Hans Mayer und der 17. Juni 1953 – Unbekannter Text aufgefunden

Der Literaturwissenschaftler Hans Mayer (1907-2001) hat sich während der anderthalb Jahrzehnte 1948/63, in denen er als Professor an der Leipziger Universität wirkte, zu tagespolitischen Fragen höchst selten geäußert. Seine Antrittsvorlesung vom 20. Juli 1949 war dem anscheinend gegenwartsfernen Thema „Goethe und Hegel“ gewidmet. Und dennoch waren seine überfüllten Vorlesungen, obwohl „nur“ deutsche Literaturgeschichte vorgetragen wurde, im berühmten Hörsaal 40 hochpolitische Vorgänge. Wie Hans Mayer dort auf seine Zuhörer aus allen Fakultäten wirkte, hat sein Schüler Uwe Johnson (1934-1984) zum 60. Geburtstag 1967 eindrucksvoll beschrieben (1). Wenn er auf Westreisen über DDR-Politik befragt wurde, beispielsweise zur Oppositionsgruppe 1956 um Wolfgang Harich (1923-1995) oder zur Verhaftung Erich Loests 1957, antwortete er ausweichend oder umständlich erklärend. Kritik an dem Staat, in dem zu leben er sich drei Jahre nach Kriegsende entschlossen hatte, trug er dort vor, wo sie, wie er meinte, verstanden wurde und aufgenommen werden sollte: nicht in Westzeitungen also, sondern in DDR-Publikationen! Sein Hörfunkbeitrag mit dem harmlos klingenden Titel „Zur Gegenwartslage unserer Literatur“, niedergeschrieben in den drei Wochen (23. Oktober bis 15. November 1956), als in Ungarn ein antisowjetischer Aufstand tobte, war in Wirklichkeit eine vernichtende Kritik am Zustand der DDR-Literatur seit 1945/49. Gesendet werden sollte die Rede am 28. November 1956 im Berliner „Deutschlandsender“, die Bandaufnahme lag bereits vor, dann wurde sie kurzfristig abgesetzt und erschien in ungekürzter Druckfassung am 2. Dezember im „Sonntag“, der Wochenzeitung des 1945 von der „Sowjetischen Militäradministration in Deutschland“ gegründeten „Kulturbunds zur demokratischen Erneuerung Deutschlands“.
In drei Texten hat Hans Mayer den Aufstand vom 17. Juni 1953, der dem noch jungen SED-Staat fast ein rasches Ende bereitet hätte, beschrieben und gedeutet. Im zweiten Band 1984 seiner Autobiografie „Ein Deutscher auf Widerruf“, im Erinnerungsbuch „an eine Deutsche Demokratische Republik“ (Untertitel), das er „Der Turm von Babel“ (1991) nannte, und in bisher ungedruckten Aufzeichnungen, entstanden noch 1953, unmittelbar nach dem Eingreifen der Besatzungsmacht, die der in London lebende Journalist Andreas W. Mytze 2010 unter dem, offenbar noch vom Autor selbst stammenden Titel „Wir sollten anfangen, aus der Geschichte zu lernen oder: Der Faschismus wird bei uns nicht wiederkehren“(2) veröffentlicht hat.
