Literatur- und Sprachgeschichte versus Politik? Figuren eines Bozner Denkmals im Widerstreit der Interessen

Der Laurin-Brunnen

Nicht allein Bücher haben ihre Geschichte. In Bozen rückt aufs Neue ein Denkmal in den Mittelpunkt politischen Interesses, das seit seiner künstlerischen Gestaltung vor 110 Jahren die Geister schied und häufig Gegenstand erbitterter Auseinandersetzungen, aber auch großer Fürsorge um die Wiedereinsetzung in seinen Rang als kulturhistorisches Zeugnis gewesen ist. Es handelt sich um den Laurin-Brunnen auf dem zentralen, nach dem 2010 verstorbenen langjährigen Südtiroler Landeshauptmann Silvius Magnago benannten Landhausplatz. Dort war er 1996, drei Jahre nach der vereinbarten „Rückschenkung“ durch das Roveretaner Kriegsmuseum aufgestellt worden.

Seit geraumer Zeit wälzen die Verantwortlichen im Landhaus, dem Südtiroler Landtag, sowie im Palais Widmann, dem Sitz der Landesregierung, Pläne, den Magnago-Platz neu zu gestalten. Zwar ist noch keine Entscheidung gefallen, doch die deutschtiroler Opposition befürchtet, dass just das Denkmal dieser Neugestaltung zum Opfer fällt. Wohl nicht ganz zu Unrecht, denn die beiden ihn konstituierenden Figuren sind nicht nur den italienischen Parteien nach wie vor ein Dorn im Auge. Wiewohl die Oppositionsparteien in mehreren Landtagsanfragen immer wieder auf die Ungewissheit hinweisen und verlangen, das Objekt möge am bisherigen Standort verbleiben, sind Landtagspräsidium und Regierung mit einer Antwort säumig.

Der Laurin-Brunnen, eine 1905 vergebene Auftragsarbeit des „Talferleege Culturvereins“ an die Bildhauer Andreas („Andrä“) Kompatscher und Arthur Winkler, war 1907 an der Wassermauerpromenade entlag des Flussbetts der Talfer aufgestellt worden. Sein künstlerischer Gehalt manifestiert sich in den ihn bestimmenden Figuren Dietrich von Bern und Laurin, Gestalten aus literarisierten Sagenstoffen des Mittelalters. Die bildnerische Anordnung zeigt, wie Dietrich Laurin „niederringt“ – so zumindest wurde es italienischerseits interpretiert, weshalb das Brunnenensemble einst entfernt worden und bis zur Rückkehr nach Bozen fast sechs Jahrzehnte im Burggraben von Rovereto verbannt geblieben war.

 

Geschichte und Geschichten

Wer war Laurin, wer sein ihn angeblich niederringender Gegenspieler Dietrich, der den Beinamen „von Bern“ führt? Welche Rolle sollte die Bundesstadt der Schweiz spielen, die – so will es auf den ersten Blick scheinen – einer heldischen Herkunftsbezeichnung ihren guten Namen leiht für garstige politische Händel? Wie kann überhaupt das Produkt zweier Künstler Hände so für oder gegen sich einnehmen ?

Wer Bozen auf der Alten Brennerstraße in nordöstlicher Richtung verlässt, durch das Eggental hinauffährt zum Karer See und dort auf die Große Dolomitenstraße einbiegt, der hat bald ein wild zerklüftetes Bergmassiv vor sich, das an seiner Westseite, einer Hand nicht unähnlich, in gewaltigen Felsfingern ausläuft. Den Namen „Rosengarten“, der schon in Landesbeschreibungen des 16. Jahrhunderts genannt wird – für gewöhnlich haben die Berge der Alpen erst im 18. Jahrhundert ihre heute geläufigen Namen erhalten -, wird alsbald deutend begreifen, wer klaren Abends hinüberkommt zur St.-Cyprians-Kapelle in Tiers und von dort aus den Blick auf ihm ruhen lässt. Auch wer sich zu anderen Aussichtspunkten aufmacht – es hat deren einige: in Bozen, am Ritten, im Überetsch bei Eppan und Girlan, entlang der berühmten Weinstraße gen Kaltem zu -, der hat den Rosengarten vor sich, mal näher, mal weiter entfernt, doch von dessen rot schimmerndem Glanz in der zur Neige gehenden Abendsonne wie magisch in Bann gezogen, gänzlich bezwungen.

