Jürgen Petry: „Subordination“

Leseprobe

Es war im Frühherbst 1947. Zwei polnische Pans erschienen in unserem Haus. Ohne weitere Vorrede fragten sie Mutter, ob sie gedenke für Polen zu optieren. In diesem Falle könne sie mit ihren beiden Kindern bleiben. Im Dorf, vielleicht auch im Haus, in Polen gewiss. Wenn im Haus, dann oben unterm Dach, in einem Zimmer. Küche sei ja nicht nötig. Was wolle sie denn kochen? Lautes Gelächter. Nein, sie waren nicht brutal, die beiden Pans, eher lustig, empfand ich. Das Haus sei jetzt polnisches Eigentum, sagten sie noch. Das müsse Mutter begreifen.
Sie begriff, optierte nicht und lachte nun auch, um nicht schreien zu müssen, sagte sie später. Die beiden Pans zuckten die Schultern. Sie verhielten sich aber großzügig. 15 Minuten Zeit zum Packen, ein Koffer oder Rucksack. Verpflegung für zwei Tage, nur Persönliches, keine Wertgegenstände, denn das alles sei jetzt ebenfalls polnisches Eigentum. Falls wir in 15 Minuten allerdings nicht mit dem Koffer vor dem Haus ständen… eindeutiger Blick in Richtung Osten.
Mutter verstand auch das. Der Koffer allerdings wechselte bereits am Bahnhof seinen Besitzer. Dort sortierten andere polnische Pans, Freischärler von Beruf, das Eigentum der „freiwillig“ Ausreisenden noch einmal um. Tragen mussten wir jetzt nichts mehr. Dafür durften wir aber alles, was wir am Leib trugen, behalten.
Für uns waren einige Viehwagons reserviert. Die setzten sich nach einer Stunde dann in Richtung Westen in Bewegung. Das empfanden die „freiwillig ausreisenden Ostpreußen“ als ein Riesenglück, denn der Zug hätte ja auch ostwärts fahren können. Die Fahrt allerdings verlief stockend. Nein, das war nicht die Schuld der Polen. Die taten ihr Bestes, den Zug schnell über die Oder zu bringen, weil sie doch alle schnell ausreisen wollten, die Deutschen. Dass es dann doch 14 Tage dauerte,daran waren unsere anderen Befreier schuld, die sowjetischen. Die ließen gerade durch ihre Deutschen Gefangenen das zweite Gleis demontieren, das ja nach eigener Lesart, jetzt eigentlich ihren polnischen Verbündeten gehörte.
Der Zug fuhr, stand zwischendurch, fuhr wieder ein Stück und stand wieder. Fast immer auf freier Strecke. Aber alles auf der Welt hat zwei Seiten.Das häufige Halten war unser Glück, denn Verpflegung, Wasser oder Toiletten waren in den Viehwaggons nicht vorgesehen. Besondere Leichenabteile auch nicht. Aber woher hätten die Polen auch wissen sollen, dass ihre sowjetischen Verbündeten ihnen gerade jetzt ihr zweites Gleis demontieren würden. Das gab dann wiederum den Bahnanrainern, verbliebenen Deutschen aber auch zugereisten Polen, die Möglichkeit uns am Leben zu halten und bei den Beerdigungen mit den Vertriebenen zu singen. Meist Lieder von Paul Gerhardt (1607 bis 1676), dem Kirchenliedermacher aus Gräfenhainichen.
„Oh Haupt voll Blut und Wunden“, zum Beispiel, oder „Befiel du deine Wege“. Die Texte kann ich heute noch. Komisch, was einem so alles im Gedächtnis bleibt.


Jürgen Petry, „Subordination“, Verlag Sachsenbuch Leipzig, 23.99 Euro.

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