Leitbilder der philosophischen Entwicklungsphase Bakunins

Im Jahre 1835 quittierte Bakunin seinen Dienst als Leutnant in der russischen Armee und wechselte an die Universität Moskau.[1] Hier lernte er den jungen Dichter Nikolay W. Stankjewitsch kennen, von dem er seinen ersten wichtigen intellektuellen Einfluss erfuhr.[2] Bis in seine letzten Jahre hinein hat Bakunin Stankjewitsch seinen geistigen Vater genannt. Stankjewitsch war der erste erwähnenswerte russische Romantiker; sein Verdienst bestand darin, dass er das russische Denken mit deutscher Philosophie vertraut machte. Die 40er Jahre des 19. Jahrhunderts bargen vielfältige kulturelle Reize in Russland. Die junge Generation beschäftigte sich vor allem mit der deutschen idealistischen Philosophie, die Neugier für die völlig neue Art des Denkens breitete sich im ganzen Land aus.[3]
Ebenfalls unter diesem Einfluss stehend begann Bakunin, sich mit E.T.A Hoffmann, Jean Paul, Bettina von Arnim und Goethe zu beschäftigen.[4]

Fichte


Durch die Beschäftigung mit der deutschen idealistischen Philosophie wurde Bakunin auch mit dem Werken Fichtes vertraut. Besonders Fichtes „Anweisungen zum seligen Leben“, wo eine quasi objektlose Religion gepredigt wurde, nahm er mit großem Enthusiasmus auf.[5] Indem der Nächste nicht ein einziges Mal überhaupt benannt ist, sind alle Grenzen des spekulierenden Ich verschwunden, kann es als „Gesetz der höheren Sittlichkeit“ gelten, „die Menschheit in der Wirklichkeit zu dem zu machen, was sie ihrer Bestimmung nach ist, zum getroffenen Abbilde, Abdrucke und zur Offenbarung des inneren göttlichen Wesens.“[6]
Die spekulative Mystik war für Russland fast folgenreicher als der reine Säkularismus, denn sie verzehrte das wenige christliche Erbe unter den gebildeten Schichten. Es erschien nahe liegend, dass Fichtes Botschaft mit der Offenbarung Christi verwechselt wurde.[7] Mensch konnte bereits Fichte fast beliebig, d.h. schon kaum mehr sachgerecht interpretieren, in Russland verlor sich alles in letztlich ästhetischen Emotionen.
Fichte hat dem Romantismus die philosophische Legetimierung gegeben; seine Motive wurden tradiert und sogleich in Hegel hineingetragen. Fichtes Pathos ist Bakunin geblieben – er hat seinen Stil geprägt. Um ihn bekannt zu machen, übersetzte er im Jahre 1835 „Die Bestimmung des Gelehrten“. Für Bakunin war Gott nun entdeckt und beliebig erfüllbar als der „Sinn des Lebens, der Gegenstand echter Liebe, nicht der, den man durch Erniedrigung des eigenen Ich zu gewinnen habe, nicht der, der außerhalb der Welt richtet, sondern der, der in der Menschheit lebt, der sich in dem erhöhtem Menschen selbst erhöht, der durch Jesus lebendige Worte des Evangeliums sprach, der in den Dichtern redet.“[8]
Das „neue Leben“ angesichts einer dunklen Zukunft mit sehr unklaren Zielen und Perspektiven, unterschied er nun von den bisherigen „poetischen, harmonischen, aber leeren“ Daseinsvorstellungen – er war bereit, auf alles „öffentliche Leben“ zu verzichten und sich als Mathematiklehrer durchzubringen, nicht aber „sich der Gesellschaft zu opfern, in der alle Ideale unwahr“ seien.[9]
Mit der Fichteschen Predigt von der Kraft der Liebe, seinem neuem Evangelium, dem Auftrag, den „Gott und den Himmel, den er in sich trägt, auf die Erde zu bringen“[10], konnte Bakunin den Übergang zum Boheme vor der Familie rechtfertigen.
Im Jahre 1838 übersetzte Bakunin Fichtes „Anweisungen zum seligen Leben“. Dieses Werk war ein Versuch, um ein idealistisches System von Ethik zu schaffen.
Es wurde Bakunins ständiger Begleiter dieser Zeit; Zitate und Umschreibungen aus dem Werk füllten die meisten Briefe Bakunins.[11] In dieser Zeit der größten Nähe zu Fichte identifizierte sich das Sendungsbewusstsein Bakunins mit dem künftigen Gottmenschen als dem Ziel und der Möglichkeit des Menschseins, dem neuen Christus.[12]
In dieser Folge der Identifikation hatte auch das Nationale seinen Ort: „Die Menschheit galt als der von der Vorsehung geführte sündlose, als der idielle Mensch – jedes Volk als notwendiger Baustein der Menschheit unter Gottes Führung – das Nationale als je in Zeit und Raum begrenzte göttliche Stimme, als nationales Genie im Bewusstsein der Menschen – alles überhöht von dem höchsten Genie, dem Gottmenschen Christus als der Inkarnation des Bewusstseins der ganzen Menschheit.“[13]
Mit dem Verblassen der höchsten Sphäre gewann das nationale Bewusstsein überragende Bedeutung, es wurde zum messianischen in dem Augenblick, in dem die unmittelbare Geschichte den jungen Völkern Recht zu geben schien. [14] Das Pathos Fichtes schwingt im Stile Bakunins noch in den Alterschriften nach, den Einfluss seiner Freiheitsidee hat sich im Werke Bakunins nie mehr ganz verloren.[15]