Der Anblick hat Geschichte und Geschichten gemacht. Wie Verführte zogen Alpinisten seit Beginn des vorigen Jahrhunderts zum Bozner Becken, mieteten sich zwei-, dreimal im Jahr ein und harrten täglich der Abendstunde, in der sie der bald „Alpenglühen“ genannten Erscheinung gewahr wurden, wenn das Wetter es zuließ. Und es ließ es oft zu. Das Land unterm Brenner ist vom milden Klima des Südens behaucht und berauscht. Derlei Farbenspiel der Natur, dessen Schönheit die Sinne reizt, war und ist dazu angetan, die Phantasie derer, die es schau(t)en, zu beflügeln. Ungezählte Schreibfedern haben es verewigt, zahllose Staffeleien im Bild komponiert. Der Kraft der Vorstellung waren Grenzen nicht gesetzt. Vor allem aber Menschen, die ständig in seiner Nähe lebten, haben ihm bleibende Denkmäler gesetzt. In nie versiegen wollenden Erzählungen ist die Ansicht vom Berg und die Sicht dessen, wofür er steht, was sich an und in ihm verbirgt, von Generation zu Generation weitergereicht worden: im abendlichen Glühen zeige sich ein ehedem vorhandener, über und über mit Rosen bestandener Garten. Deswegen also der liebliche Name für schroffen Fels – er steht und spricht für sich selbst.

Ehe Menschen des Schreibens kundig waren, waren sie der Literarisierung des Stoffes mächtig, aus dem ihre Mythen gewoben sind. Die Lieder über ihre Helden haben sie mündlich weitergetragen. Diese Art der Tradierung lebte vom Weglassen und Hinzufügen. Die Übergänge der miteinander verbundenen Handlungen waren fließend. Es sind Kernerzählungen überliefert, um die sich Narrative aus anderen Zeitstufen und Regionen wie ein Kranz flechten. Chronologisches war für die mündliche Überlieferung von untergeordnetem Rang. Im Mittelpunkt des Weitergereichten stand jene Fama, die den gerade Lebenden wichtig war. Im Zentrum des Erzählens stand Belehrung, stand die Weisheit der Alten. Drumherum fanden sich Elemente der Unterhaltung.

Es ist heute nicht sicher, wie viele Änderungen Form und Inhalt des Laurin-Rosengarten-Stoffs erfahren haben, man weiß nicht, wie viele „Brechungen“ ihn prägten, bis ihm mittelalterliche Fahrende, Spielleute, ihre Stempel aufdrückten. Wohl aber ist gewiss, dass sein literarischer Kern zum Bestand der mündlich überkommenen deutschen, besser: germanischen Heldensage zählt, aus der sich vorwiegend im 13. Jahrhundert die dann schriftlich fixierte Dietrich-Epik speiste. Klar ist, dass sein historischer Kern auf die im Gefolge der Völkerwanderung nach Norditalien gekommenen Ostgoten und ihren legendären König Theoderich sich gründet. Dessen Ruhm, die Überlieferung seiner „sagenhaften“ Taten, strahlte von Ravenna, wo man noch heute sein Mausoleum besichtigen kann, nach Norden aus in die Köpfe germanischer Brudervölker. Der historisch fassbare Theoderich lebte in Erzählungen fort, die historische Person wandelte sich zum Sagenheiden. Zwischen Po und Donau war sein Name einst in aller Munde: Dietrich von Bern.