Die beiden Bände der Autobiografie (3) erschienen zwei Jahrzehnte nach der im Sommer 1963 vollzogenen „Republikflucht“ Hans Mayers, die auf einer eilig einberufenen Pressekonferenz am 23. August des Rowohlt-Verlags in Reinbek bei Hamburg der Öffentlichkeit mitgeteilt worden war. Das Kapitel „Auf dem Wege zum 17. Juni“ (S.23-53) ist das zweite im vierten Teil „Leipzig oder Die Alternative“, das erste heißt „Die Russen“. Zunächst ging es aber nicht um den Aufstand, sondern um Ankunft und Aufnahme in Leipzig, wo Hans Mayer, von Berlin kommend, im Oktober 1948 eingetroffen war. Er wurde, was er nicht ohne Stolz schreibt, privilegiert mit Wohnraum und Lebensmitteln versorgt, bis 1950 auch mit Pajoks, den Sonderzuteilungen aus Beständen der Sowjetarmee. Untergekommen war er in der geräumigen Wohnung der Witwe Minna Klopfer, die aus Arnstadt in Thüringen stammte, die ihm 15 Jahre lang den Haushalt führte und für ihn kochte bis zu seinem Weggang 1963. Das Haus lag in der Johannstraße 23, benannt nach einem sächsischen König, erhielt aber bald schon den Namen des russischen Komponisten Peter Tschaikowski. Anfangs schlug ihm in dieser bürgerlichen Wohngegend in Leipzig-Mitte Misstrauen entgegen, weil er „zu denen“ gehörte. Diese ersten Jahre in Leipzig verstand er aber auch als eine Zeit des Aufbruchs in seinem akademischen Leben, als ihm, nach den drei Jahren als Journalist und Dozent in Frankfurt/Main 1945/48, von der altehrwürdigen Alma Mater Lipsiensis der Professorentitel verliehen worden war. Rückblickend bemerkt er: „In Leipzig wurde ich endlich zu mir selbst erweckt.“
Noch Jahrzehnte nach den hier aufgeschriebenen Begebenheiten spürt der Leser die Freude und den Stolz des Verfassers darüber, endlich öffentlich geehrt und anerkannt zu werden. Begleitet nämlich wurden diese Jahre der Selbstfindung vom politischen Aufbruch in eine neue Gesellschaftsordnung, den er als verfolgter Jude und Marxist, der 1933 in die Schweiz hatte emigrieren müssen, befürwortete. So war er als versierter Kenner deutscher Literaturgeschichte, dessen noch in Genf geschriebenes Buch „Georg Büchner und seine Zeit“ (1946) von der Leipziger Universität als Habilitationsschrift anerkannt worden war, eingebunden in die neue, die „antifaschistisch-demokratische“ Kulturpolitik. Schon für den 22./23. Oktober 1948 wurde er von Johannes R. Becher (1891-1958), dem einst expressionistischen Lyriker und 1945 aus der Emigration nach Moskau (1935) heimgekehrten Präsidenten des „Kulturbunds“, nach Ostberlin eingeladen, wo den beiden Exilschriftstellern Arnold Zweig (1887-1968) und Bertolt Brecht (1898-1956) ein feierlicher Empfang bereitet wurde. Im Goethe-Jahr 1949, gefeiert wurde der 200. Geburtstag am 28. August, durfte er am 21. März in Weimars „Deutschem Nationaltheater“ den Vortrag „Goethe in unserer Zeit“ (4) halten. Umrahmt waren seine Ausführungen von einer durch Erich Honecker (1912-1994), den Vorsitzenden der 1946 gegründeten „Freien Deutschen Jugend“, ausgerichteten Veranstaltung, der man den neutralen Titel „Feier der Jugend“ gegeben hatte; weiterhin von der Goethe-Rede des SED-Ministerpräsidenten Otto Grotewohl (1894-1963), eines ehemaligen Sozialdemokraten, am 22. März (Goethes Todestag 1832), zu dessen Ausarbeitung Hans Mayer mit Alexander Abusch und Wilhelm Girnus nach Berlin ins „Haus der Ministerien“ in der Leipziger Straße gebeten worden war. Abschließend bemerkt der Verfasser über diese Jahre: „Damals, im März 1949, war noch nichts verspielt. Während meiner Rede war, in lautloser Stille, die geistige Leidenschaft der jungen Menschen zu spüren. Auch ich war bewegt, an einigen Stellen drohte Emotion fast die Stimme zu drosseln…Mein Erfolg…führte bis etwa zum Sommer 1950 dazu, dass ich gleichsam als kultureller Festredner vom Dienst amtieren musste.“ Dass zur gleichen Zeit die politische Verfolgung Andersdenkender auf breiter Front praktiziert wurde, dass beispielsweise zwei seiner Studenten, wie er selbst erwähnt, verhaftet wurden und spurlos verschwanden, hat im autobiografischen Kontext nur marginale Bedeutung.
