Norbert Elias: ,,Über den Prozess der Zivilisation“

Norbert Elias’ Texte ,,Über den Prozess der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen“ beschäftigen sich mit den Gründen des historischen Zustandekommens der typisch ablaufenden Verhaltensschemata, die für uns, in einer zivilisierten abendländischen Kultur lebenden, Menschen als selbstverständlich hingenommen werden. Vom Mittelalter über die höfische bis hin zur neuzeitlichen Kultur hat sich sowohl im Verhalten als auch im Affekthaushalt der Menschen eine beständige und langfristige Wandlung vollzogen. Diese äußert sich in einer veränderten Habitualisierung einzelner Handlungsweisen und in einer Änderung von Scham- und Peinlichkeitsempfindens innerhalb des gesellschaftlichen Lebens. Darüber hinaus beinhaltet dies ein ,,Kernproblem des Zivilisationsprozesses“, nämlich eine Veränderung soziogener menschlicher Ängste. Ein Zivilisationsprozess, welcher sich gesamtgesellschaftlich vollzieht und stets auch einen individuellen Zivilisationsprozess beinhaltet, geht einher mit einer Änderung ,,der Verhaltensstandards und des psychischen Habitus’ der abendländischen Menschen“ (Elias.1997: 79.). Elias’ soziogenetische und psychogenetische Untersuchung befasst sich damit ,,die Ordnung der geschichtlichen Veränderungen, ihre Mechanik und ihre konkreten Mechanismen aufzudecken“ (ebd.: 81). Norbert Elias’ ,,Entwurf zu einer Theorie der Gesellschaft“ betont die enge Verzahnung von ,,Veränderungen im Aufbau einer Gesellschaft und den Veränderungen im Aufbau des Verhaltens und des psychischen Habitus’.“ (ebd.: 82).
Historisch betrachtet ändert sich beginnend mit Erasmus im 15. Jahrhundert zunehmend das Schamgefühl bzw. die Schamgrenze der Menschen in Bezug auf gesellschaftliche Belange. Die Menschen gelangen zusehends in einen inneren Konflikt zwischen der Wahl einer Zurückhaltung, verbunden mit einem Verzicht auf körperliche Bedürfnisse (beispielsweise des Niesens) und einer bewussten Affektbewältigung (ebd.: 274f.). Dies ging ebenfalls mit einem fortschreitenden Peinlichkeitsempfinden und dem ,,Prozess einer Zurückdrängung dieser Verrichtungen aus dem gesellschaftlichen Leben“ – vor allem in Gesellschaft anderer –einher. Durch die sich in den darauffolgenden Jahrhunderten vollziehende kontinuierliche Angleichung der bürgerlichen und der oberen Schicht wird allmählich die Familie zur ,,vorherrschenden Produktionsstätte des Triebverzichts“ und zur ,,intensiven Kraftquelle der gesellschaftlich notwendigen Affektregulierung und Affektmodellierung“ (ebd.: 277). Der Prozess, die Art der Zurückhaltung entsprechend der eigenen sozialen Stellung innerhalb des gesellschaftlichen Gefüges zu markieren, nimmt im Zuge der Arbeitsteilung und der zunehmenden Verflechtung und Abhängigkeit zwischen Menschen unterschiedlicher sozialer Niveaus ab. Zudem nehmen gesellschaftliche Gebote und Prozesse, die Menschen durch die elterliche Erziehung, Bildung und Sozialisation habitualisiert und internalisiert haben, einen Selbstverständlichkeitscharakter an. Auf diese Weise werden Handlungen intergenerativ unhinterfragt weitergegeben und es vollzieht sich daraus resultierend eine Verfestigung veränderter Gewohnheiten. Die sich bis in die gegenwärtige Zeit entwickelte Lockerung eines veränderten Scham- und Peinlichkeitsgefühls hat sich ,,im Rahmen eines einmal erreichten Standards“ vollzogen (ebd.). Heute kommt Eltern im Allgemeinen die Aufgabe der ,,primären Exekutoren