„Bern“ – das ist eine althergebrachte, in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts noch ganz selbstverständliche Bezeichnung für Verona. Sie lebte auch dann noch in cimbrischen und bairisch-tirolischen Mundarten als „bearn/pearn“ weiter, als sie längst von „Verona“ abgelöst worden war. Dietrich von Bern ist in Erzählungen und Dichtungen bis hoch in den skandinavischen Norden bekannt geworden, wo um 1260 in Bergen ein begabter Mann am Hofe König Haakons alles sammelte, was er – nach eigenen Worten – „von deutschen Kaufleuten“ hörte und mit Sagengut anderer Provenienz zu einem großen Sammelwerk verarbeitete: Thidreks Saga af Bern. Dietrich taucht denn auch wie ganz selbstverständlich in „Der Nibelungen Not und Klage“ auf, dem „Nationalepos der Deutschen“, wie es Germanisten nicht allein im wilhelminischen Deutschland nannten.

Hinter dem in vielen Facetten literarisierten Dietrich steht also der große König der Ostgoten, steht Theoderich. Dessen eher vages Geschichtsbild war der Verklärung preisgegeben. Exakt tausend Jahre nach seinem Tode schreibt Johannes Turmair (Aventinus) in seiner „Bayrischen Geschichte“: „Unser leut singen und sagen noch vil von im. Man findt nit palt ein alten künig, der dem gemain Mann paß bey uns so bekannt sey, von dem si so vil wissen zu sagen.“ Schon um 1400 hatte Jakob Twinger von Königshofen in seiner „Straßburger Chronik“ über Dietrich/Theoderich bemerkt: „. . . Von dem die geburen singent und sagent“ („… von ihm erzählen, über ihn singen die Bauern.“) Die Bauern, das gemeine Volk also, trugen seinen Ruhm fort.

Von daher rührt der Stoff des Heldenlieds, darauf gründen sich höfische Epen des Mittelalters, die sich um König, Ritter und Gefolge ranken. Heldenmut, Kampf, Treue, Frauendienst, Abenteuer, Mildtätigkeit, Fürsorge für die Armen – das große Repertoire literarisierter höfischer Idealität der Staufer, die es besonders nach Italien drängte, konnte sich aus Stoffen speisen, das ganze ritterliche Tugendsystem an Konturen gewinnen vor dem Hintergrund einer in breiten Kreisen lebendig gebliebenen Identifikationsfigur wie Dietrich.

Dessen muss sich vergewissern, wer den Rosengarten schauen will, dessen eingedenk muss sein, wer sich der zwischen etwa 1200 und 1300 entstandenen Rosengarten-Dichtung in der Dietrich-Epik und Laurin, einem der Gegenspieler Dietrichs, zu nähern beabsichtigt. Laurin, Protagonist in gleichnamigem Reimpaarvers-Epos, ist Herrscher über jenen sagenumwobenen Rosengarten, den die maßgebliche Lokalforschung in gleichnamigem Gebirgszug anzusiedeln gedenkt, obwohl es noch zahlreiche andere kulturgeschichtlich bedeutsame Rosengärten gibt.

In der Laurin-Dichtung, die ein unbekannt gebliebener Verfasser aus Tirol um 1250 geschaffen hat, werden die Kämpfe Dietrichs und seiner Mannen mit Laurin besungen, in dessen Rosengarten der Berner/Veroneser eingedrungen ist. Mit Hilfe seines Waffenmeisters Hildebrand, eines Helden, dessen Name mit dem ältesten literarischen Zeugnis deutscher Zunge, einem um 800 entstandenen Stabreimfragment, eben dem Hildebrandslied, verbunden ist und dann immer wieder auftaucht, überwältigt Dietrich nach breit geschildertem, hin und her wogendem Kampf Laurin, der mittels eines Zaubergürtels über die Stärke von zwölf Männern verfügt. Der Zwergenkönig schwört Gefolgschaftstreue und lädt ihn mitsamt den Recken in seinen Kristallpalast inmitten des Bergstocks ein. Dort bewirtet er sie festlich und zeigt ihnen Künhild, die Schwester Dietleips, eines Gefolgsmanns Dietrichs, die er zuvor entführt hatte.

