„Immer noch eine Tabudiagnose“

Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen erläutert, wie die Familie mit der Alzheimer-Krankheit ihres Vaters Ernst Albrecht umgeht.

Focus: Aus eigener Erfahrung wissen Sie, was Angehörige von Alzheimer-Patienten bewegt. Nun werben Sie für mehr Verständnis für die Familien und einen offenen Umgang mit der Erkrankung. Warum?
Ursula von der Leyen: Wenn Menschen an Alzheimer denken, haben sie meistens ein Horrorszenario im Kopf. Es ist die Vorstellung von aggressiven, wirren alten Menschen, die durch die Gegend irren ein Zerrbild, denn im Frühstadium stehen die Patienten über viele Jahre noch voll im Leben. Am Anfang führt der langsame Verlust des Kurzzeit- und Namensgedächtnisses zu Missverständnissen und peinlichen Situationen. Die Familien ziehen sich deshalb gemeinsam mit dem Alzheimer-Kranken aus Scham und Unwissen zurück. Dabei bräuchten sie gerade das Gegenteil: viele soziale Kontakte, Verständnis und Unterstützung.
Focus: Warum haben die Menschen gerade vor Demenzerkrankungen so große Scheu?
Ursula von der Leyen: Alzheimer gilt hierzulande noch als Tabudiagnose. Die Medizin zeigt therapeutische Hilflosigkeit, in der Pflegeversicherung haben wir erst in diesem Jahr die Demenz als besondere Pflegeform berücksichtigt. Dabei erkranken jedes Jahr 250.000 Menschen neu an einer Demenz. Von den 1,1 Millionen Betroffenen in Deutschland werden zwei Drittel zu Hause von den Angehörigen versorgt. In jeder Familie verändert sich damit das Zusammenleben einschneidend. Deshalb braucht es Eisbrecher für dieses Thema. Ronald Reagans Krankheit hat die Forschung unglaublich stark vorangetrieben. Ich selber habe es auch als Entlastung empfunden zu lesen, wie Margaret Thatchers Tochter die Veränderungen bei ihrer Mutter schildert.
Focus: Fiel es Ihnen schwer, offen über die Erkrankung Ihres Vaters zu sprechen?
Ursula von der Leyen: Der Entschluss dazu war natürlich sehr schwierig. Es ist ein schmaler Grat des Abwägens zwischen Privatsphäre und dem Werben um Schutz und Verständnis. Trotzdem sage ich heute, es war richtig.
Focus: Warum?
Ursula von der Leyen: Ich hätte sonst unentwegt versucht, meinen Vater zu kontrollieren, um unangenehme Situationen zu vermeiden. Das wäre aber gar nicht gegangen, denn er ist sehr gerne in Gesellschaft. Und diese Kontaktmöglichkeiten helfen sehr. Jetzt kann er sich weiterhin unbeschwert in der Stadt und in Niedersachsen bewegen, ohne Missverständnisse zu provozieren und Gesprächspartner zu irritieren.
Focus: Irritieren?
Ursula von der Leyen: Nun, Alzheimer-Kranke können sich mit jemandem unterhalten, den sie seit Jahrzehnten gut kennen, und am Ende des Gesprächs sagen: „Es war schön, Sie kennen gelernt zu haben.“ Nur Eingeweihte können so ein Kompliment sofort verstehen.
Focus: Ihr Vater hat sich bereits vor fast sechs Jahren wegen Gedächtnisstörungen untersuchen lassen und die Diagnose Alzheimer bekommen…
Ursula von der Leyen: …und mit mir und meinen Brüdern in aller Klarheit darüber gesprochen. Dazu gehörte ein hohes Maß an Offenheit.
Focus: Hat dies die Situation erleichtert?
Ursula von der Leyen: Ja, das hat unglaublich geholfen, denn uns war damals noch gar nichts aufgefallen. Nach dem ersten Entsetzen über die Diagnose konnten wir gemeinsam besprechen, wie es weitergehen soll.
Focus: Was waren die nächsten Schritte?
Ursula von der Leyen: Mein Vater ist verwitwet. Er sagte deutlich, dass er nicht mehr alleine leben wollte. Da ich, anders als meine Brüder, ohnehin in der Gegend wohnte, lag es nahe, dass wir mit unseren Kindern zu ihm ziehen. Natürlich mussten wir erst klären, wo unsere gemeinsamen Berührungspunkte liegen und wo die Privatsphäre jeweils beginnt. Beide Seiten mussten zu Kompromissen bereit sein.
Focus: Hat sich Ihre Haltung gegenüber der Krankheit verändert?
Ursula von der Leyen: Als ich von der Diagnose erfuhr, hatte ich große Angst vor der Zukunft. Heute, nach mehr als fünf Jahren, bin ich viel gelassener und pragmatischer geworden. Mich interessiert, wie wir diesen Tag und die nächsten vier Wochen gut schaffen oder auch das nächste halbe Jahr. Aber mich interessiert nicht, wie es in vier Jahren sein wird. Das wird sich dann ergeben.
Focus: Was stützt Ihre Zuversicht?
