Himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt

Himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt, wer ist das schon wirklich? Doch es gibt Menschen, die an einer Krankheit leiden, die sie genau solche extremen Höhen und Tiefen erleben lässt.


Die Depression

Was ist das Gute am Schlechten?


Verzweifelt war der Manager in den besten Jahren. Schon seit Monaten war die Stimmung immer weiter gesunken, an nichts hatte er mehr Freude. Der Antrieb fehlte, er war schnell ermüdet, dennoch war der Schlaf gestört und nichts schmeckte ihm mehr. Es plagte ihn die Angst, dass alles den Bach runter­gehen würde. Dabei gab es im Grunde keine Probleme. Er hatte einen guten Job, eine nette und einfühlsame Frau, erwachsene Kinder, die ihren Weg machten und auch jetzt zu ihm standen. Eigentlich hätte er sich geruhsam abends in einen Sessel fallen lassen können, mit seiner Frau ein gutes Glas Wein trinken, das Leben genießen. Stattdessen stand er morgens schon mit Angst und Unruhe auf. Der Gedanke, einen langen anstren­genden Tag vor sich zu haben, drückte ihn nieder. Wie sollte er das alles bloß schaffen? Würde er nicht ganz sicher seine Familie ruinieren und verarmen? War er nicht schuld an sei­nem eigenen Niedergang, aber auch an den Problemen seiner Firma, seiner Freunde, seiner Familie? Wahrhaftig, es war zum Verzweifeln. Und nie würde das aufhören, nie wieder würde er sich an der Sonne freuen können, er, der Unwürdige. Nie wieder würde er lachen können wie früher, als es ihm noch gut ging. Und beinahe konnte er darüber noch nicht einmal traurig sein. Ja, vor Monaten hatte er noch geweint über sein Geschick. Aber irgendwann waren sogar die Tränen versiegt. Er fühlte sich innerlich wie ein Stein. Gefühllos und doch ver­zweifelt vor dem schwarzen Nichts, in das er hilflos immer weiter hineingezogen wurde …
Erfahrene Psychiater sagen, dass man bei langer Erfahrung eine Schizophrenie einigermaßen nachvollziehen könne, eine tiefe von innen heraus aufsteigende Depression, eine Melan­cholie, dagegen könne man nicht nachfühlen. Das Wort De­pression führt da meist in die Irre. Denn darunter versteht manch einer die heftige Trauer beim Tod eines geliebten Men­schen oder auch schon bei einer schmerzhaft erlebten Tren­nung, bei der es einem tage- oder wochenlang nicht gut geht. Doch das ist meilenweit entfernt von dem, was ein von innen heraus depressiver Mensch erlebt. Der amerikanische Psy­chotherapeut Steve de Shazer hat einmal gesagt, Depression sei zwar das Lieblingswort von Therapeuten, doch im Grunde wisse keiner genau, was das eigentlich sei. Denn jeder verbin­det mit dem Wort »Depression« etwas höchst Subjektives.
Wir behandelten eine Patientin, die ein wirkliches Original war und im Normalzustand ganze Säle zum Toben brachte. Wenn sie dagegen nur wenige Menschen mit ihrer Art erhei­tern konnte, dann hatte sie »ihre« Depression. Sie litt erheblich unter diesen Phasen. So behandelten wir eine von außen ge­sehen im Vergleich zu anderen Menschen gar nicht depressiv wirkende Patientin antidepressiv, bis die Phase nachhaltig ab­geklungen war, und gaben ihr auch einen vorbeugend wirken­den Stimmungsstabilisierer. Die Wahrnehmung ihrer Depres­sion war also vor allem subjektiv.
Jeder erinnert sich beim Wort »Depression« an Phasen seines Lebens, in denen es ihm nicht so gut ging. Meist waren es irgendwelche traurigen Ereignisse, bei denen die Stimmung absackte. Doch das alles hat mit einer krankhaften Depression gar nichts zu tun. Auf traurige Lebensereignisse mit Traurigkeit zu reagieren, ist nicht krank, sondern normal. Und wenn Normale, angeregt durch geschäftstüchtige Psychoexperten, diese Befindlichkeitsstörungen zu Krankheiten aufblähen, wenn sie sich durch übertriebene Selbstbeobachtung in eine psychische Störung hineingrübeln, dann schaden sie sich selbst. So ist das Wort „Depression“ prekär und man hat versucht, die schwere, von innen her kommende Depression »Melancholie« zu nennen, um sie von den allgegenwärtigen »Depressionen« zu un­terscheiden. Doch das konnte sich nicht durchsetzen. Eines je­denfalls ist klar: Die hier gemeinte schwere Depression ist nicht irgendeine Verstimmung, die man einfach durch belastende Lebensereignisse erklären kann, selbst wenn unspezifischer Stress auch hier in einzelnen Fällen als Auslöser – aber nicht als Grund – auszumachen ist. Die schwere Depression ist nicht bloß eine Überanstrengung oder ein »Burn-out«. Gerade weil im Übrigen auch hier wieder die armen Angehörigen so oft un­gerecht beschuldigt werden, muss klar gesagt werden, dass an dieser schweren, von innen kommenden Depression niemand »schuld« ist. Es gibt einen bemerkenswerten Erbfaktor.
