Kritische Bemerkungen zur Extremismustheorie

In den 1960er Jahren wurde von den Verfassungsschutzbehörden des Bundes und der Länder der Begriff „Rechtsradikalismus“ verwendet. Ihrer Definition nach wurde die freiheitlich-demokratische Grundordnung“ durch „Radikale von links und rechts“ bedroht. Mitte der 1970er Jahre wurde der Begriff „Rechtsradikalismus“ durch den Terminus „Rechtsextremismus“ unter Bezugnahme auf eine spezifische Forschungsrichtung in den USA, die sich „right wing extremism“ oder auch „right wing authoritatism“ zum Thema gemacht hatte , weitgehend ersetzt. Der Begriff „Radikalismus“ wurde in seiner Bedeutung als „einem Übel an die Wurzel gehen/grundsätzlich neu beginnen“ als zu positiv bewertet.
Die sprachlichen Wurzeln von Extremismus liegen in den lateinischen Begriffen „extremus“ (äußerst, enfernt) und extremitas (der äußerste Punkt bzw. Rand). Diese beiden Wörter enthalten bereits ein normatives Charakteristikum: extrem wird in vielen Fällen als polarisierend, prekär und kompromisslos wahrgenommen, die Mitte dagegen als harmonisch, gleichmäßig oder gemäßigt.
Seit längerer Zeit existiert eine regierungsnahe Auffassung des Links- und Rechtsextremismus, die in den Veröffentlichungen des Verfassungsschutzes sowohl des Bundes als auch der Länder verwendet wird. Die beiden Politikwissenschaftler Uwe Backes und Eckhard Jesse sind bemüht, die Extremismustheorie über Staatsschutzorgane oder Regierungsapparate hinaus im akademischen Bereich zu etablieren. Backes und Jesse operieren mit dem Extremismusbegriff als eine „Sammelbezeichnung für unterschiedliche politische Gesinnungen und Bestrebungen (…), die sich in der Ablehnung des demokratischen Verfassungsstaates und seiner fundamentalen Werte einig wissen.“ Beim Extremismus handelt es sich laut Backes und Jesse um eine Ideologie, die die Bestandteile des demokratischen Verfassungsstaates (Gewaltenteilung, Menschen- und Bürgerrechte, die Anerkennung des Pluralismus- und des Repräsentationsprinzips sowie Tolerant gegenüber Minderheiten und Andersdenkenden) negiert. Im Falle der Negierung des Prinzips menschlicher Fundamentalgleichheit sprechen die beiden Forscher von Rechtsextremismus. Wenn der Gleichheitsgrundsatz auf alle Lebensbereiche ausgedehnt wird und damit der „Gedanke der individuellen Freiheit“ überlagert wird, handelt es sich um Kommunismus. Falls jede Form von Staatlichkeit als „repressiv“ gilt und abgelehnt wird, handelt es sich um Anarchismus.
Der Ansatz von Backes und Jesse ignoriert jedoch, dass „Extremismen verschiedener Couleur zwar gewisse Gemeinsamkeiten, insbesondere auf der Phänomen- und Symptom-Ebene, aufweisen mögen, sich Rechtsextremismus und Linksextremismus aber deutlich, ja fundamental inhaltlich voneinander unterscheiden. Der Berliner Forscher Richard Stöss konstatiert: „Der Rechtsextremismus strebt die Beseitigung der Demokratie, der Sozialismus jedoch die Abschaffung des Kapitalismus an. Während der Rechtsextremismus sich nur auf eine spezifische Form bürgerlicher Herrschaft bezieht, ohne deren ökonomische Grundlagen in Frage zu stellen, geht es dem Sozialismus gerade um die Veränderung der Produktionsverhältnisse. Denn erst mit der Abschaffung des Privateigentums an Produktionsmitteln und durch die Beseitigung der ungleichen Verteilung von ökonomischer Macht seien soziale Gleichheit und damit soziale Gerechtigkeit möglich. Ohne soziale Gerechtigkeit aber, so die sozialistische Theorie, gibt es keine wirkliche Demokratie. Rechtsextremismus dagegen ist grundsätzlich von der Idee her und in seinen Zielen antidemokratisch, der Sozialismus ist es nur, wenn er bürokratisch missbraucht oder pervertiert wird.“
Dieser Einwand zeigt deutlich eine große Schwäche des Extremismuskonzeptes, nämlich seine Eindimensionalität. Die Extrempositionen der Links-Rechts-Achse stellen in diesem Konzept mit Blick auf die als demokratisch definierte Mitte notwendig gleiche Widersacher dar. Karl Heinz Roth bezeichnet die Extremismustheorie als eine „manichäische Schwarz-Weiß-Typologie, die aus einem Bild und einem Gegenbild besteht. Dabei fungiert die Vorderseite lediglich als normativer Ausgangspunkt. Sie stellt den ,repräsentativ demokratischen Verfassungsstaat‘ dar, der aus der weiteren Analyse ausgeblendet bleibt. Das normative Vor-Bild hat lediglich die Funktion, die ,totalitäre Diktatur‘ als Kehrseite der Gewaltenteilung und der Garantie von Menschenrechten zu entwerfen, um sie für komperativ-empirische Analysen von bestimmten Varianten des Gegen-Bilds verfügbar zu machen. Ein solches Modell ist per se reine Herrschaftsideologie.“
Weiterhin wird übersehen, dass antidemokratische Tendenzen oder Gefahrenpotentiale in allen politischen Parteien, Gewerkschaften oder gesellschaftlichen Gruppen auftreten können. Butterwegge stellt fest: „Rechtsextremismus kommt aus ,der Mitte der Gesellschaft‘, ist also keineswegs ein Randphänomen.“ Eine nicht näher definierte Mitte grenzt somit rivalisierende Positionen links und rechts von sich aus und lässt keine Kritik an der eigenen Werthaltung zu. Die extreme Rechte kann sich nur dann etablieren, wenn die „demokratische Mitte“ – verbunden mit den staatlichen und gesellschaftlichen Institutionen – ihm nicht genügend Widerstand leistet oder sogar nationalistische Diskurse aufnimmt und weiterverbreitet (z.B. faktische Abschaffung des Asylrechts).
Die Extremismustheorie bedient sich – angelehnt an Aristoteles – einem Zentrum zwischen zwei Extremen, um den eigenen Standpunkt als legitim und mustergültig erscheinen zu lassen. Die extreme Rechte wird nicht als soziales Phänomen gesehen, das mitten in der Gesellschaft Anklang findet und sich immer weiter ausbreitet: „Gesellschaftliche Ursachenzusammenhänge wie etwa soziale Ungleichheiten, ökonomische Entwicklungen und Vorurteilsstrukturen bleiben außen vor, weil soziologische und analytische Ebenen in einer Politikwissenschaft keine Rolle spielen, wo es um die Rehabilitierung und Verteidigung der Staatsräson gegen politische Normabweichungen von Bürgern geht.“

