Katharina II. und die Leibeigenschaft 1762 – 1796

Im Jahr 1762 bestieg eine Frau den russischen Thron, die den Zaren, ihren Ehemann, zuvor verhaften, absetzen und umbringen ließ. Katharina II. (1729-1796) verstand sich als die „bessere“ Herrscherin und begründete dies u.a. mit den Ideen der Aufklärung, die sie verkündete zu vertreten, und mit der Traditionslinie seit Peter dem Großen, in die sie sich zu stellen beabsichtigte. Ihre Verdienste für das Russische Reich waren fürwahr außerordentlich, sodass die Geschichtsschreibung ihr ebenso den Beinamen „die Große“ verlieh.
Katharina II. pflegte vor und während ihrer Regierungszeit rege Korrespondenz mit Schriftstellern, Philosophen und Staatsrechtsreformer, wie Voltaire, Montesquieu, Diderot und Beccaria, die im Europa des 18. Jahrhunderts aufgeklärtes Denken verbreiteten und den Absolutismus sowie die Feudalherrschaft stark kritisierten. Katharina war begeistert von diesen Ideen und war bestrebt, sie unter der russischen Elite zu verbreiten. Neben der Modernisierung des Landes nach dem Vorbild Peters I. und der stärkeren Einbindung in das europäische System sollte das kritisch rationale Denken Einzug in Staat und Gesellschaft halten, das Bildungswesen und die Wissenschaften gefördert sowie die Untertanen zu Staatsbürgern umerzogen werden. Die Zarin versprach ihrem Volk Freiheit und Wohlstand, verurteilte Despotismus und Sklaventum, verkündete Religionsfreiheit und plante, in Russland ein Ständesystem nach europäischem Vorbild zu etablieren. Die Versprechen blieben nicht nur leere Phrasen, denn tatsächlich erlebte das Zarenreich unter Katharinas Herrschaft einen militärischen, geistigen sowie kulturellen Aufschwung und integrierte sich in das europäische Kommunikationssystem.
Das Vorhaben, die Leibeigenschaft abzuschaffen, setzte Katharina jedoch nicht um. Vielmehr verschärfte ihre Politik das Problem der bäuerlichen Abhängigkeit, indem die krepostnoje pravo (deutsch: Leibeigenschaft) zu einem festen Bestandteil der gesellschaftlichen Ordnung wurde. Die seit 1649 in Russland existierende Leibeigenschaft nahm im Laufe der Zeit zunehmend repressivere Formen an, was sich darin zeigte, dass die Verfügungsgewalt der Gutsbesitzer über die abhängigen Bauern sich mehr und mehr ausweitete. Peter I. führte die „Kopfsteuer“ ein, die sowohl für Knechte als auch für Bauern galt. Die Bindung an die Scholle spielte sodann keine Rolle mehr und die persönliche Abhängigkeit vom Gutsherrn trat an ihre Stelle.
Unter Katharina der Großen erlebte die Leibeigenschaft ihren Höhepunkt. Die abhängige Landbevölkerung wurde zum persönlichen Eigentum ihrer Gutsherren. 1762 wurde die Dienstpflicht des Adels aufgehoben, der sich nun vornehmlich um die landwirtschaftlichen Erträge auf seinen Gutsbesitzungen kümmern konnte. Nur der Adel durfte nunmehr Leibeigene erwerben und besitzen. Zudem wurden ihm vom Staat umfassende Rechte übertragen, die es erlaubten, mit den Bauern nach eigenem Ermessen zu „wirtschaften“. Für die Edelleute war ihr Land zumeist die einzige Einkommensquelle, welches ihnen nicht nur den Unterhalt, sondern auch einen „standesgemäßen“ Lebensstil finanzieren musste, sodass sie bestrebt waren, möglichst ertragreich die bäuerliche Arbeitskraft zu nutzen. Darüber hinaus betrachteten die Gutsbesitzer ihr Landgut häufig als ihr eigenes Reich, in dem sie die Regeln bestimmten und ihre Autorität ausüben konnten. Die Bauern wurden dabei oft als unmündige Kinder gesehen, die streng bewacht und gezüchtigt werden mussten. Klagen gegen Misshandlungen durch den Gutsherrn wurden verboten und unter Strafe gestellt, Leibeigene konnten nach Gutdünken ihres Herrn nach Sibirien zwangsdeportiert oder als Kettensträflinge (katorga) zur Arbeit gezwungen werden. Dieser behielt sich außerdem das Recht vor, regulierend in das Heiratsverhalten seiner Untertanen einzugreifen, achtete darauf, dass die Bauern an Sonn- und Feiertagen die Kirche besuchten und entschied über die Einberufung oder das Verbot von Gemeindeversammlungen. Somit hatten Gutsbauern bereits Ende der 1760er Jahre fast alle ihre Rechte verloren.