Nach üppigem Gastmahl betäubt Laurin seine Gäste, legt sie in Bande, rächt sich für die Zerstörung seines Rosengartens. Künhild jedoch entbannt des Nachts die vom Zaubertrank Trunkenen; mit ihrer Hilfe können sich die Gefangenen befreien. Laurin wird abermals besiegt. Als Gefangener begleitet er Dietrich nach Bern. Die Dichtung fand Anfang des 14. Jahrhunderts eine Fortsetzung im „Walberan“: Der Fürst der asiatischen Zwerge will die Bezwingung seines Neffen rächen. Laurin jedoch bewährt sich in seiner geschworenen Treue, greift zusammen mit Hildebrand in den Kampf ein und versöhnt Dietrich mit Walberan.

Etymologisches

Die Welten des Heldenlieds, der märchenhafte Züge tragenden Lokalsage und des höfischen Romans sind miteinander verquickt. Dietrich ist bekannt, Laurin eine Gestalt aus der Tiroler Regionalsage. Spuren des höfischen Romans zeigen sich vor allem in dem Drang Dietrichs und seiner Recken, „aventiure“ (Abenteuer) zu bestehen; sodann im ritterlichen Verhalten Künhild gegenüber; des weiteren in der Form der Begrüßung und des Empfangs, den Künhild den Mannen bereitet; schließlich in der Komposition des höfischen Festes in Laurins Palast.

Mit der Figur des geheimnisumwitterten Laurin haben sich die Interpreten schwergetan. Allzu bereitwillig legten sie die historischen Lautgesetze des Deutschen zugrunde. Nach ihrer Etymologie musste sich hinter dem neuhochdeutschen Diphthong (Zwielaut) „au“ der mittelhochdeutsche Monophthong (Einlaut) „û“, ein „langes u“, verbergen; demnach ward der Namensbestandteil „Laur“ auf mittelhochdeutsch „lure“ zurückgeführt: „schlau“, „(hinter)listig“. Schwieriger gestaltete sich die Erklärung des Bestandteils „-in“. Die Silbe „-în“ (langes i) hätte sich lautgeschichtlich eigentlich zu „-ein“ entwickeln müssen, so dass die neuhochdeutsche Entsprechung des mittelhochdeutsch notierten Namens „Laurein“ gewesen wäre, wie er beispielsweise im Bergdorf Laurein, dem südlichsten Ort des Deutschnonsbergs belegt ist. Dass es anders kam, zeigt etwa der Familienname der einstigen Berliner Schulsenatorin Hanna-Renate Laurien, die, nomen est omen, 1951 mit den „Stilelementen der historischen Dietrich-Epen“ wissenschaftlich debütierte. Das lange i (î) blieb bestehen, und so interpretierte man „-in“ kurzerhand als Diminutiv (Verkleinerungsform); folglich musste „Laurin“ eine kleinwüchsige Person, mithin ein „schlauer und hinterlistiger Zwerg“ gewesen sein.

Die Fülle des regionalen Sagen- und Märchenstoffs widerlegt eine derartige Interpretation. In Tiers trug es sich zu, dass einer der dort lokalisierten zwölf Herren einem „Hexenmeister Kachler“ einen Zaubergürtel übergeben hatte, als sie mit ihren feurigen Rössern unter dem Rosengarten durch den Gschösslwald geritten waren. Der Gürtel verlieh „Zwölfmännerkraft“. Die Tierser Bauern konnten sich seiner Macht nur entziehen, wenn sie dem Hexenmeister den Gürtel vom Leibe rissen. Das Motiv findet sich in der Dichtung wieder.