Literatur
– Backes, U./Jesse, E.: Politischer Extremismus in der Bundesrepublik Deutschland, 3. Auflage, Bonn 1993
– Burkert, E.: Rechtsextremismus und Geschlecht. Politische Selbstverortung weiblicher Auszubildender, Herbolzheim 2006
– Butterwegge, C.: Entwicklung, gegenwärtiger Stand und Perspektiven der Rechtsextremismusforschung, in: Ders.:/Griese, B./Krüger, C. u.a.: Rechtsextremisten in Parlamenten, Opladen 1997, S. 9-53
– Jaschke, H.-G.: Staatliche Institutionen und Rechtsextremismus, in: Kowalsky, W./Schröder, W. (Hrsg.): Rechtsextremismus. Einführung und Forschungsbilanz, Opladen 1997, S. 9-53
– Neugebauer, G.: Extremismus-Rechtsextremismus-Linksextremismus: Einige Anmerkungen zu Begriffen, Forschungskonzepten, Forschungsfragen und Forschungsergebnissen, in: Schubarth, W./Stöss, R. (Hrsg.): Rechtsextremismus in der Bundesrepublik Deutschland. Eine Bilanz, Opladen 2001, S. 13-39
– Pfeiffer, T.: Rechtsextremisten auf dem Daten-Highway, 1996
– Roth, K.H.: Geschichtsrevisionismus. Die Wiedergeburt der Totalitarismustheorie, Hamburg 1999
– Stöss, R.: Die extreme Rechte in der Bundesrepublik. Entwicklung-Ursachen-Gegenmaßnahmen, Berlin 1996

Finanzen

Über Michael Lausberg 545 Artikel
Dr. phil. Michael Lausberg, studierte Philosophie, Mittlere und Neuere Geschichte an den Universitäten Köln, Aachen und Amsterdam. Derzeit promoviert er sich mit dem Thema „Rechtsextremismus in Nordrhein-Westfalen 1946-1971“. Er schrieb u. a. Monographien zu Kurt Hahn, zu den Hugenotten, zu Bakunin und zu Kant. Zuletzt erschien „DDR 1946-1961“ im tecum-Verlag.

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