der Konditionierung“ ihrer Nachkommen zu, welche zudem unter dem Druck der Gesellschaft als Ganzes und deren Vorstellungen bzw. Erwartungen eines angemessenen Verhaltens stehen (ebd.). Somit drückt sich Zivilisation heute nicht mehr ausschließlich in Verhaltensdemonstrationen – entsprechend der eigenen sozialen Stellung – aus. Vielmehr wird zivilisiertes Verhalten heute dadurch verdeutlicht, dass die Erwartungen der Gesellschaft an das Benehmen eines Menschen, der sich zivilisiert verhalten kann, erfüllen werden können. Ins Bewusstsein eines jeden Menschen soll gesellschaftlich erwünschtes Verhalten als automatisiert treten und als ,,so gewolltes Verhalten in Erscheinung“ (ebd.: 278). In der höfisch-aristokratischen Phase ist eine Zurückhaltung der eigenen Triebe bzw. körperlicher Bedürfnisse mit Rücksichtnahme und Respekt gegenüber anderen begründet und ist von Personen selbst initiiert worden. Gegenwärtig verläuft der Prozess der Triebregulierung bzw. Zurückhaltung mit fortschreitender Zeit zunehmend durch ,,unpersönliche Zwänge der gesellschaftlichen Verflechtung, der Arbeitsteilung, des Marktes und der Konkurrenz, die zur Zurückhaltung und Regelung der Affekte und Triebe zwingen“ (ebd.: 275). Einstige Fremdzwänge und äußere Ängste innerhalb des gesellschaftlichen Geschehens haben sich gegenwärtig durch das veränderte Schamgefühl, dem von der Gesellschaft auferlegten Druck an das Funktionieren eines jeden Menschen und das reibungslose Sich-Eingliedern-Müssen in die Gesellschaft zu Selbstzwängen und inneren Versagensängsten gewandelt. An dieser Stelle ist ebenfalls auf die Durkheimsche Problematik ,,sozialer Tatsachen“ hinzuweisen, auf deren nähere Darstellung hier allerdings nicht weiter eingegangen wird.

Kritische Auseinandersetzung
Elias wendet sich entschieden gegen die in der modernen Kultur und bisweilen auch von der So-ziologie nahegelegte strikte Trennung von Individuum und Gesellschaft. Ihm zufolge sollten Menschen zwar als Individuen wahrgenommen werden, jedoch besitzt deren Einbindung in soziale Verflechtungszusammenhänge für soziologische Analysen sehr viel größere Bedeutung. Gesellschaftliche Ordnungen ergeben sich daher nicht aus den Handlungen der Individuen oder sind als Strukturen schon existent; vielmehr bildet sich die soziale Ordnung durch die Art und Weise heraus, in welcher Menschen miteinander verbunden sind. Diese Verflechtungen – ähnlich Simmels Konzept als Wechselwirkungen zu verstehen – charakterisiert Elias als Figurationen, in denen Individuen in ihrer Persönlichkeit und ihren Charakterstrukturen gebildet und geformt werden (vgl. Rosa/Strecker/Kottmann. 2007: 201ff.). Mit der Analyse konkreter Figurationen geht die Ausarbeitung einer eigenständigen Methodologie einher – die Kategorie des Prozesses. Soziologie hat nach Elias die Aufgabe, sich mit der Entwicklung von Gesellschaften und der Menschheit insgesamt zu befassen. Daher bedürfen die langfristigen sozialen Wandlungsprozesse näherer Erklärung. Im Gegensatz zu der sonst meinst ahistorisch verfahrenden Soziologie, welche ausschließlich auf die Analyse der Gegenwart Bezug nimmt, bezieht sein Ansatz anhand einer Kombination soziologischer und historischer Methoden die vergangenen gesellschaftlichen Entwicklungen systematisch mit ein. ,,Soziale Tatsachen“ sind nach Elias nur aus der Logik ihrer historischen Entwicklungen angemessen zu interpretieren – daraus resultiert die Bezeichnung seines Ansatzes als