktisch gibt es nicht wenige Alternativen, im Gegenteil, es gibt sehr viele. Diese zeigen sich aber nur, wenn man das Ziel Bildung hat, und nicht die Errichtung von gesellschaftlichen Gegensätzen bezweckt.


[1] „Die Schüler werden dadurch früh an die Leistungsorientierung unserer Gesellschaft gewöhnt“, wie es in einem Online-Text (Seite 1) der PH-Ludwigsburg zum Sinn der Notengebung unkritisch heißt. http://www.ph-heidelberg.de/wp/konrad/download/leistungsmessung.pdf
[2] http://www.alphabetisierung.de/infos/faq.html
[3] Vgl. Immanuel Kant: Über Pädagogik. In: Ders.: Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik II. Frankfurt 1993. S. 695-766.
[4] Paul Goodman: Das Verhängnis Schule. Frankfurt 1975.
[5] Ursula Leppert: „“Ich hab eine Eins! Und Du? Von der Notenlüge zur Praxis einer besseren Lernkultur. München 2010.
[6] http://www.zeit.de/2010/09/Jesper-Juul/komplettansicht
[7] http://www.augsburger-allgemeine.de/politik/Deutsche-sind-Ueberstunden-Rekordhalter-id15400986.html
[8] http://www.alfiekohn.org/teaching/edweek/homework.htm
[9] Die so genannte „Normalverteilung“. http://www.egrund.de/weltbilder/gausstxt.htm
[10] Es gibt positive Ansätze. Einen Überblick über sie gibt die Homepage des deutschen Schulpreises. http://schulpreis.bosch-stiftung.de/content/language1/html/12569.asp
[11] Es erlaubt sich kein Schüler dem Lehrer anzuzeigen, dass er schlecht erklärt habe oder gar grundsätzlich schlecht erkläre. Kein Lehrer würde dieses Feedback akzeptieren, das aber das Basis-Feedback nach jeder neue Einheit sein sollte.

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