Ursula von der Leyen: Es hilft enorm, dass wir eine so große Familie sind. Ich kann mich mit meinen Brüdern beraten, und sie kommen regelmäßig zu uns. Mein Mann ist viel für meinen Vater da. Natürlich sind auch die Kinder eine Riesenhilfe, auch weil sie die täglichen Aufs und Abs mit viel Humor nehmen. Heikle Vorfälle mit dem Großvater, die mich zutiefst belasten, finden die Kinder oft komisch. Und zum Schluss muss ich selber schmunzeln.
Focus: Wie kommen die Enkel mit ihrem Großvater zurecht?
Ursula von der Leyen: Sie freuen sich, dass er da ist, und besuchen ihn gern, auch weil es in seinem Teil des Hauses wunderbare Spielsachen und den großen Fernseher gibt. Dort kann man toll die „Sportschau“ sehen. Und zwar gemeinsam mit dem Großvater, der sie auch leidenschaftlich gern guckt. Dann sitzen ein zehn- und ein 78-jähriger Fan auf demselben Sofa.
Focus: Sie vermitteln den Eindruck, Ihrem Vater ginge es gut.
Ursula von der Leyen: Er fühlt sich fit und ist zufrieden, weil er seit einiger Zeit nicht mehr wahrnimmt, was Alzheimer in seiner ganzen Konsequenz bedeutet. Dennoch nennt sein Arzt die gegenwärtige Phase die schwierigste der Erkrankung.
Focus: Was meint er damit?
Ursula von der Leyen: Wenn der Patient noch sehr aktiv, sehr kommunikativ ist, kann er dank seiner Intelligenz und Lebenserfahrung noch viele Umgehungswege finden. Wörter, die fehlen, werden umschrieben. Nahe Freunde oder völlig Fremde werden mit Ritualen oder Floskeln, die ja seit Jahrzehnten eingeübt sind, gleichermaßen freundlich behandelt. Und es ist ein wenig wie in der Pubertät, wo der Mensch auch immer seine Grenzen austestet. Und da drohen Gefahren.
Focus: Welche?
Ursula von der Leyen: Sie betreffen den Straßenverkehr ebenso wie Geldgeschäfte oder Medikamenteneinnahme.
Focus: Alzheimer-Patienten versuchen oft, Fehler zu vertuschen. Damit wollen sie ihre Selbstständigkeit bewahren, sagen Experten.
Ursula von der Leyen: Und sie haben Recht aus ihrer Situation gesehen. Wie muss es schwer und beängstigend sein, wenn Namen, Menschen, Orte nicht mehr zueinandergehören! Demenzkranke können sich kaum noch auf die Gefühle anderer einstellen, aber sie haben dennoch ein reiches Innenleben, fühlen Trauer und Freude. Wir haben ein Forschungsprojekt imFamilienministerium finanziert, das Pflegepersonal diese Zugangswege zu Demenzpatienten zeigt. Jetzt erweitern wir diesen Ansatz für Angehörige. In der Versorgungsforschung passiert allerdings viel zu wenig.
Focus: Wie gehen Sie mit der Belastung um, die die Gemeinschaft mit dem Vater auslöst?
Ursula von der Leyen: Es hilft, dass wir viele in der Familie sind. Und es hilft, dass mein Mann und ich unsere Berufe haben und so immer wieder Abstand finden. Mein Vater hat eine Hilfe im Haushalt und gute Freunde, die weiterhin treu für ihn da sind. Schließlich versuche ich über Literatur oder Gespräche mit Ärzten, so viel wie möglich zu lernen, was anderen in ähnlichen Situationen schon geholfen hat.
Focus: So viel Beistand würde man allen Menschen, die sich um alzheimerkranke Angehörige kümmern, wünschen.
Ursula von der Leyen: Genau dies ist das Grundprinzip für die Politik, Angehörige nicht allein zu lassen.Es beginnt bei umfassender Beratung in Gedächtnisambulanzen oder Pflegestützpunkten. Dazu kommen spezialisierte Arztpraxen, Pflegedienste und Tagesambulanzen. Außerdem müssen die Familien Entlastung im Alltag bekommen. Wir schulen deshalb ehrenamtliche Demenzbegleiter. Das sind Laien, die sich Zeit nehmen und bereit sind, sich auf den Kranken einzulassen, mit ihm Puzzles zu legen, spazieren zu gehen und alte Geschichten anzuhören. Abwechslung schützt die Angehörigen davor, im Hamsterrad verrückt zu werden. Die Familien brauchen Hilfe!

Das Interview ist am 15. Dezember 2008 im „Focus“ erschienen. Das Interview führte Regine Albers. Quelle: FOCUS 51/2008 vom 15.12.2008. Mit freundlicher Genehmigung des „Focus“.

Ursula von der Leyen: "Immer noch eine Tabudiagnose"

Über der Leyen Ursula von 1 Artikel
Dr. Ursula Gertrud von der Leyen, geboren 1958, war von 2003 bis 2005 Ministerin für Soziales, Frauen, Familie und Gesundheit des Landes Niedersachsen und von 2005 bis 2009 Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Seit 2009 ist sie Bundesministerin für Arbeit und Soziales. Ursula von der Leyen studierte Medizin in Hannover.

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