Lothar de Maizière im Gespräch mit der Tabula Rasa

Ist die heutige Bundesrepublik, das Land von dem Sie als DDR-Bürger träumten?

Ich habe als DDR-Bürger nicht von einem anderen Land geträumt, sondern ich wollte, daß mein Land, Brandenburg-Berlin, die ostdeutschen Länder, in Demokratie und Freiheit leben können – das hat sich erfüllt.

Was hätten Sie sich gewünscht, was verändert?

Ich habe mir gewünscht, daß wir die Situation mental erlebbarer gemacht hätten, und daß wir auch in symbolischen Handlungen deutlich gemacht hätten, daß eine neue Zeit beginnt. Ich habe damals vorgeschlagen, daß wir nicht den 12. Deutschen Bundestag wählen, sondern den ersten gesamtdeutschen Bundestag, dies wäre ein Signal für die Menschen gewesen. Da herrschte zunächst im Westen die Meinung, wir wären nur eine vergrößerte Bundesrepublik und machen so weiter wie bisher. Daß die Vereinigung das Leben aller Deutschen verändert, ist bei den Westdeutschen erst sehr viel später angekommen.

Fast 22 Jahre sind nach dem Fall der innerdeutschen Grenze vergangen. Wo stehen wir heute, wo steht die CDU?

Wir stehen als Deutschland in Europa, auch in internationaler Verantwortung. Deutschland ist erwachsen geworden, außenpolitisch souverän, es hat eine wichtige Rolle bei der Ost-Erweiterung der europäischen Union gespielt, da waren die anderen westeuropäischen Länder anfangs gar nicht davon begeistert. Die CDU hat sich aus einem rheinisch-katholischen Wahlverein zu einer Partei der Mitte entwickelt; sie ist die einzige Partei, die im echten Sinne heute Volkspartei ist. Ich bedaure, daß die Personaldecke der CDU so dünn ist, so daß man Mühe hat, mitunter Posten verantwortlich zu besetzen. Das ist aber eine Frage, die mit der Gesamtfrage von Glaubwürdigkeit und Politik – und wie Politik sich darstellt – zusammenhängt. Dies ist damit nicht unbedingt ein CDU-spezifisches Phänomen.

Gibt es heute noch einen Unterschied zwischen der Ost- und der West – CDU, von der Sie auch in Ihrem Buch sprechen?

Nach 20 Jahren sind auch die handelnden Personen andere geworden, und ich glaube, daß die jetzt politisch Handelnden gesamtdeutsch sozialisiert sind. Die anderen waren westdeutsch, die anderen ostdeutsch sozialisiert; ich gestehe, daß ich die DDR nicht ganz losgeworden bin, will ich auch nicht, weil es ein wichtiger Teil meines Lebens gewesen ist, aber die Politiker, die jetzt handeln, wie Angela Merkel und Thomas de Maizière, sind in der Wendezeit politisch sozialisiert worden und sind gesamtdeutsche Politiker, empfinden auch eine gesamtdeutsche Verantwortung. Ich bin mir aber sicher, daß die Arbeitslosen in Sachsen Angela Merkel genauso anerkennen wie die in Gelsenkirchen.

In Ihrem neuen Buch „Ich will, dass meine Kinder nicht mehr lügen müssen, Meine Geschichte der deutschen Einheit“ setzten Sie sich mit dem Thema Lüge auseinander, was heißt, „dass meine Kinder nicht mehr lügen müssen“?

Ich habe in DDR-Zeiten erlebt, daß mich meine Kinder immer wieder fragten, ob sie das, was wir zuhause politisch geäußert haben auch in der Schule sagen könnten. Oder, daß sie mich fragten, ob es zwei Wahrheiten gebe, eine private und eine für die Öffentlichkeit bestimmte. Dieses Gefühl, seine eigenen Kinder von vornherein zur Janusköpfigkeit zu erziehen, und zu sagen, aus taktischen Gründen würde ich die Frage in der Schule anderes beantworten als zuhause, dies hat mich so umgetrieben, und das war eigentlich der Hauptgrund, eigentlich die Hoffnung, diese Mißstände zu ändern, das ich damals in die Politik gegangen bin. Das war für mich der ausschlaggebende Punkt, überhaupt Politik zu machen.

Was verbinden Sie mit Michael Gorbatschow, der das Vorwort für Ihr Buch, das tiefere Einblicke in die Wendezeit gibt, geschrieben hat?

Es ist komisch. Er ist einer der großen Weltveränderer und trotzdem ist er fast eine tragische Figur. Er ist angetreten, einen neuen Sozialismus, eine reformierte UdSSR, zu schaffen. Er hat den Zerfall der Sowjetunion mitbewirkt, aber den Sozialismus eben nicht dahin führen können, wohin er wollte. Er ist mit Sicherheit einer der großen Weltbeweger der zweiten Hälfte 20. Jahrhunderts. Ich bin mit ihm sehr eng befreundet und wir haben gemeinsam die letzten Jahre den „Petersburger Dialog“ geleitet. Er ist eine historische Persönlichkeit, denn kaum einer wie er hat die Welt im 20. Jahrhundert so dramatisch verändert.