Vielerorts in Südtirol sind Erzählungen von starken, mal helfenden, mal abträglichen Zwergen angesiedelt. In Plarsch, in Grätsch, am Fuße des Schlosses Tirol, in Algund und in Meran sind Rosengärten und Laurins Kristallpalast ebenso lokalisiert wie in Tiers. Im ladinischen Fassatal ist Laurin Dämon. Das deutet darauf hin, dass die Erzählungen aus vorchristlicher Zeit stammen müssen. Nur heidnische Gestalten sind „verunholdet“ worden. In anderen ladinischen Tälern sind auch heute noch Erzählungen „aus der guten alten Zeit“ lebendig. Darin hat ein König von Nyès, einer Örtlichkeit, die man sich hoch oben im Bergmassiv vorzustellen hat, schöne Gärten mit Tsôndris (Alpenrosen) angelegt, welche große, rote Blüten trugen. Von weitem sah man sie leuchten, und man riet dem König, sie zu verbergen. Der wollte davon nichts wissen, und so kamen Krieger, die die Pracht zerstörten. Die gute alte Zeit war dahin. Im Gadertal tritt zu deren Untergang die Verheißung ihrer Wiederkehr.

Die Fassaner kennen auch allerhand Geschichten von der „Tor del Mine“ und der „Rosa del Mine“ („Turm des Gedenkens der Liebe“ und „Rose der Liebe“). Das damit verbundene Friedensreich sei zerstört worden, es werde dereinst wiederkehren. In der Gegend von Mazzin wird die Interpretation des Alpenglühens, die fest mit dem Rosengarten verbunden ist, überliefert. Der König von Nyès, in dessen prächtigem Garten die Rosen einst standen, war von den Kriegern, die den Garten zerstört hatten, gefangengenommen worden. Er konnte sich jedoch befreien und dachte bei sich: „Hätten die Eindringlinge die Rosen nicht gesehen, so hätten sie sie nicht zerstört.“ Er belegte sie mit einem Zauberbann, damit sie fürderhin niemand mehr sehen konnte, weder bei Tage noch bei Nacht. Vergessen hatte er jedoch Morgengrauen und Dämmerung; morgens und abends wirkte der Bann hinfort nicht. Und so geschieht es, dass, bevor der Tag der Nacht weicht, die verzauberten Rosen leuchten. Das nennen die Ladiner bis auf den heutigen Tag „Enrosadüra“. Danach ist wieder alles zu Fels und Stein rückverwandelt.

Dass man bei der Etymologisierung des Namens immer wieder den „arglistigen Zwerg“ bemühte, darf vor allem der Germanomanie von Philologen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zugeschrieben werden, die allzugern bereit gewesen sind, dem deutschen ( = germanischen) Nationalgeist ihr wissenschaftliches Ethos zu opfern. Dem germanischen Recken musste ein Wesen entgegentreten, auf dessen „Niederringen“ schon sein Äußeres, seine Andersartigkeit vorauswies. Was lag da näher, als die Namendeutung auf eine Figur bringen zu können, die auch sonst in der älteren Dichtung und in der Volkserzählung bestens eingeführt war: den Zwerg. Dass die höfische Figuration stimmte, war dadurch gewährleistet, dass es sich bei Dietrichs Gegenspieler um einen König der Zwerge handelte. Dabei hatte schon 1865 Karl Müllenhoff, einer der großen Editoren, festgestellt: „Der Name ist fremd, undeutsch, rätisch.“

Laurin – ein Zwerg?

Tatsächlich liegt ihm denn auch ein lautgeschichtlich erschlossener indoeuropäischer Wortstamm „law-“ (Stein) zugrunde. Als Grundform hat „lawareno“ (in der Bedeutung „Steinland“) zu gelten. In dem Gebiet, in dem der originäre lokale Sagenstoff angesiedelt war, haben die von Norden her eindringenden Germanen bereits eine Namenform „lawarén“ von den einsitzenden romanisierten Rätern in der Form „laurén“ übernommen und diese ihrerseits ihren eigenen Laut- und Betonungsverhältnissen unterworfen. So konnte es geschehen, dass der Name in der endsilbenbetonten und durch Vokalhebung (-in) festgewordenen Form „Laurin“ der neuhochdeutschen Diphthongierung standhaft trotzte.