Der am 16. Juni 1953 ausbrechende Streik Ostberliner Bauarbeiter, der am Tag darauf in einen republikweiten Aufstand einmündete, wirkt in der Lebensplanung Hans Mayers wie ein jäher Frosteinbruch. Damit, dass Arbeiter gegen eine „Arbeiterregierung“ streiken könnten, war weder in der DDR-Regierung noch im SED-Politbüro, dem wahren Machtzentrum, gerechnet worden. Also musste der ungeheure Vorgang, der den „Gesetzen“ marxistischer Geschichtsdoktrin widersprach, politisch entschärft und uminterpretiert werden. Die streikenden Arbeiter durften keine „klassenbewussten“ Arbeiter sein, sondern lediglich „kleinbürgerliche Elemente“, von eingeschleusten „Westagenten“ zu ihren Untaten verführt. Der Aufstand war folglich kein Aufstand, sondern ein „konterrevolutionärer“, wenn nicht „faschistischer Putschversuch“. Dieses Erklärungsmuster war Hans Mayer durchaus bekannt, als er seine Autobiografie schrieb.
Dieses Muster immerhin verwendet er 1984 nicht, dennoch nähert er sich dem heiklen Thema „17. Juni 1953“ langsam, vorsichtig, zögernd. Seine politische Einschätzung dieses Aufstands, den er nicht wie den in Ungarn vom Herbst 1956 eine „Volksrevolution“ nannte, ist ambivalent, trotz eines weiteren Jahrzehnts DDR-Erfahrung. Er beginnt mit dem Satz, dass die Regierung, obwohl Geheimberichte über die Stimmungslage in der Bevölkerung vorgelegen hätten, „kein Vertrauen mehr besaß bei den Werktätigen“, als ob es jemals anders gewesen wäre! Dann zitiert und interpretiert er zwei Gedichte Bertolt Brechts, der gewusst hätte, „was die Trümmerfrauen dachten und die Bauarbeiter“. Beide Gedichte aber mit den Titeln „Die Lösung“ und „Bei der Lektüre eines spätgriechischen Dichters“ sind zu DDR-Zeiten nicht veröffentlicht worden! Sie wurden im Nachlass des Autors, dessen Rechte beim Suhrkamp-Verlag in Frankfurt am Main lagen, aufgefunden.
Das alles war freilich noch Vorbericht, bevor er auf fünf Seiten schilderte, wie er selbst den 17. Juni in Leipzig erlebt hat. In diesen Vorbericht gehören auch die Informationen über die schlimmen Schicksale von Freunden und Weggefährten aus der Exilzeit, die als überzeugte Sozialisten am Umbruch der Gesellschaft nach 1945 mitgewirkt und hohe Machtpositionen errungen hatten, dann aber wegen irgendwelcher „Verfehlungen“ gestürzt und verhaftet wurden und nach der Verurteilung in Zuchthäusern und Straflagern verschwanden. Hier nennt er zuerst Leo Bauer (1912-1972), den er aus dem Schweizer Exil kannte und der ihn im Sommer 1945 nach Frankfurt am Main geholt hatte. Er war 1949/50 Chefredakteur des „Deutschlandsenders“ in Ostberlin, wurde im August 1950 verhaftet, zum Tode verurteilt und im Januar 1953 nach Sibirien verschleppt, wo er zu 25 Jahren Zwangsarbeit „begnadigt“ wurde. Er wurde 1955 auf Initiative des Bundeskanzlers Konrad Adenauer, der mit der Sowjetunion eine Vereinbarung über Gefangenenrückführung getroffen hatte, nach Westdeutschland entlassen.
