Inklusion – Schließen wir alles mit ein?

Ein neuer Stern ist am Himmel erschienen und weist der dunklen Welt den Weg zur Erleuchtung. Der glänzende Star trägt den klang vollen Namen „Inklusion“, eine magische Beschwörungsformel, die inzwischen die Massenmedien und Universitäten, die politischen Parteien und Kirchen verzaubert. Freilich ohne Aufklärung und die Mühsal der Begriffserklärung. „Inklusion! Inklusion!“ Das imperative, raunend ominöse Wort hat eine schwindelerregende Karriere angetreten. Es feiert rauschende Erfolge in den ideologieanfälligen Geistes-, Kultur-, Erziehungs- und Sozialwissenschaften, denen endlich mal wieder so etwas wie eine politische Utopie (die eine neue Welt) oder Vision (der neue Mensch) in die ausgehungerten Mägen kommt.
Aber gut verdaulich ist dieser faszinierende, weil vieldeutige Begriff nicht. Ihm fehlt die analytische Trennschärfe, die er ja gerade ausschließen will, und er läßt sich mit allen möglichen und unmöglichen Inhalten vollstopfen, weil ihm der Sinn für die Unterscheidung des Möglichen vom Unmöglichen abgeht. Sehr, sehr modern ist der Inklusionsbegriff schon deshalb, weil in ihm die Differenzen zwischen wahr und falsch, gut und schlecht, schön und häßlich verschwimmen – und damit der Willkür politischer Definitionsmacht ausgeliefert sind.
Einer gewissen inklusiven Denkform konnte man schon vor dem letzten Konzil begegnen, als Katholiken bei ihrer monatlichen Beichte nach dem generalisierenden Sündenbekenntnis und vor der Absolution vom Herrn Pastor zu hören bekamen: „Schließen wir alles mit ein“. Das pastorale Verständnis ersparte einem, jene Peinlichkeiten zu benennen, die mit dem Verstoß gegen die Gebote Gottes verbunden sind. Die allzu liebenswürdigen Pastoren waren die Vorboten jener Gleichgültigkeit, die sich inzwischen mit der kollektiv vereinnahmenden Generalabsolution begnügt: Wir sind alles kleine Sünderlein, s’war immer so.
In der rheinischen Mentalität verbindet sich freilich bis heute die libertäre Wurstigkeit des inklusiven Denkens („Wir kommen alle, alle in den Himmel“) mit der exklusiven, speziell linksrheinisch-kölnischen Überzeugung: „Wer nit Blootwoorsch sagen kann“ (statt Blutwurst), der sei „ne Immi, ne Ami“ – oder eben vom rechten Rheinufer, der „schäl Sick“, wo bereits Sibirien beginnt. Man sage nicht, das sei bloß nostalgische Folklore, die sich nur noch in alten Karnevalsliedern konserviert. Wie sich inklusives mit exklusivem Denken verbindet, zeigte sich paradigmatisch bei der jüngsten Fußballweltmeisterschaft: „Wir“ sind Weltmeister, d.h. einschließlich der teuer gekauften ausländischen Spieler männlichen Geschlechts, aber eben auch jener Frauen und Männer, die sich vor dem Fernseher bei Bier und Knabbergebäck herumlümmelten.
Einzuräumen ist, daß diese Beispiele von Inklusion bei gleichzeitiger Exklusion, obwohl ihnen eine tiefere Volksweisheit zukommt, bei der gegenwärtig anschwellenden intellektuellen und politischen Debatte kaum eine Rolle spielen, weil es an der entsprechenden Differenzierung mangelt. Hier herrscht das „all inclusive“-Denken vor, wie es in der Gastronomie der touristischen Massenabfertigung denen vorgegaukelt wird, die ein Schnäppchen, aber keinen Leckerbissen erhaschen wollen – und denen das Unterscheiden und Abwägen einfach zu kompliziert ist. Ganz ähnlich wie bei jenen journalistischen Zeilenschindern, denen die schiere Quantität der Buchstaben („inklusive Leerstellen“) wichtiger ist als die Qualität des knappen Inhalts. Die inklusiven Leerstellen sind heute entscheidend.