„Laurin“, der „im Steinland (im Gebirge) Wohnende“, ist, ebenso wie „Rosengarten“, ein sprechender Name. Sein Träger in Sage und mittelalterlicher Dichtung verkörpert ein Volk durch den Wohnplatz, für welchen er steht. Im Laurin-Stoff sind also die Ladiner literarisiert worden. Nur so lässt sich die gegenseitige Durchdringung von mitgeführten „germanischen“ Dietrich- und bodenständigen Rosengarten- und Laurin-Motiven sinnvoll in einen Zusammenhang bringen. Entscheidend ist somit eine von ideologischem Ballast befreite Deutung des Stoffes, die die nationalistisch-übersteigerte des 19. Jahrhunderts oder die ideologisch-dienstbare des nachwachsenden Nationalsozialismus und Faschismus des 20. Jahrhunderts überwindet.

Wie ist also das Politikum, welchem ein sagengeschichtlich-literarisches Rätsel Nahrung gab, aufzulösen? Durch den Versöhnungsgedanken. Der ist, obschon er in den auf das Laurin-Epos folgenden und fußenden frühneuzeitlichen Dichtungen und Volksüberlieferungen offenliegt, nicht zur Kenntnis genommen worden. Man hatte sich zu sehr auf die originären Texte versteift. Die gingen stark auseinander. An einer Stelle hieß es, Laurin sei zu Bern (Verona) als Gaukler gehalten worden, an einer anderen, er habe Dietrichs Freundschaft gewonnen. Eine nordgermanische Quelle kam gar zu dem Schluss, Laurin sei von Dietrich erschlagen worden. Der „richtige“, der versöhnliche Schluss findet sich aber im „Sängerkrieg auf der Wartburg“, im „Walberan“ und in jenem nicht mehr vorhandenen „Heldenbuch“ des frühen 15. Jahrhunderts, von dem sich eine Dresdner und eine Tiroler Handschrift (Ambraser Heldenbuch) erhalten hat.

Der Versöhnungsgedanke

Im „Wartburg-Krieg“ laden Laurin, von dem es heißt, er habe „gebirge in tiutschen landen und ouch in der Walchen lant“ (also an der Volks- und Sprachgrenze), und Sinnels, sein Bruder, den alternden Dietrich in die „Ewigkeit“ ein. Er nimmt an und wird „entrückt“. Im „Walberan“ wird Laurin Dietrichs „vîl getriuwer friunt mîn“, dessen treuester Freund. Und im „Heldenbuch“ führt ihn ein Zwerg fort in ein Reich, welches „nit mer in diser welt“ ist. Das stimmt denn auch mit der ladinischen Volksüberlieferung von den „zwei Königen“ überein, die friedfertig und einträchtig in einem phantastischen Ewigkeitsreich miteinander herrschen.

Der Laurin-Brunnen zeigt also nur eine Episode aus dem kompliziert verwobenen literarischen Stoff. Die Herausstellung des Zweikampfs, der mit der vermeintlichen Niederlage des einen künstlerisch gestaltet ist, verkürzt – vor dem Hintergrund einer ins Politisch-Ideologische gewendeten Deutung – die Handlung auf das Aufeinanderstoßen zweier Volksgruppen während der germanischen Landnahme. Die Volkserzählung läuft auf Gemeinsamkeit hinaus. Zudem hat die Geschichte Tirols gezeigt, dass Einheimische (Ladiner) und Siedelnde (Bajuwaren und Franken) über Jahrhunderte hinweg friedlich nebeneinander lebten im Angesicht des Rosengartens ihrer Helden, bevor Italien 1919 seine Grenzen zum Brenner hin verschieben durfte und beide zu Untertanen machte.