Auch Fritz Sperling (1911-1958), den späteren KPD-Vorsitzenden in Bayern, kannte er aus dem Zürcher Exil. Er wurde 1951 unter einem Vorwand von München nach Ostberlin gelockt, dort verhaftet, zu sieben Jahren Zuchthaus verurteilt und 1956 als kranker Mann entlassen. Der aus Dresden stammende Kommunist Bruno Goldhammer (1905-1971) war 1944/45 Chefredakteur der antifaschistischen Zeitschrift „Freies Deutschland“. Er wurde 1950 in Ostberlin verhaftet, zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt und 1956 freigelassen; auch ihn kannte Hans Mayer noch aus Zürcher Zeiten. Die Angst, die ihn am Vorabend des 17. Juni erfüllte, nährte sich aus der Vorstellung, das „Ministerium für Staatssicherheit“ unter Wilhelm Zaisser (1893-1958) könnte auch noch andere Mitglieder der Schweizer Exilgruppe wie ihn und den mit ihm befreundeten Schriftsteller Stephan Hermlin (1915-1997) verhaften: „Dann war auch ich ein Westagent, obwohl man mir vorerst noch nichts vorgeworfen hatte.“
Diese Angst wurde aber dadurch noch verstärkt, dass Hans Mayer Jude war. Er wusste, dass Kommunisten, die aus dem Judentum stammten, stärker gefährdet waren als Nichtjuden. Er zählt sie auch alle auf: den tschechischen KP-Führer Rudolf Slansky (1901-1952), der 1952 in Prag gehängt wurde; seinen Freund Georg Lukacs (1885-1971) in Budapest, der nach dem Ungarnaufstand 1956 für zwei Jahre nach Rumänien verschleppt wurde. Auch Leo Bauer und Bruno Goldhammer waren Juden.
Den Aufstand des 17. Juni 1953 „hätte ich fast verschlafen“, erzählt Hans Mayer in seiner Autobiografie. Am Tag zuvor, am 16. Juni, war er dienstlich in Chemnitz gewesen, das vor wenigen Wochen, zum 70. Todestag von Karl Marx (1818-1883), in „Karl-Marx-Stadt“ umbenannt worden war. Er wollte ausschlafen und am späten Vormittag nach Ostberlin fahren zur Sitzung eines Professorengremiums. Nun aber weckten ihn seine Assistenten aus dem Germanistischen Institut mit einem Telefonanruf und waren hocherfreut darüber, dass er sich nicht unter die Leipziger Demonstranten gemischt hatte. Auf dem Weg in sein Institut sah er dann auch, wie er schreibt, diese ominösen und vielzitierten Westagenten auf Rädern, ein Topos, der in jeder DDR-Veröffentlichung über den 17. Juni zu lesen ist, die „das Volk“ im Vorüberfahren „aufhetzten“ und dann wieder irgendwohin verschwanden: „Ziemlich viele Radfahrer auf feinen und unverkennbar westlichen Fahrrädern, die rasch davonzuflitzen schienen, fielen mir auf.“ Selbst für Ostberlin, wo der Aufstand am 16. Juni ausgebrochen war, ließen sich diese radfahrenden „Konterrevolutionäre“ nicht einwandfrei nachweisen, umso weniger für die DDR-Provinz, weit weg von Westberlin. Immerhin spricht Hans Mayer von den „mit Recht zornigen Bauarbeitern“, auch wenn ihm niemand begegnet ist, der die „Aufständischen“ verteidigt hätte.
Am Nachmittag versuchte er dann doch noch, nach Ostberlin zu fahren, kam aber dort nicht an. Für die Zugreisenden war der Bahnhof von Jüterbog am frühen Abend Endstation, wo sie in einer Kneipe auf Stühlen übernachten mussten. Am nächsten Morgen, 18. Juni, bestieg Hans Mayer den Gegenzug nach Leipzig, einen Schnellzug mit Speisewagen, der außerplanmäßig hielt: „Es gab ein Frühstück mit Rührei, und es gab auch Schinken.“ Mit den „Aufständischen“ freilich konnte er „nicht gemeinsame Sache machen“, weil hinter denen die „alternden Anhänger eines Dritten Reiches…und die Aktionäre der Leuna-Werke“ stünden.