Die Diskrepanz zwischen dem Anspruch Katharinas II., das Wohlergehen ihrer Untertanen zu fördern, und der Lebenswirklichkeit der Bauern hätte größer nicht sein können. Es stellt sich hierbei die Frage, warum Katharina II. die Leibeigenschaft nicht abschaffte, sondern sogar ein soziales Gefüge verfestigte, das den Idealen der Aufklärung entgegen stand? Welche Motive gab es für die Stärkung der Abhängigkeitsverhältnisse auf dem Land? Welche Ziele sollten damit erreicht werden?
Die russische Leibeigenschaft war Ausdruck des gesamten Herrschaftssystems. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts war jeder zweite Bewohner des Russischen Reiches Untertan eines adeligen Gutsbesitzers, wobei dieser wiederum in einem Abhängigkeitsverhältnis zum Zaren stand. Dieses System, das sich auf Beziehungen stütze, die mit Zwang und Gewalt aufrechterhalten wurden, war demnach ein staatlich organisiertes. Katharina II. entfernte sich im Laufe ihrer Regierungszeit zunehmend von den Plänen, das Problem der Leibeigenschaft zu lösen, denn sie stellte fest, dass unter den Adligen und den Stadtbewohnern auf wenig Unterstützung zu hoffen war. Die Leibeigenschaft war kein Thema, dass die Öffentlichkeit im 18. Jahrhundert empörte und damit die Herrscherin zum Handeln zwang. Auch um ihres eigenen Ansehens willen musste sie diese Reform nicht durchführen, denn politische Erfolge konnte sie in anderen Bereichen vorweisen.
Eines der wichtigsten Ziele Katharinas war die Stärkung der russischen Gesellschaft, d.h. vor allem des Staates. Mit der Gesetzgebung der Jahre 1775 – 1785 versuchte sie Russland in einen Ständestaat nach westeuropäischem Vorbild zu verwandeln, in dem der Adel die gesellschaftliche Rolle übernahm, die in Europa das Bürgertum spielte. Dafür war es nötig, die soziale Vorherrschaft sowie die Eigentumsrechte des Adels zu festigen. Ihm wurden demzufolge leibeigene Arbeitskräfte und Grundbesitz zugestanden, was ihn zum alleinigen Eigentümer besiedelten Bodens machte. Im Gegenzug unterstützten die Adligen die Krone und erfüllten ihre Aufgaben bei der Verwaltung und Sicherung des Landes.
Die Gesetzlichkeit des Staates endete – wie oben bereits erwähnt – auf dem Hof des Gutsbesitzers. Dieser war allein für die Aufrechterhaltung von Ordnung und die Durchsetzung sozialer Kontrolle bei den ihm unterstehenden Bauern zuständig. Mit dem Zweck, geordnete Zustände zu schaffen und aufrecht zu erhalten, wurden jedoch die Mobilität, die Bildung und die Unabhängigkeit der Untertanen eingeschränkt bzw. vollständig blockiert. Dazu diente beispielsweise auch das restriktive Passsystem, das nur denjenigen Bauern erlaubte, ihren Ort zu verlassen, die über einen Pass verfügten. Gleichzeitig konnte ihre Bewegung kontrolliert werden. Zusätzlich sollten religiöse und ideologische „Erziehung“ dabei helfen, die Machtverhältnisse zu bewahren.