Verbannung

Doch bevor sich derlei Kenntnis verbreiten und sich die Erkenntnis eines produktiven Dilettanten, des Alpensagen-Forschers Karl Felix Wolff, allmählich Bahn brechen konnte, wonach der Stoff just in der ladinischen Erzähltradition von den zwei Königen eine harmonisierende Wende erfährt, indem sie im Rosengarten, der des Abends in untergehender Sonne erblüht, friedfertig und einträchtig in einem phantastischen Ewigkeitsreich miteinander herrschen, da war es für Winklers und Kompatschers Brunnen an der Wassermauerpromenade in Bozen längst zu spät.

In der Nacht vom 4. auf den 5. Juli 1933 fielen Unbekannte über die Skulptur her und zerschlugen sie. Man reparierte sie notdürftig und brachte sie im Stadtmuseum unter. Doch hinfort war dem plastischen Stück älterer Literatur kaum Ruhe beschieden. Die Monarchisten rieben sich daran. Sahen sie doch in Laurin eine Verspottung König Viktor Emanuels III., mit dessen Kleinwüchsigkeit die künstlerische Konfiguration nichts weniger als die zwergenhafte Statur gemein hatte. Noch größerer Rigorosität befleißigten sich Mussolinis Schwarzhemden. Die faschistischen Bannerträger erblickten, bevor sich Duce und Führer verbündeten, im „Niederringen“ Laurins durch Dietrich den Sieg des germanischen über das romanische Element, somit eine Schmähung der stolzen, von Benito Mussolini auf römisch-imperiale Höhen zu führenden italienischen Nation.

Mit der Folge, dass besagte Brunnenfigur schließlich am 17. Juli 1936 in den Burggraben von Rovereto verbannt wurde. Sicherlich nicht ohne Zutun des faschistischen Umvolkungsfanatikers Ettore Tolomei. Der hatte sich von Bozen aus mit Sendungsbewusstsein und unbändigem Hass auf alles Deutsche der „Re-Italianisierung“ des 1919 Italien zugeschlagenen südlichen Teils Tirols verschrieben – eines mehr als ein Jahrtausend währende Geschichte des Landes verfälschenden Dranges, dem erst der Untergang seines Gönners Mussolini Einhalt gebot. Wenngleich die tausendfachen Namenfälschungen Tolomeis auch im „domokratischen“ Italien erhalten blieben und bis zum heutigen Tage amtlichen Charakter tragen.

 

Späte Gerechtigkeit

Dass der Laurin-Brunnen am 17. März 1993 als Akt später Gerechtigkeit nach Bozen zurückkehren und 1996 auf dem Landhausplatz aufgestellt werden konnte, war hartnäckigen Bemühungen des damaligen Kulturlandesrats Anton Zelger und seines Nachfolgers Bruno Hosp sowie deren Mitstreitern zu danken. Seit 1984 hatten sich der Südtiroler Landesverband für Heimatpflege und der Heimatschutzverein Bozen unablässig dafür eingesetzt. Sie wurden publizistisch vom Chefredakteur der Tageszeitung „Dolomiten“, Josef Rampold, unterstützt. Das Bozner Stadtmuseum war einbezogen worden, Tauschgeschäfte hatte man ins Auge gefasst. Vergeblich. Zunächst verliefen Vorstöße wegen neuerlicher, ins Ideologische gewendeter Interpretationen stets im Sande. Umstritten war auch die Rechtslage. So konnte lange der Widerspruch nicht beseitigt werden, der darin bestand, dass die Verschleppung des Denkmals auf Veranlassung des Podestà, des faschistischen Amtsbürgermeisters der Stadt, „moralisch widerrechtlich“ geschah. Andererseits war das Roveretaner Kriegsmuseum formalrechtlich Eigentümer geworden und vertrat darüber hinaus die Auffassung, ihm gebühre auch gewohnheitsrechtlich nach so vielen Jahren der Brunnen.