Es liegt nahe, die erneute Auseinandersetzung Hans Mayers mit dem 17. Juni 1953 sieben Jahre später als Variante des autobiografischen Kapitels von 1984 zu betrachten. Doch ist im fünften Kapitel des Buches „Der Turm von Babel“ (S.81-99), das er seinem Freund Stephan Hermlin (5) gewidmet hat, in Argumentation und Gegenargumentation zweifellos ein Erkenntnisgewinn zu verzeichnen, auch wenn der DDR-Emigrant von 1963 die westdeutsche Forschungsliteratur zum Thema offensichtlich nicht kennt. Für ihn sind „Westvariante“ und „Ostvariante“ der Deutung dieses Tages, also Staatsfeiertag auf der einen Seite und bewusst vollzogene Abstinenz, Ursachen, Verlauf und Wirkung des Aufstands zu ergründen („planmäßige Vernebelung“) auf der anderen Seite nur zwei Seiten einer Medaille, also in gleicher Weise verwerflich. Für die DDR-Nomenklatura, die „herrschende Klasse“, wenn man so will, die ihre Machtpositionen unangetastet sehen wollte, war demnach der Aufstand vom 17. Juni nichts weiter als ein „ohnmächtiger Versuch des westlichen Klassenfeinds, den antifaschistisch-demokratischen Staat der Werktätigen an seinem Wege in den real existierenden Sozialismus zu hindern. Auf Einzelheiten musste nicht eingegangen werden.“
Einige Passagen aus dem Text von 1984 sind freilich noch einmal aufgenommen worden, beispielsweise der unermüdlich durch Jahrzehnte tradierte DDR-Topos von den Westagenten auf Fahrrädern, den er aber zu entschärfen sucht: „Doch, die Flitzer hat es gegeben, aber die Revolte war trotzdem eine Revolte. Sie war hausgemacht und im Kern sicher nicht vom Westen importiert.“ Den kommunistischen Juden, die verfolgt wurden und in deren Reihen zu stehen er fürchtete, fügt er noch einen Namen an, den Rudolf Herrnstadts (1903-1966), des noch 1953 gestürzten Chefredakteurs der SED-Zeitung „Neues Deutschland“ 1949/53, den er einen „schneidend scharfen und kritischen Journalisten“ nennt.
Beim Lesen dieses Kapitels kann man sich des Verdachts nicht erwehren, dass Hans Mayer, der schon als Mitglied der Organisation „Rote Kämpfer“ vor 1933 eine marxistische Schulung durchlaufen hat, sich in der DDR-Geschichte und ihrer Interpretation gründlicher auskennt, als er hier zugeben möchte. So spricht er, was 1953 offen zutage lag, von der „Wirklichkeitsblindheit der Partei- und Staatsführung“ und vom „selbstherrlichen Walten der Parteifunktionäre“. Und der unbestreitbare Gipfelpunkt seiner Analyse: von der „wachsenden Verelendung“ der Arbeiter durch die „Normenschinderei“! Wer hier die Kapitalismuskritik eines Karl Marx im Ohr hat, hat recht gehört.
Allerdings fragt man sich verwundert, warum Hans Mayer an diesem Punkt stehen bleibt und dann nicht auch, wenn er so weit vorangeschritten ist in seinem analytischen Bemühen, den letzten Schritt wagt und den Aufstand der Arbeiter, wie der von ihm bewunderte Bertolt Brecht, eine Revolution nennt, wenn auch eine gescheiterte wie die von 1848 und die von 1918. Hier bewegt er sich argumentativ zwischen den Positionen der westdeutschen Forschung und der DDR-apologetischen, die vom „Putschversuch“, der niedergeschlagen wurde, spricht. Er nennt den Aufstand nur „jene Revolte“ oder „mehr Generalstreik statt Revolution“, weil er sonst zu Folgerungen genötigt wäre. Um seine Argumentation, die zwischen den Fronten schwebt, aufzuwerten, nennt er die „Bonner Politik…traditionalistisch und regressiv“, das aggressive DDR-Schimpfwort „reaktionär“ vermeidet er. Immerhin findet die „Gruppe 47“, eine westdeutsche „Schriftstellergemeinschaft, wo er jedes Jahr als Gastkritiker eingeladen war, sein volles Lob, da sie „schroff gegen den offiziellen Bonner Zeitgeist“ eingestellt gewesen wäre.