Prozesssoziologie. Soziale Prozesse ergeben sich nicht als Summe der Effekte der Handlungen von Individuen, sondern aus den Verflechtungen zwischen ihnen. An diesen Verflechtungen – den Figurationen – setzt Elias‘ Konzept an. Die Analyse dieser Figurationen ermöglicht das gesellschaftliche Eingebunden-sein der Menschen bzw. ihrer Gesellschaftlichkeit zu erklären. Diese erlauben es darzustellen, dass Individuen innerhalb Gesellschaften entstehen und nur in Abhängigkeit von ihrer spezifischen historischen Situation und ihrer Position gegenüber anderen Menschen verstanden werden können. Erst das Leben in solchen Figurationen, welche Menschen durch Sprach- und Wissensvermittlung zu sozial handlungsfähigen Individuen machen, lässt Menschen im eigentlichen Sinne erst zu Menschen werden. Interessanterweise verweist Elias’ Konzept der Figuration und der Verflechtung auf das Simmelsche Konzept der Wechselwirkungen, während seine Betonung der Zentralität von Machtkämpfen und der modernen Selbstdisziplinierung auf Foucault hindeutet. Der Kampf um Macht bildet die treibende Kraft sowohl für die Veränderung der Gesellschaftsstruktur, als auch für den Wandel der Verhaltensdispositionen. Den modernen Individualismus versteht Elias vor allem als Ausdruck veränderter Strategie im sozialen Machtkampf, welcher nicht durch Gewalt, sondern fortan durch Planung und Kontrolle gewonnen wird. Individualisierung – als zentrales Element des Zivilisierungsprozesses – bezeichnet zum einen die Veränderung der menschlichen Psyche, als auch die Form der gesellschaftlichen Integration der Individuen, sprich deren Einbindung in Figurationen. Elias versteht Individualisierung gleichbedeutend mit der Freisetzung von Menschen aus traditionellen beständigen Bindungen sowie der Stärkung ihrer Selbstverantwortlichkeit. So sieht er – ähnlich wie Simmel – in der Einbindung der Individuen in größere soziale Kreise die Rahmenbedingungen für den fortschreitenden Individualisierungsprozess. Elias‘ Analyse der Veränderung des Selbstverhältnisses ist hingegen eine andere und so setzt sich für ihn menschliche Identität aus zwei Elementen zusammen:zum einen aus kollektiven Wir-Elementen, sprich aus Identifikationskernen, welche auf eine Gruppe verweisen, zum anderen aus Ich-Elementen, mit denen die Individualität bzw. die Ich-Identität gestärkt wird. Das Verhältnis dieser Wir- und Ich-Elemente ist durch die Figurationen bestimmt, in denen Menschen leben. In Zeiten traditionaler Gesellschaften sind jedoch Wir-Identitäten noch von großer Bedeutung, während Ich-Elemente hingegen nur eine untergeordnete Rolle einnehmen. Die Vielfalt der Moderne setzt die Menschen allerdings der Anforderung aus, aus einer großen Menge an Wir-Elementen – resultierend aus der Zugehörigkeit zu vielen heterogenen sozialen Gruppen – eigenständig Identifikationen zu wählen und eine individuelle Ich-Identität auszubilden. Nur eine stabile Ich-Identität erlaubt ihnen, in beständiger Weise an verschiedenen sozialen Situationen teilzuhaben. Die Ausbildung einer psychischen Struktur, die solch eine autonome Selbststeuerung – ein Sich-Gleich-Bleiben – in wechselnden Kontexten gewährleistet, ist für Elias nicht nur eine notwendige Voraussetzung, sondern vielmehr eine Folge des langfristigen abendländischen Zivilisierungsprozesses. Es sind die miteinander verwobenen Prozesse der Sozio- und Psychogenese, die diese spezielle Form von Individualität und Individualisierung hervorbringen.