Zwischen Freunden, Fremden und Feinden zu unterscheiden, um ihren Zugang zu regulieren und kontrollierbar zu machen, diese Fähigkeit sorgt wohl nur noch im privaten Leben für die notwendige Auswahl. Im öffentlichen Leben der Politiker und Diskursregulierer hingegen herrscht inzwischen jene inhaltliche Leere vor, jene heiter-beschwingte Sorglosigkeit, die in der Inklusion des Disparaten die Erfüllung des alten Menschheitstraums ersehnt: Alle Menschen werden Brüder. Und natürlich auch Schwestern. Freilich bleibt es de facto dabei, daß Grenzziehungen notwendig erscheinen. Sie werden durch das sich (namentlich in Wirtschaftsfragen) verschärfende Strafrecht gezogen. Aber auch durch die roten Linien der politischen Korrektheit, die zunehmend die bürgerlich-freiheitliche Existenz gefährdet: „Und willst Du nicht mein Bruder sein, so schlag‘ ich Dir den Schädel ein.“
Inklusion ist also nicht ohne Exklusion zu haben – wie die Kirchlichkeit nicht ohne Exkommunikation zu denken ist. Jedoch insinuiert das inklusive Denken eine Solidarität mit allem und allen. Aber womit konkret? Auch mit islamischen Gesetzesbrechern und Antisemiten, die ihrer Scharia Rechtskraft verleihen wollen? Geht es um die Integration in das Gemeinwohl Deutschlands und Europas, also um das wert- und rechtsbezogene Wohl aller einzelnen, auch das der Eingewanderten, in dieser Gesellschaft? Und geht es um eine Subsidiarität, die sich im stufenweisen Aufbau der „Einheit in der Vielfalt“ Europas zu bewähren hat?
Es geht zunächst um natürliche sexuelle Unterschiede, die durch angebliche Selbstkonstruktion („Gender Mainstreaming“) beliebig eingeebnet werden sollen. Damit können gläubige Muslime, aber auch Christen nicht viel anfangen. Inzwischen geht es auch um die Inklusion von geistig oder körperlich Behinderten. Um nicht diskriminiert zu werden, sollen sie künftig nicht mehr in besonderen Förderschulen unterrichtet und integriert werden, sondern dem übrigen Schulsystem eingegliedert, d.h. gleichgestellt werden. Diese Art von Gleichmacherei hat mit Gerechtigkeit nichts mehr zu tun. Denn die Gerechtigkeit ist proportional: Gleiches ist gleich, Ungleiches unterschiedlich zu behandeln. Behinderte verdienen eine besondere Förderung. Das ist genuin christlich.
Die Einebnung der Unterschiede zwischen Kulturen, Religionen und Völker, zwischen Geschlechtern, Generationen, sozialen Schichten, zwischen Begabungen und Leistungen ist ein eschatologisches Programm Gottes. Im Himmelreich sind alle gleich. Hienieden gilt, nicht nur für freiheitsliebende Rheinländer: Jeder Jeck ist anders. Eine geschlossene, alles einschließende Gesellschaft ist totalitär. Und im Gefängnis der Gleichmacherei sind alle eingeschlossen.

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Über Wolfgang Ockenfels 43 Artikel
Prof. Dr. Dr. Wolfgang Ockenfels, geboren 1947, studierte Philosophie und Theologie in Bonn und Walberberg. 1985 erhielt er eine Professur für Christliche Sozialwissenschaften mit den Lehrgebieten Politische Ethik und Theologie, Katholische Soziallehre und Sozialethik, Wirtschaftsethik sowie Familie, Medien und Gesellschaft an der Theologischen Fakultät Trier. Ockenfels ist zudem Geistlicher Berater des Bundes Katholischer Unternehmer BKU und Chefredakteur der Zeitschrift "Die Neue Ordnung" in Bonn. Er gehört zum Konvent Heilig Kreuz der Dominikaner in Köln.

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