Mit dieser Erkenntnis freilich ist nichts gewonnen, denn die dreieinhalb Millionen Flüchtlinge, die bis zum Mauerbau 1961 und die Zehntausende, die danach unter Einsatz ihres Lebens die innerdeutsche Grenze überschritten haben, sind nicht wegen der Gesellschaftskritik der „Gruppe 47“ ins „kapitalistische“ Westdeutschland gekommen, sondern aus einem Dutzend anderer Gründe, auch wegen der florierenden Wirtschaft. Nirgendwo in diesem Text aber wird angedeutet, dass der SED-Staat eine Diktatur war, dass die DDR-Regierung zu keinem Zeitpunkt demokratisch gewählt war, dass es über vier Jahrzehnte keine Gewaltenteilung, ein Kriterium demokratischer Verfassungen, gab, keine Reisefreiheit, kein Streikrecht und, dass Verhaftung riskierte, wer diese vorenthaltenen Freiheiten einforderte. Man fragt sich deshalb, welcher der beiden deutschen Nachkriegsstaaten das epitheton ornans „reaktionär“ verdient hätte!
Der 2010 aufgefundene Text Hans Mayers aus dem Jahr 1953 steht unter dem Eindruck des Todes von Ethel und Julius Rosenberg am 19. Juni in New York. Sie waren verdächtigt worden, Ergebnisse der amerikanischen Nuklearforschung an die Sowjetunion verraten zu haben, dafür waren sie am 5. April 1951 zum Tode verurteilt worden. Das Urteil wurde, wegen weltweiter Proteste immer wieder aufgeschoben, zwei Jahre später aber vollstreckt. Hans Mayer verknüpft beide Vorgänge, den Aufstand vom 17. Juni in Deutschland und die Exekution vom 19. Juni in den Vereinigten Staaten, miteinander, um den Beweis zu führen, dass in beiden Fällen „faschistische“ Antriebe erkennbar sind: „Die gleichen Kreise und Instanzen aber, die Ethel und Julius Rosenberg auf den elektrischen Stuhl schickten, finanzieren und organisieren ihre Schläger- und Mörderbanden gegen die Deutsche Demokratische Republik und hießen sie am 17. Juni ans Werk gehen.“
Der Text ist, Wortwahl und Stil lassen es erkennen, in einem Zustand hoher Erregung geschrieben. Der Verfasser bekennt eingangs, dass er „Gedanken zum 17. Juni niederschreiben“ möchte, dass ihm das aber kaum gelingen will, weil er „immer…an die Rosenbergs denken muss.“ Das jüdische Ehepaar sei ermordet worden „gegen den Willen der Welt“, wie ein Vierteljahrhundert zuvor (1927) die „unschuldigen italienischen Arbeiter Sacco und Vanzetti“ (6). Unter Berufung auf den amerikanischen Schriftsteller Sinclair Lewis (1885-1951) und sein Buch „It can`t happen here“ (1935), das in deutscher Übersetzung 1936 in Amsterdam erschienen war, erklärt Hans Mayer, dass auch ein amerikanisch geprägter „Faschismus“ vorstellbar wäre, allerdings mit den Losungen von „Freiheit, Menschlichkeit und Demokratie“. Das Stichwort „Faschismus“ ist für ihn 1953 das tertium comparationis zwischen der Todesstrafe für die Rosenbergs und dem in Ostberlin ausgebrochenen Aufstand: „Es ging bei uns am 17. Juni um Faschismus und Antifaschismus. Es ist sinnlos, sich in dieser Grundfrage irgendetwas vormachen zu wollen…Klirrende Fensterscheiben, Verbrennung von Büchern und Papieren, Brandstiftungen, Plünderungen, Jagd auf Menschen, Lynchjustiz. Wer dächte nicht an die Tage nach dem Reichstagsbrand von 1933, an die Kristallnacht von 1938?“
Der Aufstand selbst, die politischen Hintergründe, die verschärfte Ausbeutung der DDR-Arbeiter durch erhöhte Normen, der Ruf nach freien Wahlen werden von Hans Mayer nicht erörtert. Sie wären wohl auch nicht einbezogen worden, wenn sie ihm bekannt gewesen wären. Die plakativ vorgetragene Behauptung, die Sowjetunion hätte am 17. Juni „bei uns von neuem die Gefahr des Faschismus gebannt“, blockiert jede weitere Diskussion über Ursachen und Folgen.