Während sich Elias‘ erstes Werk der Psychogenese widmet, steht die Soziogenese im Mittelpunkt des zweiten Bandes ,,Über den Prozess der Zivilisation“. Zivilisation versteht Elias als langfristigen Wandlungsprozess abendländischer Gesellschaften, in dem in erster Linie das menschliche Verhalten zivilisiert worden ist (vgl. Elias. 1997: 75ff.). Dadurch gestaltet sich allmählich das Handeln als kontrolliert und planvoll. Zivilisation bedeutet daher eine Veränderung der Trieb- und Affektkontrollen bei gleichzeitiger Ausbildung eines weit vorausschauenden Planens und Handelns. Der Zivilisationsprozess spielt sich dabei auf zwei unterschiedlichen Ebenen ab – zum einen in der Psychogenese, zum anderen in der Soziogenese. In der Psychogenese verändert sich die psychische Struktur der Menschen, in Richtung einer wachsenden Fähigkeit zur Selbstkontrolle und -steuerung. Das menschliche Verhalten wird somit weniger durch Leidenschaften und spontane Bedürfnisse gesteuert, sondern in stärkerem Maße diszipliniert und rationalisiert als je zuvor. Die Soziogenese – der Wandel gesellschaftlicher Strukturen – macht diese Veränderung notwendig und begleitet sie. Aufgrund der Herausbildung des modernen Staates mit Gewaltmonopol und der Zunahme der funktionalen Arbeitsteilung im Zuge des fortschreitenden Industrialisierungsprozesses werden Menschen in neuartige Figurationen eingebunden, vor allem innerhalb strukturierten Zusammenwirkens und Interagierens von Individuen in sozialen Konstellationen. Daraus resultierend verbinden sich auch neue Formen des aufeinander Eingestellt- und angewiesen-Seins und auch der Konkurrenz, die diese Fähigkeiten des disziplinierten und vorausschauenden Verhaltens erfordern. Elias versteht die Soziogenese als den historischen Wandel gesellschaftlicher Figurationen und damit als Prozess der Herausbildung der modernen Gesellschaft. Von entscheidender Bedeutung ist dafür das Entstehen des modernen, zentralistisch agierenden Staates. Dieser geht allmählich aus den lange andauernden Konkurrenzkämpfen zwischen Fürsten und Rittern – den Herren kleiner Territorien – hervor. Motor und Ziel ihrer Ausscheidungskämpfe ist dabei die Macht- und Ressourcenvergrößerung bzw. die Verringerung von Abhängigkeiten und Verletzlichkeiten gewesen. In der Folge erwachsen immer neue Territorien, innerhalb derer die Macht in den Händen eines Einzelnen konzentriert ist. Die entstehenden modernen Staaten zeichnen sich also durch das Gewalt- und das damit verknüpfte Steuermonopol und damit durch eine große Machtkonzentration aus. Dieser Zentralisierungsprozess hat zur Folge, dass sich die Beziehungen oder Abhängigkeitsverkettungen ebenfalls ausdehnen und dadurch neue soziale Steuerungsformen vonnöten sind, die es erlauben, die relativ unbeständigen Beziehungen, die über weite soziale und räumliche Distanzen reichen, zu organisieren. Wesentliche strukturelle Innovationen der Moderne sind die Herausbildung des modernen Verwaltungsapparates sowie die des anonymen Marktes. Weil dadurch aber viele Akteure und Zusammenhänge von Konsequenzen betroffen sind, ist überdies der Aufbau eines formalen Rechtssystems notwendig. Die Vergrößerung von Gesellschaften ermöglicht zudem die Entstehung neuer Formen der Arbeitsteilung. Während zuvor in kleineren, begrenzten Gesellschaften aufgrund ständiger äußerer und innerer Bedrohung durch Feinde oder Ressourcenknappheit kaum Spielraum für die Ausbildung spezieller Funktionen oder Fertigkeiten bestanden hat, sind diese in modernen Staaten vonnöten und werden gefördert. Daraus resultierend ändern sich auch Inhalt und Form der sozialen Konkurrenz und des Konfliktaustragens. An die Stelle des direkten Kampfes tritt die wechselseitige Abhängigkeit der Menschen. Konkurrenz bedeutet nun nicht mehr die Ausschaltung von Gegnern, sondern Wettbewerb in dem