„Ich werde zum durchsichtigen Auge“ im dröhnenden Menuett der Wildnis

Die Jagd auf mehr oder weniger wilde Tiere nimmt in Karl Mays facettenreichen Abenteuererzählungen oft eine wichtige Rolle ein. Ob Büffel oder Mustangs mit dem Lasso eingefangen, Grizzlybären mit dem Bärentöter oder Löwen und Panther mit dem Bowiemesser erlegt werden: Der Leser hält bei jedem der packenden Jagderlebnisse den Atem an und fiebert der dem Sieger winkenden Trophäe entgegen.

Auch in John Williams bereits 1960 erschienen „Butcher' Crossing“ geht es um die begehrten Felle der durch schonungslose Jagd beinahe ausgerotteten amerikanischen Wildrinder. Doch Williams' Roman, den er in der Zeit um 1870 ansiedelt, bewegt sich fernab der erdichteten Wildwestromantik um Winnetou und Old Shatterhand. Der amerikanische Autor, der 1994 nahezu vergessen starb, vor knapp zwei Jahren wiederentdeckt wurde und mit „Stoner“ posthum in deutsche Bestsellerlisten schwappte, zeichnet ein völlig anderes Bild der amerikanischen Prärie, als sein deutscher „Kollege“. John Williams' noch beinahe naturbelassener Westen kommt aller Wahrscheinlichkeit nach dem tatsächlichen Original um ein Vielfaches näher. Zudem wartet er, wie schon in „Stoner“ zelebriert, mit einer beinahe atemberaubend zu nennenden Schreibkunst auf.

Zum Inhalt: Den 21-jährigen Will Andrews treibt es vom wohlbehüteten, geordneten und gutbürgerlichen Leben in Massachusetts fort. Dorthin wo er meint, sein Land besser kennenzulernen, als hinter dem Studienpult des Harvard-Colleges in Boston, wo er als Student eingeschrieben ist. „Es ging ihm um Freiheit und das Gute, um Hoffnung und eine Lebenskraft, die allem Altbekannten in seinem Leben zu unterliegen schien, das weder frei noch gut oder lebendig war. Was er suchte, war das, was seine Welt nährte und sie erhielt, eine Welt, die sich stets ängstlich von ihrer Quelle abzuwenden schien, statt danach zu suchen, so wie das Präriegras um ihn herum faserige Wurzeln in die satte, dunkle Feuchte schickte, in die Wildnis, und sich so erneuerte, Jahr um Jahr.“

Er strandet in dem staubigen Nest Butcher's Crossing, in dem noch die charakteristischen Archetypen der damaligen amerikanischen Gesellschaft zu finden sind: Frauen des horizontalen Gewerbes, skrupellose Geschäftsmänner, der Trunksucht verfallene Aussteiger und von Gier verblendete Jäger. Mit dreien dieser Art einprägsamen Gestalten macht er sich auf, um die wahrscheinlich letzte, sagenhaft riesige Büffelherde zu finden. Doch durch das schon seit Jahren betriebene systematische Abschlachten dieser Tiere, tendiert die Chance auf Erfolg eines solchen Unternehmens nahezu gegen Null. In Miller findet Will Andrews allerdings einen erfahrenen Jäger, der in einem Tal der Rocky Mountains vor einigen Jahren dieses bisher durch andere Menschen unentdeckte Eldorado gesehen haben will. Gemeinsam mit dessen Kompagnon Charley Hoge, dem Häuter Fred Schneider und einem Ochsengespann machen sich die vier Männer zu Pferde auf die Suche nach diesem naturbelassenen Landstrich. Sie werden ihn tatsächlich finden und gleichwohl die erhoffte riesige Büffelherde. Doch bricht dabei bei einigen von ihnen „das Böse im Menschen“ mit nahezu unbändiger Kraft heraus, anderen wiederum bleibt nur der Rückzug in den Wahnsinn.

Mit aller Macht stemmt sich Will Andrews gegen die auch bei ihm aufflammende martialische Gier und das zunehmende Abgestumpftsein in der schier unendlichen Weite der unberührten Natur. Trotz Strapazen und Widrigkeiten versucht er sich immer wieder an der Schönheit selbiger aufzurichten. Am Ende wird der junge Mann als ein anderer zurückkehren. Seine idealistischen Vorstellungen haben dabei einen entscheidenden Dämpfer erhalten.

Erneut hält der Leser einen Text in den Händen, der mit unglaublich detailreichen, bildhaften und nahezu sensitiv spürbaren Landschaftsbeschreibungen aufwartet, die locker und ohne Brüche durch Bernhard Robben übersetzt wurden. „Butcher's Crossing“ ist ein gut lesbares und zugleich tiefsinniges, literarisch bereicherndes Buch. Ein Text, der wie nebenher ein kleines Stück amerikanischer Geschichte näherbringt, aber auch noch heute gültige existenzielle Fragen an das menschliche Sein und sein Einwirken in die Natur stellt. Wenn man einen Vergleich bemühen will, so möchte ich an meinen Einstieg anknüpfen: John Williams „Butcher's Crossing“ zu lesen ist fesselnd wie bei Karl May, aber deutlich substantieller und glaubwürdiger.

John Williams
Butcher's Crossing
Aus dem Amerikanischen von Bernhard Robben
Titel der Originalausgabe: Butcher's Crossing
dtv Verlag (März 2015)
368 Seiten, Gebunden
ISBN-10: 3423280492
ISBN-13: 978-3423280495
Preis: 21,90 EUR

Über Heike Geilen 597 Artikel
Heike Geilen, geboren 1963, studierte Bauingenieurswesen an der Technischen Universität Cottbus. Sie arbeitet als freie Autorin und Rezensentin für verschiedene Literaturportale. Von ihr ist eine Vielzahl von Rezensionen zu unterschiedlichsten Themen im Internet zu finden.

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