Irrte Kant?

Wissen basiert auf sinnlicher Wahrnehmung. Und real ist nur, was wir mit unseren Sinnen wahrnehmen können. Diese beiden Statements hörte ich vor zwei Tagen in einer Radiosendung unter Bezug auf den Philosophen Immanuel Kant (1724-1804). Sie erscheinen mir allerdings eine unzulässige Verkürzung seiner Aussage zu sein, nach der Sinnlichkeit und Verstand die beiden Wurzeln der Erkenntnis sind. Es kommt also noch der Verstand hinzu, der uns auch noch weitere Dinge als real erkennen lässt, die wir nicht direkt mit unseren Sinnen wahrnehmen können. Dies war vielleicht zu Kants Zeiten vor über 200 Jahren anders als heute, denn heute helfen uns dort, wo unsere Sinne versagen, technische Geräte (Sensoren, Maschinen, Computer …). Zum Beispiel können wir elektrische Energie, Röntgenstrahlen und Radiowellen technisch erzeugen und mit ihnen umgehen, aber wir können sie nicht mit unseren Sinnen wahrnehmen. Nur sichtbares Licht sehen wir und nur Wärmestrahlen machen uns warm. Immanuel Kants Aussage müsste demnach wie folgt formuliert werden: Mit den Informationen, die unsere Sinnen direkt oder indirekt (mit den Methoden der Naturwissenschaften) wahrnehmen, können wir uns mit unserem Verstand Erkenntnis und Wissen verschaffen. Kant formulierte zu seiner Zeit gewiss richtig, was für die Menschen der Vergangenheit Realität war. Dies galt so lange, bis es der Menschheit gelang, auch Dinge, die man nicht direkt sinnlich wahrnehmen konnte, mit naturwissenschaftlich-technischen Methoden indirekt wahrzunehmen und zu beherrschen.Dazu zählen auch Information und Informationsverarbeitung, deren Bedeutung uns erst mit der Erfindung der Computer und den Erkenntnissen der Genetik bewusst wurde. Die modernen Naturwissenschaften lassen uns heute verstehen, was die Welt im Innersten zusammenhält. Gemeint ist damit nicht nur der Aufbau der Materie, der Atome und der Elementarteilchen, sondern auch was körperliches und geistiges Leben ist, und wie sich Leben entwickelt hat. Wir wissen, dass der Mond um die Erde und diese wiederum um die Sonne kreist, ohne die Gravitationskräfte zwischen ihnen sehen oder spüren zu können. Wir wissen auch, wie stark die Kräfte quantitativ sind, ohne zu sehen und zu spüren, wie die Informationen zwischen den Massen ausgetauscht wird, die die Kräfte in der richtigen Stärke wirken lassen.
Obwohl wir die Gesetzmäßigkeiten, nach denen unsere Welt funktioniert, nicht mit unseren Sinnen wahrnehmen können, haben wir sie mit unseren naturwissenschaftlichen Möglichkeiten quantitativ bis ins Detail erforscht und nutzen die daraus abgeleiteten Erkenntnisse zu unserem Vorteil.Sie bilden die abstrakte, aber sehr reale Welt der Mathematik und Physik, mit der wir auch chemische und biologische Vorgänge verstehen können. Mit ihnen wissen wir, dass die Genetik die Basis der Informationsverarbeitung in der Biologie ist, die dafür sorgt, dass alle Lebewesen (Bakterien, Pilze, … Pflanzen, Tiere, Menschen) identisch reproduziert und über die Jahrmillionen evolutionär ununterbrochen lebend weiterentwickelt werden.