Der beste Standort

Der Widerspruch in der Rechtsauffassung konnte schließlich überwunden werden. Man einigte sich, da Rovereto einst ohne eigenes Zutun in den Besitz gekommen war, auf eine „Rückschenkung“ ohne jedwede Gegenleistung. Gleichwohl erhielt das Kriegsmuseum eine „Gegengabe“ aus Beständen des Bozner Stadtmuseums. In Kardaun, im Landesbauhof der Autonomen Provinz Bozen-Südtirol, wurde der Brunnen restauriert. An seinen alten Standort an der Wassermauerpromenade kehrte er aber nicht zurück. Hosps berechtigte Auffassung, wonach er dort gefährdet sei, hatte sich durchgesetzt. Das Denkmal durfte nicht noch einmal Objekt schäbiger Gesinnungsbegierden werden, obschon ihm doch längst die ideologische Farbe abgewaschen worden sein sollte.

Doch auch auf dem Silvius Magnago-Platz vor dem Landhaus waren Dietrich und Laurin schon einmal Gegenstand einer Verunzierungsattacke von „Casa Pound“, einer Vereinigung von Mussolini-Jüngern, deren (bezeichnenderweise von seinen italienischen Landsleuten in den Bozner Gemeinderat gewählter) Oberer ungestraft für den Schwarzhemden-Faschismus Propaganda macht. Dennoch ist der Laurin-Brunnen unter der direkten Aufsicht von Politikern, Landhausbediensteten und Passanten dort sicherer als an anderen Plätzen der Stadt, weshalb er an seinem gegenwärtigen Standort gewiss am besten aufgehoben ist und verbleiben sollte. Man darf gespannt sein, ob Landeshauptmann Arno Kompatscher bei der Entscheidung darüber bereit ist, seinem Namensvetter Andrä Kompatscher, einem der beiden Künstler, die ihn schufen, Respekt zu zollen.

Prof. Dr. Dr. h. c. Reinhard Olt gehörte 27 Jahre der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ (F.A.Z.) an; 18 Jahre lang war er ihr Korrespondent in Wien. Seit seinem Ausscheiden 2012 lehrt er an österreichischen und ungarischen Universitäten.

 

 

Finanzen

Über Reinhardt Olt 33 Artikel
Prof. Dr. Dr. h.c. Reinhard Olt war seit 1. November 1985 politischer Redakteur der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und seit 1. September 1994 bis zu seinem Ausscheiden am 31. August 2012 mit Sitz in Wien deren politischer Korrespondent für Österreich, Ungarn, Slowenien, zeitweise auch für die Slowakei. In der FAZ hat er die meiste Zeit seines beruflichen Wirkens zugebracht; daneben nahm er Lehraufträge an deutschen und österreichischen Hochschulen sowie in Budapest wahr. Seit 1990 ist er Träger des Tiroler Adler-Ordens, seit 2013 des Großen Adler-Ordens. 1993 erhielt er den Medienpreis des Bundes der Vertriebenen. 2003 zeichnete ihn der österreichische Bundeskanzler mit dem Leopold-Kunschak-Preis aus, und der Bundespräsident verlieh ihm im gleichen Jahr den Titel Professor. 2004 wurde er als erster von diesem mit dem "Otto-von-Habsburg-Journalistenpreis für Minderheitenschutz und kulturelle Vielfalt geehrt"; ebenfalls 2004 wurde ihm das Goldene Ehrenzeichen der Steiermark verliehen. 2012 ernannte ihn die Eötvös-Loránt-Universität in Budapest zum Ehrendoktor (Dr. h.c.) sowie Professor, und 2013 verlieh ihm der österreichische Bundespräsident das Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst. Geboren wurde Olt 1952 als Sohn eines Bauern im Odenwald. Sein Abitur bestand er 1971 in Michelstadt. Nach Ableistung des Wehrdienstes studierte er Germanistik, Volkskunde, osteuropäische Geschichte und Politikwissenschaft in Mainz, Freiburg und Gießen bis zur Promotion 1980. Es folgte an der Universität Gießen eine Assistententätigkeit. Dann begann 1985 seine Zeit in der FAZ.

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