Sinne, dass das eigene Handeln, um innerhalb der Beziehungsgeflechte eine machtvollere Position zu erlangen, auf das anderer abgestimmt werden muss. Die Ausbildung besonderer Fähigkeiten verspricht dann einen Wettbewerbsvorteil, durch den sich ein Individuum von anderen unterscheiden und abheben kann. In diesem Kontext beinhaltet die zunehmende Arbeitsteilung Individualisierungschancen für die Individuen. Die soziogenetische Entwicklung erfordert von den Menschen einen Wandel ihrer psychischen Struktur und ihrer Verhaltensdispositionen. Die veränderten Formen des Konflikts und des Konkurrenzkampfes, welche sich zunächst bei den Höflingen an den absolutistischen Herrscherhöfen, anschließend im Bürgertum und spätestens im 20. Jahrhundert in allen sozialen Schichten abzeichnen, lassen neue Formen des Wahrnehmens und Denkens, des Fühlens und Handelns entstehen. Verhaltensweisen, die auf die kurzfristige Triebregulierung bzw. Erfüllung von Bedürfnissen oder auf die direkte Ausübung von Gewalt abzielen, sind in modernen Strukturen weniger von Nutzen, als vielmehr von Schaden (ebd.: 78ff.). Die im 20.Jahrhundert lebenden Individuen müssen in der Lage sein, sich selbst zu steuern und langfristig planen zu können. Dieses Vermögen bildet sich in der parallel zur Soziogenese verlaufenden Psychogenese aus. Die Fähigkeiten des Selbstzwangs und der vorausschauenden Weitsicht ersetzen dabei den Fremdzwang als zentrale Instanz, mit welcher Handlungen reguliert werden. Mit Selbstzwang ist die Fähigkeit der Menschen gemeint ihre eigenen Affekte kontrollieren zu können, Gewalt und indirekte Aggression zu vermeiden, sich an einen vorgegebenen Verhaltenskodex der Höflichkeit zu halten und, während sie ihrem Habitus treu bleiben, aus eigenem inneren Antrieb heraus Werte wie Pünktlichkeit verinnerlicht zu haben. Die Begrifflichkeit des Habitus bezeichnet erlernte, inkorporierte und sich ständig in Reproduktion befindliche Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsschemata. Die soziale Position wird fortan durch sorgfältiges berechnen, kalkulieren und planen und nicht mehr durch Kämpfe festgelegt. Diese Affekt- und Triebregulierung findet in dem Vorrücken von Scham- und Peinlichkeitsschwellen ihr Pendant. Der Prozess der Modernisierung ist dabei dadurch charakterisiert, dass es immer vielfältigere Verhaltensweisen gibt, für die wir Menschen uns schämen oder die uns peinlich sind – wie beispielsweise die Verrichtung natürlicher Bedürfnisse, wie Niesen oder Husten in der Öffentlichkeit. Damit setzen sich neue Formen des erwünschten Verhaltens und kontrollierte, die eigenen Triebe und Leidenschaften beherrschende, Individuum durch, welches zudem sowohl das eigene als auch das fremde Verhalten stets reflektiert. Elias beschreibt dies in Bezug auf Freud auch als Prozess der Herausbildung einer kontrollierten Instanz im Zuge der Sozialisation des Individuums – eines Über-Ichs. Der Begriff der Weitsicht drückt ein verändertes Zeitbewusstsein aus; der Konkurrenzkampf erfordert zwangsläufig die Entwicklung langfristiger Machtstrategien. Somit wird eine sorgfältige Planung und Berechnung zukünftig liegender Handlungen, langer Prozessketten und gegebenenfalls des ganzen eigenen Lebenslaufs vonnöten. Aufgrund des Anstiegs der Optionen und Folgewirkungen, die dabei zu bedenken sind, und durch das Vorwegnehmen von Reaktionen und Handlungsweisen anderer Akteure, wird das menschliche Verhalten zunehmend rationalisiert, reflektiert und psychologisiert. Eine ,,Planung für die Zukunft“ tritt an die Stelle einer ,,Orientierung an der Vergangenheit“ und strikte Zeitdisziplin ersetzt das bedürfnisorientierte spontane Handeln (vgl. Rosa/Strecker/Kottmann. 2007: 206ff.). Diese Tendenz hat meiner Ansicht nach zum einen positive Aspekte, zum anderen ist sie aber auch kritisch zu betrachten.