Unser gewiss realer menschlicher Geist verarbeitet die Informationen, die aus unseren Sinnesorganen kommen und in unseren Neuronen abgespeichert werden. Aber unseren Geist können wir mit unseren Sinnen nicht wahrnehmen, wir können ihn weder lokalisieren noch bei seiner Arbeit beobachten, dennoch ist er real und gibt uns die Möglichkeit, mit ihm ein geistiges Leben zu führen (s. Hans Sixl, Geist und Leben aus naturwissenschaftlicher Sicht, Tabula Rasa 71 (1/2012)). Information und Informationsverarbeitung bilden die Basis unseres geistigen Lebens. Eine andere Art der Information ist die Basis unseres körperlichen Lebens. Es ist die genetische Information, die in lebenden Zellen seit Jahrmillionen ununterbrochen lebend weitergegeben wird. Sie bildet die Grundlage aller körperlichen Lebensformen. Was in den Genen unserer Körperzellen an Informationen abgespeichert und verarbeitet wird, ist ebenso real wie die Informationen, die in unserem Gehirn abgespeichert und verarbeitet werden. Aber wir können weder sie, noch wie sie verarbeitet werden, sehen oder spüren. Also gilt: Was wir mit unseren Sinnen und mit unseren wissenschaftlich-technischen Möglichkeiten wahrnehmen können, ist die Grundlage unseres Wissens über uns und unsere realen Welt, in der wir leben. Dazu zählen also auch abstrakte und geistige Dinge wie Information und Informationsverarbeitung, Naturgesetze und alle Erkenntnisse der Naturwissenschaften, also alles, was experimentell belegbar ist und naturwissenschaftlicher Logik gehorcht.
Gottesbeweise sind automatisch mit der Kantschen Philosophie verbunden. Die Frage nach der realen Existenz Gottes ist die Grundlage jeder Theologie. Die Existenz Gottes kann man so wenig beweisen, wie seine Nichtexistenz wird gerne als Kernaussage der Kantschen Philosophie formuliert. Gewiss ist es unmöglich zu beweisen, (1) dass Gott eine Person ist, mit der man sich wie Moses oder Adam und Eva unterhalten kann, (2) dass Jesus Gottes Sohn ist und (3) dass er in der Dreieinigkeit Gott selbst ist. Dies lässt sich ebenso wenig beweisen wie (4), dass Maria die Mutter Gottes ist – ein Wiederspruch in sich selbst, da Gott schon immer existierte und deshalb keine Mutter und auch keinen anderen Ursprung haben kann. Es gilt heute als absolut irrational, sich Gott (der ein unsichtbares überirdisches Wesen, also ein Geist ist), als eine Person in Menschengestalt vorzustellen.Es kommt also sehr genau darauf an, was man bei einem Gottesbeweis beweisen möchte, wenn man damit Erfolg haben möchte.
Ein ewig lebender Gott ist für gläubige Menschen der Ursprung aller Dinge. Für sie existiert und wirkt er sowohl in seiner himmlischen Welt als auch auf der irdischen Welt. Letzteres muss so sein, denn sonst wäre es sinnlos, ihn anzubeten. Für gläubige Menschen wäre es damit sehr wünschenswert, wenn man ihn (also seinen Geist) oder seine göttliche Handschrift im Ursprung des Universums und im Ablauf des Geschehens in unserer realen Welt erkennen könnte.
Wie ein Goldsucher wissen muss, welche Eigenschaften Gold hat, um bei der Suche nach Gold Erfolg haben zu können, so muss auch ein gläubiger Mensch wissen, welche Eigenschaften sein Gott hat, wenn er ihn in unserer realen Welt finden möchte. In der Sprache der gläubigen Menschen muss er ewig leben, allmächtig, allwissend, allgegenwärtig und ein wandlungsfähiger Geist sein. In naturwissenschaftlicher Sprache muss er nicht nur ohne Wunder die Welt und alles in ihr erzeugt haben, sondern er muss auch alles, was auf unserer realen Welt existiert und im gesamten Universum geschieht, für alle Zeiten beherrschen. Er muss außerdem ewig leben (also auch noch heute) und alles so intelligent geregelt haben, dass es nach seinen göttlichen Plänen (Gesetzen) vom Anfang bis zum Ende des Universums perfekt abläuft.