Wie brüchig und wenig überzeugend diese Konstruktion ist, den Arbeiteraufstand von 1953 zur „faschistischen Provokation“ zu erklären, zeigt ein Beispiel aus der Stadt, wo er seit 1948 lebt und lehrt, ein Beispiel, das freilich in den beiden späteren Texten fehlt: „Da sind Arbeiter in Leipzig – und es waren wirkliche Arbeiter, darüber soll man sich nicht täuschen – mit sogenannten sozialdemokratischen Losungen gegen unsere Staatsmacht aufmarschiert. Aber ihre sozialdemokratischen Losungen hatten sie aus faschistischen Händen empfangen und in einer faschistisch gelenkten Bewegung vorangetragen. Und damit waren es eben faschistische Losungen.“ Eine derart verquere Dialektik zur Abwehr unzufriedener Arbeitermassen konnte man damals nur in der SED-Zeitung „Neues Deutschland“ finden. Was er schmerzlich vermisst, ist die „geschlossene Abwehrfront unserer Arbeiterschaft“. Warum es die nicht gibt, bleibt undiskutiert!
Hans Mayer starb 2001, zwei Jahre später wurde im wiedervereinigten Deutschland des 50. Jahrestags des 17. Juni 1953 gedacht, mit Ausstellungen, Vorträgen, Büchern, Rundfunksendungen, die ein völlig anderes Bild des Aufstands zeichneten (7). Vielleicht hat Hans Mayer gewusst, warum er den Text nicht zur Veröffentlichung freigab!

Anmerkungen:
(1) Uwe Johnson „Einer meiner Lehrer“, in: Walter Jens/Fritz J. Raddatz (Hg.) „Hans Mayer zum 60. Geburtstag“ (1967)
(2) Andreas W. Mytze (Hg.) „europäische ideen“, Heft 47/2010, S. 25-27
(3) Hans Mayer „Ein Deutscher auf Widerruf“, zwei Bände (1982/84)
(4) Hans Mayer „Goethe in unserer Zeit. Eine Rede vor jungen Menschen“, Verlag Neues Leben, Berlin 1949
(5) Stephan Hermlin hat den Standpunkt, der Aufstand sei ein „faschistischer Putschversuch“ gewesen, dezidiert in seiner Erzählung „Die Kommandeuse“ (1954) vorgetragen
(6) Nicola Sacco (1891-1927) und Bartolomeo Vanzetti (1888-1927) waren zwei italienische Einwanderer in den Vereinigten Staaten, die sich der anarchistischen Arbeiterbewegung angeschlossen hatten. Sie wurden am 23. August 1927 auf dem elektrischen Stuhl hingerichtet. Anna Seghers hat das Thema in ihrer Erzählung „Auf dem Wege zur amerikanischen Botschaft“ (1929/30) verarbeitet
(7) Ähnlich überstürzt wie Hans Mayer hat Anna Seghers auf den Aufstand reagiert und schon am 4. Juli 1953 in ihrer Erzählung „An einer Baustelle in Berlin“, veröffentlicht in der „Täglichen Rundschau“, den Aufstand denunziert

Über Jörg Bernhard Bilke 251 Artikel
Dr. Jörg Bernhard Bilke, geboren 1937, studierte u.a. Klassische Philologie, Gemanistik und Geschichte in Berlin und wurde über das Frühwerk von Anna Seghers promoviert. Er war Kulturredakteur der Tageszeitung "Die Welt" und später Chefredakteur der Kulturpolitischen Korrespondenz in der Stiftung ostdeutscher Kulturrat.

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