Wie beurteilen Sie die soziale Lage in Ostdeutschland?

Besser, als die öffentliche Darstellung, aber schwierig genug noch immer.

Bevölkerungsabwanderung, demographischer Wandel, welche Zukunft hat der Osten Deutschlands?

Wir werden noch einige große Umbrüche erleben. Wir haben nach der Wiedervereinigung festgestellt, daß die Landbevölkerung nicht in die Selbständigkeit gehen wollte, sondern die Großbetriebe behalten hat, die LPGs, die sich jetzt zwar anders nennen, haben keine Erben, die Kinder sind nicht mehr in der Landwirtschaft geblieben. Wir werden also eine wirkliche Umkrempelung auf dem Land erleben und damit auch der Landeskultur. Der Landwirt ist nicht nur Bauer, sondern betreibt die Landeskultur, ist der Ökologe. Dies wird schwierig werden. Zudem haben wir eine starke Überalterung im Osten, die fast dramatisch ist. Vor allem in Leipzig, Görlitz, in all diesen Städten, die schön hergerichtet sind, aber wo die Stadtabwanderung stattgefunden hat. Diese Städte locken jetzt westdeutsche Bundesbürger an, damit diese dort billige Wohnungen beziehen. Wir werden in zehn Jahren Pflegeheime brauchen. Ich glaube dennoch an eine Durchmischung mit den anderen Osteuropäern. Wir erleben zunehmend, daß auch an den Randgebieten Polen in Deutschland arbeiten und umgekehrt. Ich hoffe doch, daß er mit der zunehmenden Industrialisierung zu einer gewissen Rückwanderung kommt. Wir werden uns aber darauf einstellen müssen, daß die Bevölkerung in Deutschland schwindet. Desto wichtiger ist gerade die Frage der Integration von Ausländern bei uns, und daß wir dort vernünftige Wege gehen. Insofern hat mich die Äußerung unseres neuen Innenministers schon ziemlich verwundert.

Dieses Jahr ist Liszt-Jahr, was schätzen Sie an diesem großen Komponisten und Dirigenten?

Liszt ist ein „Europäer in Thüringen“. Ich habe als Kind noch erlebt, wie seine Musik noch für Siegesmeldungen der Deutschen Wehrmacht mißbraucht wurde – das hat er nicht verdient. Es gibt verschiedene Werke, für die ich die größte Bewunderung habe, sein Klavierspiel gehört allerdings nicht dazu. Zweifellos ist Liszt einer der großen knorrigen Figuren der romantischen Epoche im ausgehenden 19. Jahrhundert. Er hat dem Klavierspiel in der Virtuosität Dinge abverlangt, wo er offensichtlich von der Geigenvirtuosität des Paganini inspiriert worden ist. Er war ein Feuerwerker und ein genialer Techniker, der leider ein wenig hinter der Figur von Richard Wagner verblaßt.

Welche Bedeutung hat der Theologe Dietrich Bonhoeffer in Ihrem Leben gespielt, insbesondere sein Buch „Widerstand und Ergebung“?

Ja, Bonhoeffer war eine politisch-theologische Persönlichkeit, die mich mein Leben lang faszinierte. Bonhoeffer hatte sich mit der Zwei-Reiche-Lehre Luthers auseinandergesetzt und hat die Königsherrschaft Jesus Christi über Himmel und Erde gegenübergestellt. Insofern war seine Lehre für uns in der evangelischen Kirche in der DDR mit dem Staat wichtig. Der sozialistische Staat war immer der Auffassung, die Kirche muß sich um das seelische Wohl kümmern, wir kümmern uns um das irdische. Dieser staatlichen Auffassung aber haben wir widersprochen, denn, wenn wir Nachfolger von Jesus Christus sein wollen, dann müssen wir die Königsherrschaft von Jesus Christi im Himmel und auf Erden bezeugen. Und insofern nehmen wir uns das Recht heraus, unsere eigenen Angelegenheiten auf Erden mit zu bestimmen. Dies war eine sehr starke theologische Rechtfertigung des Tuns, was die evangelischen Kirchen in Ostdeutschland geleistet haben.

Von Lothar de Maizère ist gerade sein neues Buch: „Ich will, dass meine Kinder nicht mehr lügen müssen, Meine Geschichte der deutschen Einheit“, unter Mitarbeit von Volker Resing im Herder-Verlag erschienen.

Das Gespräch führte Dr. Stefan Groß
Herzlichen Dank auch an Daniel Braun. Das Interview entstand im Zusammenhang mit der Lesung des Bildungswerks Erfurt der Konrad-Adenauer-Stiftung am 23. März 2011.

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