Eine Person auf unserer realen Welt zu finden, die Wunder wirkt und die wie ein Magier durch Worte alles erschaffen hat, entspräche einem Gottesbeweis, der nach Kant zu Recht mit unserer sinnlichen Wahrnehmung nicht geführt werden kann. Aber wie steht es damit, wenn man Gott nicht als Person, sondern aufgrund seiner göttlichen Eigenschaften als Geist sucht? Wie steht es damit, wenn man die sinnliche Wahrnehmung mit den Erkenntnissen der Naturwissenschaften ergänzt, die weit über die sinnliche Wahrnehmbarkeit hinausgehen? In der Tat stellt man dann fest, dass alle göttlichen Eigenschaften im Ursprung des Universums und im Ablauf des Geschehens auf unserer Welt und in der Evolution der belebten Natur für ewige Zeiten erkennbar und nachweisbar sind (s. Hans Sixl, Searching God Scientifically, Tabula Rasa 76 (6/2012) und Hans Sixl, Göttliches, Wagner Verlag 2010). Ferner zeigt sich dann, dass die Energie des Urknalls alle göttlichen Eigenschaften besitzt, die sich in der Materie und den Lebewesen auf unserer Welt offenbart und sich in der Natur ständig weiterentwickelt.
Gibt es mit dieser Erkenntnis also doch einen Gottesbeweis?
Für gläubige Menschen ja. Für sie ist es ein Gottesbeweis, der Gott in allem, was es in der belebten und unbelebten Natur gibt, zwar nicht als Person (wie man es sich gerne wünschen würde) aber als Geist beweist, der in allem wirkt. Der real existierende menschliche Geist verarbeitet Informationen und der Geist, der in der Natur real existiert, verarbeitet ebenfalls Informationen (genetische Informationen in den einzelnen Zellen der Lebewesen, Informationen, die die elektrischen Kräfte und die Kernkräfte wirken lassen in allen Atomen usw.). Alle gläubigen Menschen jeder Religion können darin eine wichtige Bestätigung ihres Glaubens finden, die besagt, dass alles im gesamten Universum und auf unserer realen Welt aus einem Geist mit allen göttlichen Eigenschaften nach göttlichen Regeln entstanden ist und nach seinen Regeln (den Naturgesetzen) abläuft. Wer an einen Gott glaubt und gleichzeitig Realist ist, der legt die Bibel nicht wörtlich aus. Und der zweifelt auch nicht daran, dass unser Universum beim Urknall aus Energie (dem Geist Gottes) und den Naturgesetzen (Information, mit der der Geist Gottes arbeitet) und nicht durch ein Wunder in einer Woche entstanden ist.
Für einen Atheisten, der keinen Gott braucht, ist es allerdings kein Gottesbeweis, denn er lehnt es in jedem Fall ab, diesen Geist, der in allem wirkt und alle göttlichen Eigenschaften besitzt, als den Geist Gottes zu bezeichnen. Für ihn enthalten diese Eigenschaften, mit denen gläubige Menschen Gott charakterisieren (ewiges Leben, Allmacht, Allgegenwart, Allwissenheit) nichts Übernatürliches, sondern ausschließlich natürliche Eigenschaften der belebten und unbelebten Natur.

Über Hans Sixl 49 Artikel
Dr. Hans Laurenz Sixl, Jahrgang 1941, arbeitete als Professor für Physik an den Universitäten Stuttgart und Frankfurt und als Visiting Professor in Durham (UK) und Tokyo (J). Von 1986 bis 2001 war er Forschungsdirektor in der Chemischen Industrie und Vorstandsmitglied der deutschen Physikalischen Gesellschaft. Seine Arbeitsgebiete waren Spektroskopie und Materialforschung. Er hat die Molekularen Elektronik in Deutschland begründet und lehrte an der Universität Frankfurt.

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