„Krankheiten sind einsame Abenteuer.“Albert Camus‘ Überlebenskampf gegen seine Tuberkulose

Mehr als die Hälfte seines Lebens litt Albert Camus unter dem Damoklesschwert der Todesdrohung durch seine schwere Tuberkulose. Vom 17. Lebensjahr an war sie seine dunkle Begleiterin, mal als dunkler Schatten, dann wieder als fiebriger Überlebenskampf. Es kam zu Zeiten der Besserung und der erneuten Verschlechterungen. Da damals eine effektive Behandlung mit Antibiotika noch nicht zur Verfügung stand, waren die Rückfälle immer lebensbedrohlich. In den Lungen von Albert Camus hatten sich bereits Kavernen gebildet – ein bedrohliches Zeichen. Etwa ein Drittel der Tuberkulose-Kranken starben damals daran. Vom 18. bis 20. Jahrhundert war die „Schwindsucht“ – die Tuberkulose – die verbreitete todbringende Erkrankung. Sie war in dieser Zeit das Schreckgespenst, das in den Phantasien der Kranken ähnliches Entsetzen auslöste wie heute die Krebserkrankung. Susan Sonntag hat in ihrem Buch „Krankheit als Metapher“ diesen epochenspezifischen Krankheitswandel von der Tuberkulose zur Krebserkrankung eindrucksvoll beschrieben. Die Tuberkulose ist zentrales Thema im „Zauberberg“ von Thomas Mann. Die Oper „La Traviata“ von Giuseppe Verdi und der zugrunde liegende Roman von Alexandre Dumas handeln von der Liebe und vom Tuberkulose-Tod der Protagonistin Violetta. Zahlreiche Dichter starben an ihrer Tuberkulose: Franz Kafka, Friedrich Schiller, Anton Tschechow, Klabund, Novalis, Christian Morgenstern und George Orwell. Die Erstmanifestation seiner Tuberkulose war bei Camus im 17. Lebensjahr, als er in Algerien das Gymnasium besuchte. Damals lag er lange im Krankenhaus und wurde mit qualvollen Pneumothorax-Therapien behandelt, deren therapeutischer Nutzen heute als sehr fraglich eingeschätzt wird.

Einen deutlichen Vorteil hatte die Erkrankung für den jungen Albert Camus: Die Ärzte rieten ihm, das enge, modrige und unhygienische Elternhaus zu verlassen und in eine „gesündere Umgebung“ zu ziehen. Hier boten sich sein Onkel Gustave Acault und seine Ehefrau Antoinette an, die eine gutgehende Metzgerei betrieben. Sie hatten selbst keine Kinder und behandelten Albert Camus liebevoll wie ein eigenes Kind. Er konnte damit der kargen und schweigsamen Welt des Elternhauses und dem strengen und despotischen Regime seiner Großmutter entfliehen. Von nun an bekam er gutes Essen, Liebe, Zuwendung und einen neuen Zugang zur Bildung. Sein Onkel war nämlich nicht nur ein Genießer, sondern auch ein gebildeter Lebenskünstler. In der umfangreichen Bibliothek des Onkels fanden sich die Gesammelten Werke von Honoré de Balzac, Victor Hugo und Emile Zola. Der Onkel war auch Verehrer von Anatol France, James Joyce und Paul Valerie. Der junge Albert Camus lebte auf. In diese Zeit fällt die Erstbegegnung mit dem Werk von André Gide, der zehn Jahre vor ihm den Literaturnobelpreis erhielt. Sein Onkel gab ihm sein Buch „Früchte der Erde“ – ein algerischer Hymnus aus dem Jahre 1897. Albert Camus hat viele Gemeinsamkeiten mit André Gide. Auch er erkrankte in Algerien an Tuberkulose. Beide erhielten innerhalb eines Jahrzehnts den Literaturnobelpreis. Die lyrische Sprache und die gefühlvolle Poesie Gides lösten in dem jungen Leser Albert Camus eine tiefe Ergriffenheit aus. Diese beschrieb Iris Radisch in ihrer wunderbaren „Camus-Biographie“ wie folgt: „Die Früchte der Erde haben einen großen Eindruck auf den schwer erkrankten Gymnasiasten gemacht. Gide ist Camus‘ Erweckungserlebnis. Nachdem er dessen trunkene und ekstatische Essays gelesen hat, fasst er den Entschluss, Schriftsteller zu werden.“ Albert Camus hat später André Gide persönlich kennengelernt und hatte eine freundschaftliche Beziehung zu ihm. Während der Zeit der Nazi-Besatzung von Paris lebte Camus sogar eine Zeit lang mit Gide zusammen in dessen Wohnung. Später folgten sogar noch seine Frau und seine Kinder. Die Tuberkulose von Albert Camus war im Verlauf deutlich schwergradiger als jene von Gide. Es kam zu zwei schweren Rückfällen, in denen Albert Camus durch die Symptome der Tuberkulose massiv eingeschränkt war. Fieberzustände, Blutspucken, Erschöpfung und Gewichtsverlust standen dann auf der Tagesordnung. Der erste große Rückfall war im Jahr 1941 in den Kriegswirren während der Zeit der Besetzung Frankreichs durch die Nazis. Ein weiterer Rückfall war während seiner Südamerikareise im Jahr 1949.