Am besten beschreibt man diese Depression also als Stoffwechselstörung im Gehirn, die man vor allem mit Stoffwechselprodukten, nämlich Medikamenten, behandelt. Die Krankheit hat jedenfalls eine Eigendynamik, die sich in schweren Stadien dem beruhigenden Gespräch und dann auch der professionellen Psychotherapie entzieht, In ihren ganz schweren Formen geht sie sogar mit depressivem Wahn einher: Verarmungswahn, Schuldwahn und der Wahn, nie mehr gesund werden zu können. Es können sogar depressive akustische Halluzinationen vorkommen. Gegen so etwas helfen bekanntlich keine Gespräche. Das Schlechte an dieser Störung ist das schwere Leid, das die Patienten empfinden. Das Gute ist, dass sie aufhört. Vollständig aufhört. Freilich leiden die Depressiven oft nicht bloß an ihrer Depression, sondern auch an den »Normalen«, die mit ihren »guten Ratschlägen« die Depression so richtig unerträglich machen können. Da wird der Patient immer wieder zu Aktivitäten gedrängt, zu denen er aber gar nicht in der Lage ist, so dass sein Selbstbewusstsein noch mehr Schaden erleidet. Die Hausfrau kommt wegen ihres Morgentiefs morgens nicht aus dem Bett. Der Ehemann drängt sie fast ärgerlich, da es ja kein Wunder sei, dass ihr alles über den Kopf wachse. Doch sie kann nun einmal nicht. Und so bedeutet die Krankenhauseinweisung an sich oft eine erhebliche Entlastung, weil jetzt dieses alltägliche Drängen mit der unvermeidlichen Folge des Gefühls des eigenen Ungenügens endlich wegfällt. Auch die Ratschläge »Reiß dich doch einfach mal zusammen!« oder treuherziges Zureden, dass die Lage doch eigentlich wunder­bar sei, lösen bei einem schwer depressiven Patienten oft bloß wieder einen depressiven Gedanken aus, dass man ja wirklich nichts tue und undankbarerweise sich noch nicht mal über all das Schöne freuen könne. Urlaubsfahrten können für solche Patienten zur Qual werden, weil sie da fröhliche Menschen in Urlaubsstimmung bei bestem Wetter erleben, sie selbst aber fühlen sich von innen heraus nach wie vor wie ein Stein. Die­ser Kontrast macht alles dann noch schlimmer, als es ohnehin schon ist.
Es gibt aber eben auch das Gute am Schlechten. Die schwe­re Depression ist gut behandelbar und irgendwann ist die Pha­se beendet. Den genauen Zeitpunkt kann niemand voraussa­gen, aber dass sie vorbeigeht, ist sicher. Hans Bürger-Prinz, ein bekannter Psychiater der Nachkriegszeit, beschreibt in seinen Lebenserinnerungen aus den dreißiger Jahren des 20. Jahrhun­derts den spektakulären Fall einer reichen Leipziger Industri­ellengattin, die plötzlich aus heiterem Himmel eine schwere Depression bekam. Sie ging zum Psychiater, aber damals gab es noch keine wirklich wirksame medikamentöse Behandlung. So suchte sie mit den Jahren so gut wie alle bekannten Psychiater Europas auf. Niemand konnte ihr helfen. Doch dann plötzlich, nach 17 Jahren, als schon niemand mehr auf Besserung hoffte, wachte sie morgens auf und – war gesund. Die depressive Pha­se war vorbei. Restlos vorbei. Die Patientin war überglücklich. Sie lud all ihre behandelnden Ärzte zu einem großen Fest ein: Und so feierte die Elite der europäischen Psychiatrie bei einem rauschenden Abend ihren eigenen Misserfolg und das Glück ihrer Patientin, endlich ihrer Depression entronnen zu sein.