Elias verfolgt weder ein handlungs- noch ein strukturorientiertes Konzept, sondern untersucht in seiner Analyse des Zivilisierungsprozesses sowohl die langfristigen Veränderungen in der gesellschaftlichen Struktur (Soziogenese), als auch im psychischen Apparat der Menschen (Psychogenese) (vgl. Kaesler. 2006: 319ff.). Zwischen diesen beiden Größen sieht er eine enge Verbindung. Individuum und Gesellschaft können nach seiner Auffassung nicht als zwei voneinander getrennte, unabhängige Gebilde betrachtet werden, sondern sie formatieren sich infolge andauernder Machtkämpfe zwischen sozialen Gruppen fortwährend wechselseitig um. Spezifische Formen menschlichen Lebens – hervorzuheben ist die moderne Form des Individualismus‘ – sind somit nur unter Voraussetzung einer entsprechenden Gesellschaftsstruktur möglich. In der Analyse dieser Entwicklungsprozesse konzentriert sich Elias auf die Wandlungen der sozialen Figurationen, sprich auf die Art und Weise, wie Menschen miteinander verbunden sind und wie sie dabei miteinander konkurrieren. Diese verändern sich im Zivilisierungsprozess derart, dass Menschen sich gezwungen sehen sich immer stärker individualisieren zu müssen. Nach Elias stellen unterschiedliche Entfremdungsphänomene hingegen die Kehrseite des Freiheitsgewinns dar (vgl. Sennett. 2006: 58ff.). Die Soziologie vermag darüber aufklären, inwiefern eine pathologische Entwicklung von Individuum und Gesellschaft in der Moderne erwägenswert ist.

Literaturverzeichnis:
Elias, Norbert. (1997): Über den Prozess der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. 2 Bde. Frankfurt/Main. 1997 – Bd. 1: Wandlungen des
Verhaltens in den weltlichen Oberschichten des Abendlandes, daraus: ,,Vorwort“, S. 75 – 85, ,,Wandlungen in der Einstellung zu den natürlichen Bedürfnissen“, S. 266 – 285, ,,Über das Schneuzen“, S. 286 – 299 – Bd. 2:Wandlungen der Gesellschaft. Entwurf zu einer Theorie der Zivilisation, daraus: ,,Scham und Peinlichkeit“, S. 408 – 420.

Kaesler, Dirk. (2006): Klassiker der Soziologie 1. Von Auguste Comte
bis Alfred Schütz. München: C. H. Beck Verlag.

Rosa, Hartmut/Strecker, David/ Kottmann, Andrea. (2007): Soziologische
Theorien. Stuttgart: UTB Verlag. 1. Auflage.

Sennett, Richard. (2006): Der flexible Mensch. Berliner Taschenbuch Verlag.

Über Weiß Susanne 31 Artikel
Susanne Weiß, geboren am 26.06.1987, ist Studentin der Soziologie und Philosophie an der TU Darmstadt. Nach dem Masterabschluss strebt sie eine Promotion und eine universitäre Laufbahn – im Idealfall innerhalb der Bildungs-, Wissens- oder Kultursoziologie – an. Sie ist aktiv als wissenschaftliche Hilfskraft im Bereich ,,Methoden der empirischen Sozialforschung“ tätig.

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