Es gibt viele Studien aus der Psychosomatischen Medizin zur Tuberkulose, die belegen, dass die Verschlechterungen oder Rückfälle oft in sehr markanten biographischen Situationen vorkommen. Dies lässt sich auch im Zusammenhang der Biographie von Albert Camus und dem Verlauf seiner Tuberkulose nachweisen. Camus hatte jedoch als Gegenkraft auch viele Kraftquellen, die ihm bei der Bewältigung gesundheitlicher Krisen halfen. Heute würde dies mit den Begriffen Ressourcen, Resilienz, Coping oder Salutogenese beschrieben. Im Leben von Camus waren es die Naturerfahrungen, die ihm Kraft vermittelten: Sommer, Sonne, Meer, Licht. Dies wurde deutlich, als er nach dem heftigen Streit mit Jean-Paul Sartre in eine schwere Lebenskrise fiel und es zu einer Lähmung seiner Schaffenskraft kam. Iris Radisch hat die Demontage Camus‘ durch Sartre treffend als eine „öffentliche Hinrichtung“ beschrieben. Paris war nie seine Heimat geworden. Es war nicht der Lebensraum, in dem er sich wohl fühlte. Der mediterrane Raum, das Licht und die Sonne waren ihm Heimat und Kraftquelle. Er suchte mit kluger Intuition die Zuflucht in der Sonne und im besonderen Licht der Provence, in enger Nachbarschaft mit seinem sehr guten späten Freund René Char. Dort erholte er sich von den Kämpfen, die er in Paris ausfechten musste.

Was können wir also von Albert Camus lernen – von seinem Überlebenskampf, von seiner vitalen Auseinandersetzung mit der Tuberkulose, von seiner Bewältigung der Lebenskrise? Er verweist uns auf seine persönlichen Kraftquellen und Ressourcen. Jeder Mensch sollte herausfinden, worin diese für ihn liegen. Sicherlich nicht zufällig ist in jüngster Zeit Albert Camus fast zum Propheten der Resilienz geworden. Mit Resilienz wird vereinfacht die psychische Widerstandskraft beschrieben. In Beiträgen zur Resilienz wird kein Schriftsteller so häufig zitiert wie Albert Camus, und fast immer mit folgenden Worten: „Mitten im Winter habe ich erfahren, dass es in mir einen unbesiegbaren Sommer gibt.“ Und auch dies ist wohl kein Zufall: Diese Worte stammen aus der frühen Essay-Sammlung „Hochzeit des Lichts“.

Über Herbert Csef 136 Artikel
Prof. Dr. Herbert Csef, geb. 1951, Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Psychoanalytiker. Studium der Psychologie und Humanmedizin an der Universität Würzburg, 1987 Habilitation. Seit 1988 Professor für Psychosomatik an der Universität Würzburg und Leiter des Schwerpunktes Psychosomatische Medizin und Psychotherapie an der Medizinischen Klinik und Poliklinik II des Universitätsklinikums. Seit 2009 zusätzlich Leiter der Interdisziplinären Psychosomatischen Tagesklinik des Universitätsklinikums. Seit 2013 Vorstandsmitglied der Dr.-Gerhardt-Nissen-Stiftung und Vorsitzender im Kuratorium für den Forschungspreis „Psychotherapie in der Medizin“. Viele Texte zur Literatur.

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