Hegel


Bakunin erhielt Anfang 1837 von Stankjewitsch den Anstoß, sich mit der Hegelschen Philosophie auseinanderzusetzen.[16] Die Aneignung Hegels vollzog sich gleich der Aufnahme einer neuen Offenbarung, der auch das Persönlichste im Leben – geschwisterliche oder freundschaftliche Bindungen – zur Deutung unterworfen wurden.[17] Bei Hegel entdeckte Bakunin den Begriff der „Wirklichkeit“ und damit die Versöhnung mit dem Konkreten: „ noch habe er in sich Leeres, Scheinhaftes, doch ich ließ mich um meines Glückes willen von Hegel verschlingen.“[18]
Seine Identifizierung mit dem, was er mit dem Wirklichkeitsbegriff Hegels erkannte, hatte einen enthusiastischen Charakter, in Sehnsucht nach weltanschaulicher Sicherung, dem Streben nach der Einigung mit dem einen abstrakten Gott.[19] Aufzeichnungen aus seinem Sommeraufenthalt in Prjamuchino von 1837, die Zeit Bakunins intensivsten Beschäftigung mit Hegel, zeigten seine Schwärmereien für den deutschen Philosophen: „ Das Leben erschien als Seligkeit, ohne Böses, das nur jeweils Begrenzung sei – alles Seiende sollte nun Leben des Geistes, d.h. des absoluten Wissens, der absoluten Freiheit sein – hier sei der Mensch ein endliches Moment des absoluten Lebens, zwar als solches noch nicht ganz frei, aber im Bewußtsein der Möglichkeit seines Freiwerdens. Je mehr der Mensch von Selbstbewußtsein des Geistes, der heiligen Notwendigkeit durchdrungen werde, desto näher stehe er der Wirklichkeit. In seiner Natürlichkeit sei der Mensch von Gott getrennt, mit ihm aber versöhnt in der Poesie, der Religion und endlich in der Philosophie. Das Moralisch aber bestimme genau den Ort der Trennung – für den religiösen Menschen sei nichts Böses er wisse von den Quellen aller Gaben in Gott.“[20]
Bakunin versuchte, den Begriff der Wirklichkeit genauer zu interpretieren; er wollte weg von der „Scheinwirklichkeit im Felde des Verstandes“, was indessen „nicht durch Raisonnement, nur mit Offenbarung“ möglich schien. Dies sollte zur „wahren Wirklichkeit der Vernunft erheben, von der endlichen Form freimachen.“[21]
Bakunin veröffentlichte im Jahre 1838 in der Zeitschrift „Moskauer Beobachter“ seine Übersetzung von Hegels Gymnasialreden, den ersten authentischen Hegeltext in russischer Sprache. In der Vorrede dazu hieß es: „ Sich gegen das, was ist, zu empören oder allen Lebensquell in sich zu töten, ist ein und dasselbe: sich mit der Wirklichkeit auszusöhnen, ist unter jeden Gesichtspunkt die große Pflicht unserer Epoche.“[22]
Alexander Herzen, ein lebenslanger Freund Bakunins und Sozialist, kritisierte die politischen Schlussfolgerungen, die Bakunin aus der Lehre Hegels gezogen hatte. Sich mit der Wirklichkeit auszusöhnen, bedeutete auch für Herzen die Aussöhnung mit dem russischen Despotismus unter Zar Nikolaus II..[23]
Im Jahre 1839 verdichtete sich Bakunins Hegelbild allmählich. Vor allem vertieften sich die historischen Dimensionen nach der Lektüre historischer und theologischer Bücher aus der Hegelschule.[24]
Die Vertiefung in das Gedankengebäude Hegels erreichte schließlich einen Grad, dass Bakunin sich nach dem Weggang Stankjewitschs ins Ausland als besten Hegelkenner in Moskau und damit im Russland der damaligen Zeit präsentieren konnte.
Bakunin fasste seine philosophische Programmatik in dem Aufsatz „Über die Philosophie“ zusammen. In erneuter Abgrenzung zum Empirismus liegt das neue Gewicht auf der umfassenden Spekulation, deren „grundlegende Einheit, die Einheit der Notwendigkeit, nicht durch scharfsinnige Kombinationen je einzelner, zufälliger Einsichten ersetzt werden könne.“[25] Den philosophischen Kategorien sei unter dem Eindruck der Empirie bzw. der ihr komplementären Erkenntniskritik immer etwas Heuristisches, Relatives eigen geblieben; so seien sie auch bei Kant immer irgendwie abstrakt, ohne Wirklichkeit und in der Schwebe. Erst die Logik Hegels habe die allgemeinen Gesetze aus der Idee heraus kontinuierlich entwickelt und ihnen endlich objektiven Wert gegeben.
Bakunin hatte mit diesem Aufsatz einen großen Erfolg; Belinskij und Krajewskij, die beiden Redakteure der Vaterländischen Annalen, in denen der Aufsatz erschienen war, lobten ihn in den höchsten Tönen. Doch blieb der interessantere zweite Teil, der für das nächste Heft bestimmt war, ungedruckt.