Doch zurück zu unserem Manager. Auch er hatte keine Hoffnung, dass der Zustand sich noch einmal bessern wür­de. Ab und zu dachte er an Selbsttötung, doch er konnte uns glaubhaft versprechen, sich während des stationären Aufenthaltes nichts anzutun. Immer wieder musste ich ihm versichern, dass er gesund werden würde. Wir behandelten medikamentös. Alle begleitenden Gespräche drehten sich unablässig um seine Hoffnungslosigkeit. Zu irgendwelchen nützlichen Per­spektivwechseln war er nicht in der Lage. Das erste Antide­pressivum hatte nicht angeschlagen. Also probierten wir ein anderes aus. Und siehe da, die Stimmung hellte sich auf. Der Antrieb kam wieder, Die Hoffnungslosigkeit schwand, und der Patient konnte erstmals über anderes als seine Stimmung re­den, interessiert und mit emotionaler Beteiligung. Die Ehefrau merkte die Besserung als erste, dann die Pflegekräfte und wir Ärzte. Die Patienten sind leider gewöhnlich die letzten, die die Besserung mitbekommen. Schließlich bemerkte auch der Pati­ent die zunehmende Gesundung. Er war überglücklich, wurde entlassen, zeigte am Arbeitsplatz anfangs eine gewisse Überaktivität und im Privatleben eine etwas übertriebene Heiterkeit. Man könnte das nach der langen düsteren Zeit eigentlich gut verstehen. Aber Psychiater nennen so etwas eine »hypomanische Nachschwankung«. Die ist ganz vorübergehend und ein Zeichen für das definitive Ende der Depression. Es ist interes­sant, mit den Patienten nach Abklingen der Depression noch einmal gründlich zu sprechen. Sie erinnern sich an alles. Auch an die hoffnungsvollen Bemerkungen des Arztes und den ei­genen tiefen Zweifel daran. »Aber obwohl ich es nicht glauben konnte, es war wichtig, Herr Doktor, dass Sie das immer wieder gesagt haben!« Es sind vor allem die modernen Antidepressiva, die eine früher nicht selten jahrelange Qual für den Patienten beenden können. Durchschnittlich etwa ein halbes Jahr dau­ern solche depressive Phasen unbehandelt. Eine zeitige richtige Therapie ist daher von unschätzbarer Bedeutung, zumal Anti­depressiva zumeist erst nach zwei bis drei Wochen wirken. Je­der Tag ohne Depression ist ein gewonnener Tag für ein wieder farbiges Leben,
Gewiss spielt bei der Besserung der schweren Depression auch begleitende Psychotherapie, insbesondere kognitive Ver­haltenstherapie, eine wichtige Rolle und ebenso andere the­rapeutische Ansätze wie Ergotherapie, Kunsttherapie,Musiktherapie, Sporttherapie. speziell bei der Depression wird auch die Schlafentzugstherapie eingesetzt. Bei mehr saisonal auftretenden Depressionen kann die Lichttherapie wirksam sein, bei der künstliches Licht den vor allem in der dunklen Jahres­zeit depressiven Patienten von seinem Stimmungstief befreien hilft. Doch entscheidend bleibt in jedem Fall die antidepressive Behandlung mit Psychopharmaka. Wenn ein Therapieversuch mit mehreren solchen Medikamenten ohne Erfolg bleibt, kann bei der schweren Depression eine Elektrokrampftherapie er­wogen werden.
Man hat die Depression als »Volkskrankheit« bezeichnet, doch das mag eine Übertreibung sein, denn – wie gesagt – nicht jede ganz natürliche Trauerreaktion ist gleich eine Depression. Etwa drei bis vier Prozent der Menschen erleiden in ihrem Le­ben eine schwere melancholische Depression. Jedenfalls haben viele berühmte und hochbegabte außergewöhnliche Menschen in ihrem Leben depressive Phasen gehabt, Ernest Hemingway, der Maler Hugo van der Goes und manch anderer besonders sensibler Künstler. Viele verschweigen ihre Depression. Doch ab und zu kommt jemand aus der Deckung, so der inzwischen verstorbene Ehemann der niederländischen Königin, ein be­kannter Profifußballer und andere. Es gibt aber auch das lesens­werte Buch »Seelenfinsternis« des Psychiaters Piet Kuiper, der selbst an einer Depression erkrankte und plastisch schildert, wie er diese Erkrankung erlebt hat.

Dies ist ein Auszug aus dem neuen Buch von Manfred Lütz, „Irre! Wir behandeln die Falschen, Unser Problem sind die Normalen“, das im Gütersloher Verlagshaus 2009 erschienen ist.
(c).Vermerk: Verlagsgruppe Ramdom House GmbH München

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Über Lütz Manfred 3 Artikel
Dr. Manfred Lütz, geboren 1954, ist seit 1997 Chefarzt des Alexianer -Krankenhauses in Köln-Porz. 2008 wurde sein Buch Gott. Eine kleine Geschichte des Größten mit dem Internationalen Literaturpreis Corine ausgezeichnet. Im Herbst 2009 kam sein Buch "Irre! Wir behandeln die Falschen – Unser Problem sind die Normalen. Eine heitere Seelenkunde" auf die Spiegel Bestsellerliste.

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