Katharina II. ging es um die Vereinheitlichung der Gesetze, der Verwaltung sowie des Status der Eliten und natürlich um die wirtschaftliche Nutzbarmachung des Landes. Die Landwirtschaft wurde zu diesem Zweck ausgeweitet, neue Landstriche besiedelt, Märkte im In- und Ausland geöffnet und unternehmerische Aktivitäten nahmen zu. Dabei spielte die Verfügungsgewalt über billige und überall einsetzbare Arbeitskräfte eine bedeutende Rolle. Dadurch, dass leibeigene Bauern problemlos zwangsumgesiedelt sowie in Bergwerken, kaufmännischen Unternehmen und anderen Industriezweigen eingesetzt werden konnten, hatte das System der Leibeigenschaft einen ausschlaggebenden Anteil am Wirtschaftswachstum des Landes im 18. Jahrhundert. Das russische Steuersystem trug ebenfalls dazu bei, die krepostnoje pravo weiterhin zu stabilisieren. Da es den adeligen Gutsherren oblag die bäuerliche Steuerleistung, die Kopfsteuer, einzutreiben hatte der Staat ein Interesse daran, die enge Bindung der Bauern an ihre Besitzer aufrecht zu erhalten.
Über die Leibeigenschaft hatte der Staat Zugriff auf die breite Masse seiner Untertanen, was nicht zuletzt für das Militärwesen eine wichtige Rolle spielte. Die Streitkräfte der Zarin bestanden in erster Linie aus Bauern, die aufgrund ihrer Rechtlosigkeit mühelos zu rekrutieren waren. Der Soldat entkam dadurch zwar dem Zugriff durch seinen vormaligen Gutsherrn und wurde „frei“, doch de facto war er nun Untertan seines Regimentes und hatte ebenso wenige gesetzliche Rechte wie ein Leibeigener. Die Gutsverwaltung bestimmte die Rekruten, was meistens dazu führte, dass entweder untaugliche Arbeitskräfte oder unliebsame Bauern in die Armee „abgeschoben“ wurden. Das 18. Jahrhundert brachte dem zarischen Imperium eine Reihe militärischer Erfolge, was die Effektivität des von Peter I. konzipierten stehenden Heeres, das auf dem uneingeschränkten Zugriff auf zwangsrekrutierte Bauern basierte, bewies. Katharina II. musste diesem System also treu bleiben, weil es ihren militärischen Zielen von Nutzen war. Erst der Krimkrieg 1853 bis 1856 zeigte die militärische Rückständigkeit des Russischen Reiches.
Die Regierungszeit Katharinas erscheint aus der Perspektive der Nachwelt als ein Spannungsfeld, in dem die Ideen der Aufklärung der Wirklichkeit von Autokratie und Leibeigenschaft gegenüber standen. Die Tatsache, dass sich für Katharina II. die Abschaffung der Leibeigenschaft als ein nachgeordnetes Ziel herausstellte, löst den Widerspruch zwar nicht auf, macht ihn allerdings nachvollziehbar. Für die Realisierung ihrer politischen Ziele waren die leibeigenschaftlichen Verhältnisse sogar vorteilhaft. In wirtschaftlicher, sozioökonomischer und militärischer Hinsicht trug die Verfügungsgewalt über einen großen Teil der Bevölkerung des Landes dazu bei, die Großmachtposition Russlands und das Ansehen Katharinas II. zu stärken. Die Notwendigkeit, die Leibeigenschaft abzuschaffen wurde erst unter den Nachfolgern Katharinas II. offenbar.

Literatur:
Bartlett, Roger: Die Rationalität der Leibeigenschaft in Rußland in der Regierungszeit Katharinas II., in: Claus Scharf (Hg.): Katharina II. Rußland und Europa, S. 401-419.

Goehrke, Carsten: Russischer Alltag. Eine Geschichte in neun Zeitbildern. Auf dem Weg in die Moderne, Zürich 2003.

Kappeler, Andreas: Russische Geschichte, München 2005.

Reinalter, Helmut (Hg.): Lexikon zum Aufgeklärten Absolutismus in Europa. Herrscher – Denker – Sachbegriffe, Wien/Köln/Weimar 2005.

Torke, Hans-Joachim (Hg.): Lexikon der Geschichte Rußlands, München 1985.

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Über Tammer Teresa 16 Artikel
Teresa Tammer, geboren 1985 in Dresden, studiert Geschichte und Philosophie in Berlin. Seit 2007 ist sie Besucherreferentin in der Gedenkstätte Bautzen. Von 2005 bis 2006 machte sie einen Freiwilligendienst bei Memorial in St. Petersburg.

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