Innere und äußere Konflikte, das Wissen, dass in seinem Leben und in seiner Philosophie vorläufig alle Möglichkeiten durchgespielt wären, trieben Bakunin nach Berlin, wo er die Quelle des Geisteslebens vermutete und wohin er sich seit Jahren sehnte.[26] Er verabschiedete sich von seinen Eltern und Freunden und traf im Sommer 1840 in Berlin ein. Das geistige Berlin befand sich inmitten der Ära, die einerseits die Spaltung der Hegelschule in einen konservativen und einen revolutionären Flügel hervorbrachte und andererseits die Reihen der Antihegelianer stärkte. Schelling trat sein Berliner Lehramt unter entschiedenen antihegelianischen Akzenten an.[27]
Vorerst blieb Bakunin noch im Bereich der konservativen Hegelschule; wie Turgenjew und andere russischen Denker vor ihm arbeitete er bei Werder, der Hegels Begrifflichkeiten ins Künstlerische-Verständliche umzudeuten wusste und insofern Bakunins bisherigen Versuchen entsprach. Sein Programm des ersten Berliner Semesters war umfangreich, mit Werder, Hotho und Vatke durchaus im Sinne der langsam abblühenden konservativen Hegel-Observanz.
Im Herbst 1841 machte Bakunin die Bekanntschaft mit dem revolutionären Linkshegelianer Arnold Ruge. Sie eröffnete dem Russen neue philosophische Horizonte, er wurde hineingeworfen in die Krisenproblematik des einst allmächtigen Hegelschen Systems und mit der völlig veränderten Situation und ihren gewandelten Fragestellungen konfrontiert.
Arnold Ruge veröffentlichte im Oktober 1842 in seinen Deutschen Jahrbüchern die erste größere Arbeit Bakunins unter dem Pseudonym Jules Elysard mit dem Titel „Die Reaktion in Deutschland. Fragment von einem Franzosen“. Die Schrift fing mit dem Leitmotiv seines Lebens an: „Freiheit, Realisierung der Freiheit – wer kann es leugnen, dass dies Wort obenansteht auf der Tagesordnung der Geschichte.“ [28]
Wieder bekannte er sich darin zu Hegel: „Der Gegensatz und dessen immanente Entwicklung macht einen der Hauptknotenpunkte des Hegelschen Systems aus und diese Kategorie, die Hauptkategorie, die das herrschende Wesens unserer Zeit ist, so ist auch Hegel unbedingt der größte Philosoph der Gegenwart, die höchste Spitze unserer modernen, einseitig theoretischen Bildung. Gerade dadurch ist er auch der Anfang einer notwendigen Selbstauflösung der modernen Bildung.“[29] In der Schrift wendete er sich gegen jeden Versuch, die Gegensätze zu versöhnen, weil lediglich aus ihrem Zusammenprall die völlige Wahrheit hervorgehen konnte.
Er weissagte den Ausbruch der bevorstehenden Revolutionen: „ Alle Völker und alle Menschen sind von einer gewissen Ahnung erfüllt und jeder, dessen Lebensorgane nun nicht gelähmt sind, sieht mit einer schauerlichen Erwartung der nahenden Zukunft entgegen, welche das erlösende Wort aussprechen wird. – In Russland, selbst in diesem endlosen und schneebedeckten Reiche, das wir so wenig kennen und dem vielleicht eine große Zukunft bevorsteht, – in Russland selbst sammeln sich dunkle Gewitter verkündender Wolken! – Oh, die Luft ist schwül, sie ist schwanger von Stürmen!“[30]
Bakunin schloss mit den Sätzen: „Laßt uns also dem ewigen Geiste vertrauen, der nur deshalb zerstört und verrichtet, weil er der unergründliche und ewig schaffende Quell alles Lebens ist. – Die Lust der Zerstörung ist zugleich eine schaffende Lust.“[31]
Bakunin analysierte die gesellschaftspolitische Konstellation seiner Zeit mit Hegelschen Begriffsschemata. In der These, dass die moderne Bildung, d.h was Inhalt und Form des Geistes jetzt ausmacht, einen Selbstauflösungsprozess unterliege, formulierte Bakunin das Selbstverständnis der Nachhegelianer klarer und unverzerrter als es bis dahin geschehen war. Das Ziel dieses Prozesses wäre, wie Bakunin meinte, „die Selbstauflösung in eine ursprüngliche und neue praktische Welt – in die wirkliche Gegenwart der Freiheit.“[32]
Bakunins Pamphlet „Die Reaktion in Deutschland“ wurde zu einer Programmschrift der „Philosophie der Tat“, die den Übergang von der Theorie zur Praxis und zur politisch-gesellschaftlichen Tat erzwingen wollte.[33]
Das Pamphlet war nach übereinstimmender Auffassung die bedeutendste Darlegung des geistesgeschichtlichen Selbstverständnisses der Junghegelianer.[34]


[1] Wittkop, Bakunin, a.a.O., S. 13
[2] Carr, Michael Bakunin, a.a.O., S. 20
[3] Dyziur, The doctrine of anarchism of Michael A. Bakunin, a.a.O., S. 22
[4] Wittkop, Bakunin, a.a.O., S. 15
[5] Scheibert, P.: Von Bakunin zu Lenin, Leiden 1956, S. 139
[6] Medicus, F. (Hrsg.): J. G. Fichte. Werke, Bd. 5, S. 79
[7] Scheibert, Von Bakunin zu Lenin, a.a.O., S. 139
[8] Rholfs/Nettlau, Bakunin, Gesammelte Werke, Bd.1, a.a.O., S. 465
[9] A.a.O., S. 467
[10] A.a.O., S. 222
[11] Carr, Michael Bakunin, a.a.O., S. 31
[12] Scheibert, Von Bakunin zu Lenin, a.a.O., S. 142
[13] Rholfs/Nettlau, Bakunin, 1. Bd., S. 257
[14] Scheibert, Von Bakunin zu Lenin, a.a.O., S. 142
[15] Schneider.L./Bachem, P. (Hrsg.): Michael Bakunin. Philosophie der Tat, Köln 1968, S. 14
[16] Scheibert, Von Bakunin zu Lenin, a.a.O., S. 143
[17] Schneider/Bachem, Bakunin, a.a.O., S. 14
[18] Brief an die Schwestern, Anfang Mai 1837, zitiert nach Scheibert, Von Bakunin zu Lenin, a.a.O., S. 144
[19] Saltman, R.G.: The social and political thought of Michael Bakunin, Westport 1989, S. 65
[20] Aufzeichnungen September/Oktober 1837, zitiert nach Scheibert, Von Bakunin zu Lenin, a.a.O., S. 144
[21] Brief an die Schwestern, März 1838, zitiert nach Scheibert, Von Bakunin zu Lenin, a.a.O., S. 145
[22] Zitiert aus: Brupbacher, F.: Michael Bakunin. Der Satan der Revolte, Zürich 1929, S. 54
[23] Wittkop, Bakunin, a.a.O., S. 16
[24] Scheibert, Von Bakunin zu Lenin, a.a.O., S. 147
[25] Zitiert aus a.a.O., S. 149
[26] Schneider/Bachem, Bakunin, a.a.O., S. 14f
[27] Henrich, D.: Der ontologische Gottesbeweis, Tübingen 1960, S. 219ff
[28] Beer, Philosophie der Tat, a.a.O., S. 19
[29] A.a.O., S. 24
[30] A.a.O., S. 301
[31] A.a.O., S. 37
[32] A.a.O., S. 25
[33] Schneider/Bachem, Bakunin, a.a.O., S. 22
[34] Walter, N.: Conversations about anarchism, in: Anarchy 85, März 1968, S. 68

Über Michael Lausberg 545 Artikel
Dr. phil. Michael Lausberg, studierte Philosophie, Mittlere und Neuere Geschichte an den Universitäten Köln, Aachen und Amsterdam. Derzeit promoviert er sich mit dem Thema „Rechtsextremismus in Nordrhein-Westfalen 1946-1971“. Er schrieb u. a. Monographien zu Kurt Hahn, zu den Hugenotten, zu Bakunin und zu Kant. Zuletzt erschien „DDR 1946-1961“ im tecum-Verlag.

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